Der alte Rittmeister: Werner Bergengruen
Reinhold Schneiders Freund Werner Bergengruen wurde der Nachfolger des am Ostermorgen 1958 Verstorbenen als deutscher Ordensträger des Pour le mérite für Wissenschaften und Künste, deren Anzahl auf dreißig bis vierzig begrenzt ist, wozu noch einmal ungefähr ebensoviele ausländische kommen. Sechs Jahre trug Werner Bergengruen (geb. 1892, gest. 1964) den Orden bis zu seinem Tode. Er starb in Baden-Baden, der Heimatstadt seines Freundes Reinhold Schneider, wohin er seinen Wohnsitz in dessen Todesjahr verlegt hatte.
Werner Bergengruen kam in Riga als Sohn eines Arztes balten-deutscher Herkunft zur Welt. Der Nachname stammte von schwedischen Vorfahren des Vaters und lautete, bevor er eingedeutscht wurde, Berggren. Deutsche Kolonisten hatten sich während der Christianisierung von Balten, Liven und Esten seit dem Ende des 12. Jahrhunderts am Ostufer der Ostsee niedergelassen; Riga wurde 1201 durch Albert von Buxthoeveden gegründet, den aus Niederdeutschland stammenden dritten Bischof Livlands (1199 – 1229), einen Cisterzienser, der von manchen zu den Seligen der Kirche gerechnet wird. Der Deutsche Orden herrschte seit seiner Verschmelzung mit dem Schwertbrüderorden (1237) neben dem baltischen Pruzzengebiet auch über die Landschaften, aus denen im 20. Jahrhundert die Staaten Estland und Lettland gebildet wurden. Deren Südteil unterstellte sich 1561 der polnisch-litauischen Lehensoberhoheit, und der estnische Nordteil schloß sich dem protestantischen Schweden an, da Zar Iwan IV. der Schreckliche (1533 – 1584; Zar seit 1547) nach militärischen Erfolgen im Osten mit dem Livländischen Krieg (1558 – 1582) versuchte, das Ostufer der Ostsee zu erobern. Schweden dehnte sein Territorium in zwei Kriegen gegen Polen-Litauen (1600 – 1629 und 1655 – 1660) durch die Eroberung Livlands und Kurlands auf das gesamte ehemalige Gebiet des Schwertbrüderordens aus; Riga eroberten die Schweden 1621. Doch nach nicht einmal hundert Jahren verloren sie die Stadt wieder: 1710 besetzten die Russen Riga während des Großen Nordischen Krieges (1700 – 1721).
Als Werner Bergengruen 1892 als Sohn eines Arztes in Riga geboren wurde, litt das Baltikum unter der zaristischen Russifizierungspolitik. So verließ die Familie Bergengruen ihre Heimatstadt und übersiedelte nach Deutschland. Wie zuvor Thomas Mann besuchte Werner Bergengruen das Lübecker Katharineum, danach das Marburger Philippinum. Anschließend begann Werner Bergengruen, Evangelische Theologie zu studieren, doch wechselte er bald zu Geschichte und Germanistik. Wegen des Ausbruches des 1. Weltkrieges (1914 – 1918) schloß er das Studium nicht ab, da er sich wie seine beiden Brüder als Kriegsfreiwilliger zum Deutschen Heer meldete; der spätere Schriftsteller überlebte als einziger der drei. Er kämpfte zuletzt als Leutnant im Baltikum, befand sich am Ende des Krieges also in der Landschaft seiner Herkunft. Dort erklärten sich die Staaten Lettland und Estland 1918 für unabhängig von dem inzwischen bolschewistischen Rußland, doch rückte dessen Rote Armee nun ins Baltikum vor.
Exkurs: Die Freikorps in Lettland (1919)
Nach dem Ende des 1. Weltkriegs (1914 – 1918) war die Rote Armee des in Folge der Oktoberrevolution (1917) als RSFSR (Russ. Sozialist. Föderative Sowjetrepublik) neugegründeten russischen Staates ins Baltikum vorgedrungen, um vorerst die Grenzen des Zarenreiches wiederherzustellen und sodann die Revolution nach Westen zu tragen. Weite Gebiete des im wesentlichen aus Kurland, und Teilen Livlands gebildeten lettischen Territoriums hielt die Rote Armee zu Beginn des Jahres 1919 bereits besetzt, auch die Hauptstadt Riga. Daraufhin forderten die die lettische Regierung unter Karlis Ulmanis (geb. 1877, gest. 1942) stützenden Briten Deutschland auf, die Rote Armee aus dem Baltikum zu vertreiben, während sie zugleich die Hungerblockade gegen Deutschland samt Österreich aufrechterhielten, das fast alle schweren Waffen, Flugzeuge und Schiffe bereits hatte ausliefern müssen; außerdem war Deutschland gezwungen worden, den Friedensvertrag von Brest-Litowsk mit der RSFSR vom März 1918 zu annulieren, in dem das kommunistische Rußland die Unabhängigkeit Polens, des Baltikums, Finnlands, Weißrußlands und der Ukraine anerkannt hatte. Die nun aber von Deutschland geforderte Vertreibung der Roten Armee konnte nur durch die damals neugebildeten Freikorps übernommen werden, die den Rückzug der nicht mehr zum Kämpfen gewillten deutschen Truppen aus dem Osten sicherten. So kamen Deutschland und Lettland unter britischer Vermittlung überein, den deutschen Soldaten der Freikorps zur Belohnung für ihre Teilnahme am Kampf die lettische Staatsbürgerschaft zu gewähren. Außerdem sollten sie Landbesitz erhalten, um sich als Bauern niederlassen zu können: Dazu hatte der deutsch-baltische Adel des Landes auf ein Drittel seines Grundbesitzes verzichtet und für diesen Zweck zur Verfügung gestellt. Zwar fochten die Freikorps so erfolgreich, daß die Rote Armee bereits gegen Ende des Frühjahres 1919 aus Lettland vertrieben wurde, doch die deutschfeindliche Regierung Ulmanis konnte kein Interesse an einer Einhaltung der zugesagten Versprechungen haben. So kam es bald zu militärischen Zusammenstößen zwischen Freikorps und lettischen Verbänden, die wiederum von estnischen unterstützt wurden; ausgerüstet waren diese ebenso wie die lettischen von Großbritannien, das Deutschland nun nötigte, den Freikorps jegliche Unterstützung zu entziehen. Ohne Nachschub vermochten sie nicht lange standzuhalten, und so zogen sich die „Baltikumer“, wie sie sich hernach nannten, bis zum Ende des Jahres 1919 in das zum Deutschen Reich gehörende Ostpreußen zurück.
Während Ernst von Salomon (geb. 1902, gest. 1972; Autor von „Der Fragebogen“, 1951) 1919 als Angehöriger eines Freikorps nach Lettland zog, meldete sich Werner Bergengruen dort zur Baltischen Landeswehr, einer von den Deutsch-Balten Lettlands aufgestellten Miliz, die ebenso wie die dort eingesetzten deutschen Freikorps gegen die russische Rote Armee kämpfte. 1920 wurde die Baltische Landeswehr den Streitkräften Lettlands eingegliedert. Werner Bergengruen war schon im Jahr zuvor nach Deutschland zurückgekehrt, wo er als Journalist tätig wurde, zuerst in Tilsit und Memel. 1922 zog Werner Bergengruen nach Berlin, wo er drei Jahre später den Posten des Hauptschriftleiters der „Baltischen Blätter“ übernahm. Schon zuvor waren auch erste literarische Veröffentlichungen erfolgt, und 1927 ließ Werner Bergengruen sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder. – Seiner baltischen Heimat blieb Bergengruen stets verbunden, doch die Geschichte der Balten-Deutschen endete mit dem Hitler-Stalin-Pakt (1939), deren Umsiedlung nötig wurde, da das geheime Zusatzprotokoll u.a. die Auslieferung des Baltikums an die Sowjetunion vorsah; es ist erschütternd zu erfahren, mit welcher Lässigkeit ein Dreiviertel Jahrtausend deutscher Geschichte preisgegeben wurde; mutet dies nicht an wie das Praeludium wenig später eingetretener Ereignisse?
„Der Großtyrann und das Gericht“
Bergengruen war seit 1919 mit einer nach NS-Maßstab als Dreivierteljüdin klassifizierten Nachfahrin Fanny Hensels (geb. 1805, gest. 1847), Moses Mendelssohn-Bartholdys (geb. 1809, gest. 1847) älterer Schwester, verheiratet; Eltern von vier Kindern wurden Werner und Charlotte Bergengruen, geb. Hensel (geb. 1896, gest. 1990). Statt etwa der NSDAP oder einer ihr zugehörigen Organisation beizutreten, konvertierte Werner Bergengruen im Jahr nach dem Beschluß der Nürnberger Rassegesetze zusammen mit seiner Familie zum katholischen Glauben (1936). Zuvor schon hatte er eine seiner Gattin gewidmete Erzählung veröffentlicht, die sehr viel gelesen wurde, sich aber nicht mit der Ideologie des NS-Staates vereinbaren ließ: „Der Großtyrann und das Gericht (1935)“. So wurde Werner Bergengruen 1937 aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und durfte nur noch mit Sondergenehmigung publizieren.
„Der Großtyrann und das Gericht“ entstand aus einem seit 1926 geplanten Roman; eigentlich handelt es sich um eine Novelle, die den Umfang eines Romans erreicht hat, denn es geht in der Geschichte nicht um den Verlauf des Lebens oder des Lebensabschnittes einer Person im Wechselspiel mit ihrer Umwelt, sondern um ein einziges Ereignis, auf das die gesamte Erzählung hinausläuft: Die Reue eines Mächtigen, der einer Versuchung erlegen ist. Daher ist dem Buch als Motto die sechste Bitte des Vaterunsers vorangestellt: „Ne nos inducas in tentationem“, Führe uns nicht in Versuchung.
„Der Großtyrann und das Gericht“ erzählt von dem Diktator einer fiktiven italienischen Renaissancestadt, der seine Herrschaft theoretisch mit dem natürlichen Streben nach Macht legitimieren will (Drittes Buch, 22[. Kapitel]) und – wie der Leser am Ende der Geschichte erfährt – einen Verräter erdolcht hat, was aber keine so große Untat darstellt, da dieser vom Gericht sicherlich auch zum Tode verurteilt worden wäre, wobei jedoch Dinge zur Sprache gekommen wären, die im Interesse des Staates nicht öffentlich bekannt werden sollten, denn bei dem Getöteten handelte es sich um einen Mann, der häufig in geheimen Aufträgen unterwegs war. Den eigenhändig verübten Mord benutzt der herrschende Großtyrann nun, um den Leiter seiner Sicherheitsbehörde auf die Probe zu stellen, und er versucht, einen alten Priester zum Bruch des Beichtgeheimnisses zu zwingen. Die Ermittlungen ziehen weite Kreise, wodurch mehrere Personen, um Nachteile für sich zu vermeiden, Schuldzuweisungen erfinden. Die ganze Stadt gerät in eine Erregung, die sogar zu Verwundung und Tod von Menschen führt. Endlich bezichtigt sich ein wegen seiner Frömmigkeit hochangesehener Färber, unverheiratetes Mitglied eines Dritten Ordens, des Mordes. Er will sich opfern, um die gesamte Stadt von dem Unheil zu befreien, das in Folge der Mordtat über sie gekommen ist. Diese opferbereite Haltung bringt den Großtyrannen zur Umkehr (Fünftes Buch, 7[. Kapitel).
Der alte Priester erklärt, daß die Versuchung des Großtyrannen darin bestand, Gott gleich sein zu wollen, während die anderen lediglich menschlichen Versuchungen nachgegeben haben, in die der Herrscher sie geführt hatte (Fünftes Buch. 6[. Kapitel]). Tatsächlich hatte der Großtyrann bis dahin nicht nur Bibelworte blasphemisch verdreht (Erstes Buch, 4[. Kapitel]), sondern sogar das erste Gebot auf die eigene Person bezogen (Erstes Buch, 9]. Kapitel]). Dies wird kritisiert als „ein Stück ungemessener, ja, fast wahnwitzig erscheinender Selbstüberhebung (Drittes Buch, 22[. Kapitel]). Weil er sich als irdisches „Abbild Gottes“ (ebd.) versteht, meint der Großtyrann, er sei „die Quelle des Rechtes…und damit auch Herr über seine Auslegung.“ (Drittes Buch, 12[. Kapitel]) Tatsächlich aber hat sich die Justiz an das „himmlische Inbild“ zu halten, nicht danach zu richten, „was einem menschlichen Gemeinwesen oder einer Staatsform für einige Augenblicke zuträglich erscheint“, weil dadurch Unrecht an die Stelle des Rechtes zu treten droht (ebd.). Daher legt Werner Bergengruen einer der handelnden Personen, einem jungen Manne namens Diomede, die Worte in den Mund: „Die Gerechtigkeit, die in einem ewigen Himmel wohnt, nimmt, wenn sie zur Erde niedersteigt, die Weise der Erde an, und sie bleibt doch, die sie war. … Alle Rechts- und Staatskunst…wird immer den einen Versuch zu wagen…haben: den Versuch, die Macht mit der Gerechtigkeit….zu versöhnen.“ (Fünftes Buch, 1[. Kapitel])
Der „Völkische Beobachter“ pries das Werk bei seinem Erscheinen als „großen Führer-Roman der Renaissancezeit“. Offenbar schrieb ein wenig genauer Leser die Rezension oder ein nicht besonders linientreuer Parteigenosse. Natürlich ließ sich der „Großtyrann“ mit der NS-Ideologie nicht vereinbaren. Das Buch ist zwar kein Werk eines geistig allzu platten Antifaschismus, der den Großtyrannen einfach als Platzhalter an Hitlers Stelle setzt, auch wenn es Übereinstimmungen zwischen beiden Gestalten gibt, so deren rege Bautätigkeit. Der „Großtyrann und das Gericht“ verwirft vielmehr die Selbstvergötzung des Herrschers an Hand eines Beispiels erdachter Geschichte, und er fordert vom Staat die Anerkennung der vom Schöpfer der Welt gegebenen Gebote. Doch eben dies vermag kein totalitärer Staat zu akzeptieren, da er sich selbst absolut setzt, also Gottes höchste Stelle für sich beansprucht.
Die im „Großtyrannen“ behandelte Thematik bleibt aktuell. Es stellt sich die Frage: Wo ist der deutschsprachige Schriftsteller, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts der Obrigkeit, die das der Schöpfung eingepflanzte Naturrecht mit Füßen tritt, ein Werk unter dem Motto „Libera nos a malo“, Erlöse uns von dem Übel, entgegenhielte, und wo wären die vielen Leser, die ihm beipflichteten?
„Der ewige Kaiser“
Im Jahr der Konversion zum katholischen Glauben zog die Familie Bergengruen von Berlin fort nach Solln im Süden Münchens. Nach sechs Jahren dort ausgebombt begab Werner Bergengruen sich noch weiter nach Süden: Bis 1946 lebte er im österreichischen Achenkirch, anschließend in Zürich, zuletzt in Baden-Baden.
Im Jahre vor dem Anschluß Österreichs (1938) veröffentlichte Werner Bergengruen in Graz eine 1935 bis 1936 entstandene Sammlung von Gedichten unter dem Titel „Der ewige Kaiser (1937)“. Sie erschien ohne Nennung des Verfassernamens als dritter Band der Buchreihe „Österreichische Blätter“. Indem er das traditionelle Bild des Reiches in Erinnerung rief, wandte er sich gegen dessen Uminterpretation. Der Kaiser des Reiches war kein absolutistischer Herrscher, und er regierte keinen Nationalstaat. Er war der „Vater der Völker“ (Nachwort zur 2. Auflage), und der Zweck des Reiches bestand darin, durch den Sieg über die anstürmenden Barbaren Gerechtigkeit und Frieden zur Herrschaft zu bringen („Die Fürbitte aus der Karfreitagsliturgie“). So stand das Reich der römischen Kirche „gewaffnet zur Seiten“ als ihr „Schirmvogt“ („Vocatus ecclesiae“).
Werner Bergengruen verstand die Gedichte des „Ewigen Kaisers“ nicht als lyrische Umsetzung eines politischen Programmes zur Wiederherstellung der alten Monarchie. Dennoch aber bekannte er sich darin zu seiner Hoffnung auf einen dem Kaiser entsprechenden Herrscher: „Du kannst nicht sterben, Cäsar, denn du lebst,/ und du verklärst die trübverworrne Menge,/ indem du ihrer einen zu dir hebst.“ („An den Lebenden“) Der zu jener Zeit existierende NS-Staat wird diesen nicht hervorbringen, sondern ihm weichen müssen: „Die Reichsanmaßer und unechten Erben/ sind dir zu Bügelhaltern vorbestimmt.“ (ebd.)
Im Jahre 1951 erschien „Der ewige Kaiser“ in zweiter Auflage, wiederum in demselben Grazer Verlag. Die Gedichtsammlung sollte nun den beginnenden Einigungsprozeß der europäischen Völker begleiten und ihnen mit dem Bild des Reiches als Maßstab und Richtschnur dienen, nachdem sie sich im 1. Weltkrieg in feindliche Lager geschieden hatten: „Uns allen ist die Schuld gemein/ und allen die Zerstreuung./ Das Reich wird unser aller sein/ und aller die Erneuung./ … Mit klarem Maß in Spruch und Schrift/ wirst du die Marken scheiden/ und wirst auf der geeinten Trift/ entsühnte Völker weiden.“ („Nostra culpa“) So soll das Reich gewissermaßen fortleben, bis an seine Stelle das Gottesreich tritt („Das Ende des Reiches“). – Wie gut, daß es Werner Bergengruen erspart blieb, mitansehen zu müssen, in welcher Kloake sich die europäischen Völker einige Jahrzehnte später wiederfanden.
„Am Himmel wie auf Erden“
Im Mittelpunkt des Romans „Am Himmel wie auf Erden (1940)“, an dem Werner Bergengruen 1931 zu arbeiten begann, steht der als brandenburgischer Hofastrologe tätige Historiker Johannes Carion (geb. 1499, gest. 1535); aus seiner Beobachtung des Himmels kommt er zu Vorhersagen in bezug auf das irdische Leben, und daher erlangt die Erzählung ihren Titel „Am Himmel wie auf Erden“. – Bergengruens Carion sieht durch die Astrologie die Allmacht Gottes nicht eingeschränkt, da er aus den Gestirnskonstellationen nur mögliche, aber nicht notwendig eintretende Ereignisse vorhersieht.
Das dem Roman vorangestellte Motto „Fürchtet euch nicht“ ermutigt angesichts einer – nach den oberflächlich betrachtet doch so erfolgreich verlaufenen Feldzügen gegen Polen und Frankreich (1939/1940) – drohenden Katastrophe. Eine solche wird auch in Bergengruens Roman befürchtet: Angesichts einer seltenen Konstellation der Gestirne drohe das Hereinbrechen einer Flut in der Mark Brandenburg für Mitte Juli 1524. Zu jener Zeit regierte dort der den aufkommenden Protestantismus ablehnende Joachim I. Nestor (1499 – 1535). Er gründete 1506 die Universität Frankfurt/O. und brachte 1524 die Grafschaft Ruppin an die Mark. – Im Jahre 1415, also während des Konstanzer Konzils (1414 – 1418), hatte Kaiser Sigismund (1411 – 1433) den Burggrafen zu Nürnberg aus dem Hause Hohenzollern mit der Markgrafschaft Brandenburg belehnt und ihm damit zugleich zu kurfürstlicher Würde verholfen.
Die im Roman für Mitte Juli 1524 befürchtete Flut löst in der deutsch-wendischen Bevölkerung Brandenburgs Unruhe aus, die der Herrscher, Kurfürst Joachim I., durch Gesetze unterdrücken zu können meint. Er scheut selbst vor Hinrichtungen nicht zurück, doch diese Maßnahmen bewirken das Gegenteil: Die Unruhe steigert sich zu einem aufrührerisch gesinnten Groll. Ein franziskanischer Prediger in Berlin spricht seinen Hörern als gläubigen Christen Mut zu: „Allein gerade da, wo für den natürlichen Menschen Gründe zur Furcht vorlägen, …gerade da sei es die Aufgabe des übernatürlich erweckten, der Furcht in sich keine Stätte und keine Herrschaft einzuräumen. … ‚Fürchtet euch nicht!‘“ (Vierter Teil, [Kapitel] Grau gegen Schwarz) Was der Prediger sagt, wird als Verstoß gegen die kurfürstlichen Gesetze aufgefaßt. Daraufhin wird der Franziskaner verhaftet, obwohl er der weltlichen Gerichtsbarkeit gar nicht untersteht. Als Gefangener hat der Priestermönch den zum Tode verurteilten Kammerjunker vor dessen Hinrichtung zu trauen; dieser hatte seine Braut wegen der Flut außer Landes bringen wollen und damit das kurfürstliche Vertrauen mißbraucht, denn Joachim I., der die Nachricht von der drohenden Katastrophe vertraulich von Carion erhalten und sie allein seinem Kammerjunker mitgeteilt hat, glaubt, niemand sonst wisse davon, und er will sie mit allen Mitteln geheimhalten; doch durch die Mutter Carions hat sich das Gerücht schon in Kölln und Berlin verbreitet. – Der zur Hinrichtung schreitende Kammerjunker verabschiedet sich nach der Trauung von den Seinen mit den Worten: „Fürchtet euch nicht.“ (Fünfter Teil, [Kapitel] Die dritte Hochzeit)
Als an St. Heinrich (15. Juli) das Hereinbrechen der Flut erwartet wird, flieht der Kurfürst mit seinem Hofstaat auf den Tempelhofer Berg, die höchste Erhebung jener Gegend. Da die Einwohner der Doppelstadt Berlin-Kölln davon erfahren, kommt es zu Tumulten und Plünderungen. Der Kurfürst erkennt die Verkehrtheit seines Verhaltens und kehrt zurück. Während er noch unterwegs ist, bricht ein mächtiges Gewitter herein, das die Gemüter in Kölln und Berlin abkühlt. Der Aufruhr ist vorüber. – Der wendische Teil der Bevölkerung Brandenburgs hatte sich daran nicht beteiligt. Vielmehr verflüchtigen sich dort die bis dahin immer noch vorhandenen Reste des alten Heidentums, so daß sich die letzten Gegensätze zwischen wendischer Landbevölkerung und deutschen Städtern mit tw. auch wendischen Vorfahren auflösen. – Am Ende erkennt der Kurfürst, was das Evangelienwort „Fürchtet euch nicht!“ bedeutet: Es bezeichnet „die Liebe, mit der er [nunmehr] alles Zubehör seines Schicksals zu umfassen versuchen wollte“ (Epilog, [Kapitel] Am Himmel wie auf Erden). Carion stimmt ihm zu: „‚…mir gefallen alle Werke Gottes, am Himmel wie auf Erden.‘“ (ebd.) Mit diesen Worten schließt der Roman.
Die Liebe zur göttlichen Vorsehung wird im Roman dargestellt mit Hilfe einer unterschiedlichen Charakterisierung der Deutschen und der Wenden in der Mark Brandenburg. Erstere, die das Wesen der letzteren „zum Untergange bestimmten“, sind erkennbar an ihrer „zweckhaft formenden Menschenhand“ (Epilog, [Kapitel] Am Himmel wie auf Erden). Die Wenden sind in ihr Schicksal – von Ausnahmen abgesehen – still ergeben, und eben diesen Wesenszug sollen die Deutschen aufnehmen, die mit den Wenden zum Neustamm der Brandenburger verschmelzen; die Wenden sollen also nicht nur leiblich in den Brandenburgern aufgehen, sondern auch ihr geistiges Erbe einbringen. Exemplarisch vollzieht der Kurfürst als Deutscher diese Aufnahme des Wendischen durch seine Anerkenntnis der Liebe zur göttlichen Vorsehung. – Weit darüber hinaus geht er jedoch noch, indem er den vom Blitz getöteten Juro bzw. Georg, seinen ihm persönlich vertrauten Kutscher, niederkniend als „gnadny kral“, als gnädigen König preist, denn Juro hatte unter den Wenden als ihr heimlicher König gegolten (Fünfter Teil, [Kapitel] Gnadny kral). Der Kurfürst spricht die Worte, mit denen der König der Wenden der volkstümlichen Überlieferung nach bei seinem Offenbarwerden tituliert wird (Zweiter Teil, [Kapitel] Abendgang).
Tatsächlich dürften die Deutschen in der Zeit vor der Reformation kaum durch mangelndes Vertrauen in die göttliche Vorsehung gekennzeichnet gewesen sein und andererseits auch noch nicht durch die ihrer Rationalität wie Unermüdlichkeit verdankte zweckhaft formende Hand. Doch diesen Anachronismus nimmt Bergengruen in Kauf, um mit einem historischen Roman zu den Lesern seiner Zeit zu sprechen. – Der Roman erschien 1940 nach Erteilung einer Sondergenehmigung, die aber bald widerrufen wurde. Keinesfalls ließ sich „Am Himmel wie auf Erden“ mit der NS-Besatzungspolitik jenes Jahres in den slawischen Ländern, insbesondere Polen, vereinbaren, da im Roman ein deutscher Kurfürst einem slawischen König huldigt!
„Die heile Welt“
Die Begründung für seine Aufforderung „Fürchtet euch nicht!“ lieferte Werner Bergengruen nach Kriegsende mit dem Gedichtband „Die heile Welt (1950)“. Gegen seine Intention wurde dieser Titel sprichwörtlich für ein durch Verdrängung von Problemen geschaffenes scheinbares Glück. Werner Bergengruen dagegen geht est um eine Welt, die nicht heil ist, aber dadurch geheilt wird, daß sie Gottes Schöpfung ist und in sich einen unzerstörbaren Kern seiner Ordnung trägt, die an der Oberfläche des scheinbar ganz heillosen Daseins in allen Dingen präsent ist. Die göttliche Ordnung wirkt aus der Tiefe heilsam in die vorfindliche Wirklichkeit hinein. „Niemand kann die Welt verwunden,/ nur die Schale wird geritzt.“ Dies schrieb Werner Bergengruen in dem 1944 entstandenen Gedicht „Die heile Welt“, das der sechs Jahre später erschienenen Sammlung den Titel gab.
Die göttliche Ordnung bleibt dem Menschen rätselhaft, unfaßbar, sodaß der Schriftsteller sie dem Leser nicht einfach vor Aufgen stellen kann; Bergengruen spricht in einem späteren Werk vom „Unbeschreiblichen“, dessen „stumme[s] Mitvorhandensein…[zu] jeder Dichtung zu gehören“ scheint („Der dritte Kranz“, Erster Teil, Achtes Kapitel). Daher vollziehen sich die Geschicke der Menschen in den Bergengruen‘schen Erzählungen oft unabhängig von deren Intentionen und Erwägungen.
„Der letzte Rittmeister“
Im Mittelpunkt des in der Nachkriegszeit entstandenen Spätwerkes steht die Rittmeister-Trilogie. Lesenswert ist sie schon auf Grund der eingefügten Novellen und novellenartigen Passagen. Im ersten Teil des Buches „Der letzte Rittmeister (1952)“, das den ersten Band der Trilogie bildet, erzählt Bergengruen von einem zaristischen Offizier, der in bescheidenen Verhältnissen im Tessiner Exil lebt, nachdem er durch die Bolschewisten Familie und Heimatland verloren und sich zeitweise in Konstantinopel, Berlin und Paris aufgehalten hat. Abgesehen von einem deutschen Großvater sind die Vorfahren des Rittmeisters russisch; er bildet ein Spiegelbild zu dem deutschstämmigen Werner Bergengruen, zu dessen Vorfahren ein Schwede zählt. Die Thematik der freundschaftlichen Begegnung eines Deutschen und eines Slawen erinnert an den Roman „Am Himmel wie auf Erden“.
Als Angehöriger der orthodoxen Kirche besucht der russische Rittmeister im Exil – gleich Werner Bergengruen – sonntags die katholische Messe („Der dritte Kranz“, Vierundfünfzigstes Kapitel: Der Rittmeistersee). Der überall beliebte Rittmeister lebt, ohne noch Ziele zu verfolgen, gelassen aus der Erinnerung dahin, den Freuden des Daseins im Sinne von Ps. 103, 15 (Ps. 104, 15) fast schon ein wenig zu sehr zugewandt.
Der Rittmeister teilt dem Schriftsteller Bergengruen im zweiten Teil des Buches eine Reihe von Geschichten mit, die er gesammelt hat, und damit tritt der Rittmeister selbst als Erzähler auf. So gleicht er noch stärker Werner Bergengruen, der vor allem als Autor von Novellen Bedeutung erlangt hat, die sich – häufig in historischem Gewande – mit zeitlosen Fragen befassen. Der Rittmeister erscheint nunmehr als Alter Ego des späten Werner Bergengruen. – Ein kurzer dritter Teil des Buches erwähnt das friedvolle Ende des letzten Rittmeisters.
„Die Rittmeisterin“
Im zweiten Band der Trilogie, „Die Rittmeisterin (1954)“, erfährt der Autor während eines Aufenthaltes in Florenz durch einen anläßlich des Erscheinens des „Letzten Rittmeisters“ ihm zugesandten Brief, wer dessen Erbin gewesen ist, eine in Genf lebende Dame namens Musa Petrowna Dugué, eine Exilrussin, die die Jahre ihrer Kindheit in Berlin und Paris verbracht hat und nun verheiratet in Genf lebt. Der zweite Teil des Buches berichtet von den Gesprächen zwischen dem Autor, der sich nun nach russischer Art Werner Pawlowitsch nennt, und Musa Petrowna, deren Ehemann gerade abwesend ist und deren Kinder in einem süddeutschen Landerziehungsheim untergebracht sind, da Musa Petrowna, die langjährige Freundin des Rittmeisters, ihren Gatten sonst oft auf dessen Geschäftsreisen begleitet. Die in Genf geführten Gespräche werden von Erinnerungen des Autors an seine Kindheit im Baltikum als novellenartigen Passagen durchzogen, d.h. von in die Erzählung eingefügten und von ihr nicht abgetrennten Geschichten.
Der dritte Teil des Buches ist wie der erste in Florenz angesiedelt. Nachdem Musa Petrowna an einer kurzen, heftigen Krankheit verstorben ist, berichtet der Autor vom Ende der seiner Zeit mit ihr geführten Genfer Gespräche, da Musa Petrownas Ehemann, der für lange Zeit geschäftlich in Südamerika zu tun haben wird, seine Gattin zu sich gerufen hat. Zuletzt teilt Musa Petrowna dem Autor mit, daß sie den Rittmeister, der vom Alter her ihr Vater hätte sein können, geliebt habe wie er sie, daß sie ihn heiraten wollte und nur darauf verzichtete, weil er einer anderen, ihr fremden Epoche angehörte. Das Buch schließt mit einem Ausblick auf das Leben nach dem Tode, wo das vollzogen wird, „was aller Geschöpfe Beruf und Schuldigkeit ist: das Leben und seinen Geber zu verherrlichen.“ (Sechsundzwanzigstes Kapitel: Abschied und Wiedersehen)
„Der dritte Kranz“
Eine bereits in der „Rittmeisterin“ erwähnte Mappe mit Notizen des verstorbenen Rittmeisters steht im Mittelpunkt des dritten Bandes der Trilogie, „Der dritte Kranz (1962)“. In der Mappe befinden sich Notizen von Geschichten des Rittmeisters, die er noch nicht erzählt hat, die aber von Musa Petrowna und dem Autor im Rahmen ihrer Genfer Gespräche rekonstruiert werden. Außerdem fügen die beiden noch weitere Erzählungen des Rittmeisters oder auch solche, die sie anderswo kennengelernt haben, hinzu. Im zweiten Teil des Buches gesellt sich zu ihnen ein ehemaliger Landgerichtsdirektor, der den Rittmeister ebenfalls kannte, zusammen mit Ehefrau und erwachsenem Sohn; diese drei geben ebenfalls einige Erzählungen zum Besten. So enthält auch „Der dritte Kranz“ zahlreiche Novellen neben einer sich durch das Buch hindurchziehenden Rahmenerzählung, die im zweiten Teil wiederum von novellenartigen Passagen erweitert ist.
Was Bergengruen über sich selbst sagt, charakterisiert auch seinen Rittmeister treffend: „der eigenen Übereinstimmung mit allem Erschaffenen mich dankbar zu erfreuen.“ („Die Rittmeisterin“, Drittes Kapitel: Nördliches) Und was er wiederum den Rittmeister sagen läßt, betrifft ihn selbst: „Mir macht es Spaß, dies Spiel [der Beschäftigung mit einer Bestimmten Aufgabe im Leben] zu treiben, von dem ich genau weiß, daß nie etwas [Endgültiges] dabei herauskommen wird! Also treiben wir es weiter, in Gottes Namen denn, treiben wir es so lange (und treiben wir es in guter Haltung!), bis Gott uns das Spielzeug aus den Händen nimmtund uns dafür eine Sterbekerze zwischen die Finger steckt.“ („Die Rittmeisterin“, Viertes Kapitel: Der Geheimname) In diesem Sinne ist auch die umfangreiche Rittmeister-Trilogie verfaßt. – Ausdrücklich bekennt sich Werner Bergengruen am Schluß des zweiten Teils der „Rittmeisterin“ in christlich-stoischem Sinne zur Liebe zu Gott als Liebe zum Schicksal, zum amor fati (Zweiundzwanzigstes Kapitel: Sommerepilog).
„Die schönsten Novellen“
Ebenso wie sein Rittmeister gehörte auch Werner Bergengruen der Nachkriegszeit eigentlich nicht mehr an, obwohl er in jenen Jahren weiterhin literarisch tätig blieb und auch viel gelesen wurde. Der Zeitgeist aber wehte in eine Richtung, die Werner Bergengruen nicht einschlagen mochte. Wie der Rittmeister gehörte er einer nach 1945 untergehenden oder schon untergegangenen Epoche an, und so erstaunt es auch nicht, daß Werner Bergengruen am Ende seines Lebens die Beschlüsse des in Rom versammelten 2. Vaticanischen Konzils mit Skepsis beobachtete. – In dieser Zeit stellte er noch einen Band seiner schönsten Novellen zusammen, der in dem Jahre erschien, in dem Paul VI. (1963 – 1978) zum Papst gekrönt wurde: Mit dem Buch „Die schönsten Novellen (1963)“ hinterließ Werner Bergengruen seinen Lesern ein „Schatzkästlein“ aus dem 20. Jahrhundert.
Werner Bergengruen war noch 1967 – neben Hermann Hesse (geb. 1877, gest. 1962; Nobelpreis 1946) – der unter den deutschen Studenten beliebteste Autor, doch bald danach änderten sich die Zeiten, so daß er wie die anderen der Linken unliebsamen Schriftsteller erfolgreich totgeschwiegen werden konnte.