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Auf dem ungeordneten Rückzug

Marie Luise Josephine Freiin von Holzing Berstett, 1901 geborene Tochter eines berühmten Kunstreiters, der bald darauf zum Flügeladjutanten Wilhelms II. (1888 – 1918) befördert wurde, war ein überempfindliches, ängstliches Kind, das sich von der Mutter nicht geliebt, vom Vater übersehen und von den Geschwistern oft verletzt wähnte. Die Vorfahren der protestantische Familie von Holzing Berstett stammten aus dem Elsaß und Baden. In Karlsruhe kam Marie Luise als drittes von vier Kindern zur Welt. In Potsdam und Berlin wuchs sie auf. Den 1. Weltkrieg verbrachte sie in einem Mädchenpensionat. 1918 kehrte der Vater als Generalmajor aus dem Kriege zurück. Mit seiner Familie zog er sich auf das im heimischen Baden gelegene Gut Bollschweil zurück.

Ohne einen allzu großen beruflichen Ehrgeiz begann Marie Luise von Holzing Berstett 1921 eine Buchhändlerlehre in Weimar, die sie nach drei Jahren abschloß. 1924 fand sie Beschäftigung in einem Münchner Verlag, wechselte aber bald nach Rom, wo sie eine Stelle als Sekretärin im Deutschen Archäologischen Institut übernahm. Dort lernte sie den österreichischen Archäologen Guido Freiherr Kaschnitz von Weinberg1 kennen, der für das Deutsche Archäologische Institut in Rom sowie die Vatikanischen Museen tätig war (1923 – 1931). Marie Luise von Holzing Berstett wechselte den Arbeitgeber. Sie erhielt eine Anstellung im florentinischen Verlagshaus Leo S. Olschki in Rom, die sie aufgab, als sie in demselben Jahr 1925 Guido Kaschnitz von Weinberg heiratete. Die Trauung fand in Bollschweil statt. 1928 wurde das einzige Kind der Eheleute geboren, die Tochter Iris Constanza2.

1932 habilitierte sich Guido Kaschnitz von Weinberg und erhielt noch in demselben Jahr einen Ruf nach Königsberg, wo er als ordentlicher Professor lehrte (1932 – 1937). Fünf Jahre später wechselte er nach Marburg (1937 – 1941) und noch einmal vier Jahre später nach Frankfurt (1941 – 1952). Zahlreiche Reisen unternahm der Archäologe zu Stätten der antiken Welt, auf denen seine Ehefrau ihn begleitete.

Während ihr Gatte die Leitung des Deutschen Archäologischen Institutes innehatte (1952 – 1956), wohnte Marie Luise Kaschnitz mit ihm zusammen abwechselnd in Frankfurt und Rom. Seit seinem Eintritt in den Ruhestand 1956 litt Guido Kaschnitz von Weinberg an einem Hirntumor, an dem er zwei Jahre darauf verstarb. Nach seinem Tode veröffentlichte Marie Luise Kaschnitz eine Zeit lang lang nichts. 1960 erst erschien der Erzählband „Lange Schatten (1960)“. Danach folgten u.a. der Lyrikband „Dein Schweigen – meine Stimme. Gedichte 1958 – 1961 (1962)“ sowie das literarische Tagebuch „Wohin denn ich. Aufzeichnungen (1963)“, mit denen sie ihr Witwendasein zu bewältigen suchte. – Die letzten Veröffentlichungen bis zu ihrem Tode sind meist autobiographischer Natur. Die eigene Person ist ein unerschöpfliches Thema für Marie Luise Kaschnitz gewesen. So heißt es in einem Gedicht aus ihrem Nachlaß sogleich in der ersten Zeile: „Du mein kleingeschriebenes Ich / Das immer noch fähige / Mit allen Sinnen / Welt aufzunehmen“. Ganz vom Klische bestimmt ist die Fortsetzung, in der es um die Außenwelt geht: „Was für eine Welt / Von Wasserwerfern / Flüchtenden Studenten / Polizeistöcken / Unheilssirenen / Zügen die schneller und schneller / Und aus den Gleisen springen / Mit Fangarmen schneller und schneller (sc. etwa die der Polizisten mit ihren Stöcken?)“. Mit dem Schlußsatz kehrt sie indirekt zu sich selbst zurück: „Meine Enkel wie werdet ihr sterben?“. Oh, welches Pathos!

Nach dem Tode des Ehemannes 1958 lebte Marie Luise Kaschnitz vorwiegend in Frankfurt, zeitweise hielt sie sich auch in Bollschweil südlich von Freiburg im Breisgau auf oder bei der Tochter in Rom. Dort verstarb sie 1974. Im frühherbstlich kalten Meerwasser war Marie Luise Kaschnitz nach ihrer Gewohnheit täglich mehrmals geschwommen, sie bekam eine Lungenentzündung und verschied nach zehntägigem Krankenhausaufenthalt. Begraben wurden ihre sterblichen Überreste in Bollschweil neben denen ihres Ehemannes.

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Nach der Geburt ihrer Tochter hatte Marie Luise Freifrau Kaschnitz von Weinberg begonnen, eigene literarische Werke niederzuschreiben, die ab 1930 veröffentlicht wurden. Bis zum Ende des 2. Weltkrieges verfaßte sie Romane, Erzählungen und Gedichte, die zumeist ganz konventionell das Thema Liebe in irgendeiner Form behandelten, also die Ehe, Familie, Sexualität etc. Marie Luise Kaschnitz selbst sagte in einem Vortrag über „Das Besondere der Frauendichtung (1957)“, womit sie nicht zuletzt gewiß auch die ihrige charakterisierte: „Die Liebesbeteuerung und die Liebesklage scheinen der vornehmlichste Gegenstand der weiblichen Dichtung zu sein.“ Sie zeichne sich aus durch „Irrationalität und Logikferne“. – An einen Bekannten schrieb Marie Luise Kaschnitz 1949: „Denke daran, daß ich nicht nur im Positiven, sondern auch im Negativen eine Frau bin: ein ermüdbares, alle Öffentlichkeit scheuendes und faules Wesen, ein nur im künstlerischen Ausdruck vielleicht ernst zu nehmendes Individuum.“

Stets hatte Marie Luise Kaschnitz ein vergleichsweise komfortables Leben geführt. Doch die Zerstörung Frankfurts durch Fliegerbomben wurde zum einschneidenden Erlebnis für sie; nach einem der Angriffe suchte sie zehn Stunden lang in den Trümmern umherirrend ihre Tochter. Dem entsprechend bildeten ein Dutzend das Zeitgeschehen reflektierender Essays, geschrieben von der Wintersonnenwende 1944 bis etwa zur Sommersonnenwende des folgenden Jahres, einen Einschnitt in ihrem literarischen Schaffen. Sie tragen den Titel „Menschen und Dinge 1945“, und erschienen 1946 in Heidelberg.

Einer der „Zwölf Essays“, so der Untertitel des Buches, ist „Von der Schuld“ überschriieben. Gemäß ihrer protestantischen Herkunft bleibt die Verantwortlichkeit des Einzelnen für seine Taten ihr unwichtig: Gerechtigkeit aus Glauben statt Gericht nach Werken. Doch angesichts alliierter Kollektivschuldvorwürfe räumt sie ein, im Gegensatz zu früheren Zeiten seien die Einzelnen so in die Allgemeinheit einbezogen, daß man von „Massenschuld“ sprechen könne. An die überlebenden Deutschen ergeht daher „die Anklage der Duldung des Unrechts und der Bewahrung des eigenen Lebens“. Die „Sieger“ erscheinen nur äußerlich als Richter; eigentlich ist es das eigene Gewissen, das anklagt.

Das Bewußtsein eines Anteils an der „Massenschuld“ wirkte sich gewiß unangenehm auf das Lebensgefühl aus, doch enthob die Selbstbezichtigung der Mühsal, einen Konflikt mit denen auszutragen, die sich als allzu mächtig erwiesen hatten; Marie Luise Kaschnitz war alles andere als eine idealistische Eifererin. Wie sie sich bei den Alliierten Liebkind zu machen suchte, zeigt beispielhaft die Geschichte „Das fremde Land“ (in: „Lange Schatten (1960)“), da die Ich-Erzählerin zwei feindlich gesonnenen französischen Fliegern gegenüber den Namen des verschollenen Schriftstellers und Piloten St. Exupéry vorbringt und dabei demonstriert, daß sie sogar aus dem Original von dessen „Kleinem Prinzen“ („Le Petit Prince (1943)“) zu zitieren weiß: „On ne voit bien qu‘avec le coeur“, Man sieht nur mit dem Herzen gut.3

Von Erbschuld eines Tätervolkes ist bei Kaschnitz noch nicht die Rede. Ihre Unterscheidung zwischen einer Tätergeneration und der Nachkriegsgeneration als Träger dessen, was später „die Gnade der späten Geburt“4 genannt worden ist, macht die Erzählung „Christine“5 deutlich, eine Geschichte mit leicht zu durchschauender Antinazi-Symbolik: Ein Mann hat vor etlichen Jahren einem unschuldigen, wehrlosen Opfer, einem Kind namens Christine6, d.h. den Juden, nicht geholfen, als es vor seinem Hause von einem Geistesgestörten ermordet wurde, von den Nazis. Der Mann fühlt sich wegen unterlassener Hilfeleistung schuldig, während seine am damaligen Geschehen ebenfalls beteiligte Frau sich zu rechtfertigen sucht. Die beiden sind Repräsentanten der „Tätergeneration“ der Deutschen, der die Autorin selbst angehört; im Falle des Mannes wird diese Situation verquickt mit der „midlife-crisis“. Die Kinder des Ehepaares stehen für die nach dem Krieg geborene Generation der Deutschen. Sie sind inzwischen herangewachsen, sie sind „immer kräftig und gut in der Schule gewesen“. Die Autorin beneidet offenbar die Jüngeren als von Schuld Freie, denn die Unannehmlichkeiten, denen sie sich ausgesetzt sieht, bleiben ihnen erspart. „Ich weiß, daß er (sc. mein Mann) mich haßt“, sagt die Frau, die die Schuld abstreitet, „und daß er die Kinder haßt, weil sie leben und gesund und kräftig sind.“7 – Der Haß auf die Nachgeborenen speist sich aber nicht nur aus dem Neid auf deren Schuldlosigkeit. Sie unterscheiden sich von den vorangegangenen Generationen. Die Epoche des deutschen Idealismus, die am Ende des 18. Jahrhunderts begonnen hatte, sei 1945 zu Ende gegangen, meint Kaschnitz.8 Die Nachkriegsgeneration scheue das Opfer und suche stets den mühelosen, bequemen Weg. Kaschnitz führt die Andersartigkeit der Nachgeborenen auf den Krieg zurück. Sie sei Folge der Zerstörung „der Städte, die nur ein Sinnbild sind für die verschütteten und durcheinandergewühlten Schätze des Geistes“9.

Von der „Massenschuld“ ist es nicht weit zur Ablehnung alles Deutschen, und so wurde aus dem Mädchen, das am Hof des letzten Preußen-Kaisers ein und ausging, aus der Frau, die zusammen mit ihrem Manne Distanz vom offiziellen Leben in der NS-Zeit hielt, am Ende eine Witwe, die sich an der Seite der anti-deutschen Linken wiederfand.

Wie simpel ihr Weltbild in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht auch angesichts des Bekenntnisses zur Mitschuld blieb, zeigt exemplarisch Kaschnitz‘ Gedicht „Th. W. A.“ als Reaktion auf den Tod Adornos10, der seit 1950 in Frankfurt lehrte und mit ihr befreundet war: „Es brauchte ihn keiner / Ins Grab zu stoßen / In diesem strahlenden Sommer / Er war so lange schon traurig / Fiel“. Adorno starb also, weil er „so lange schon traurig“ war, aber der Gedanke, daß Adorno selbst die traurigen Verhältnisse, unter denen er zuletzt litt,11 mit heraufbeschworen hatte, kommt der Verfasserin gar nicht; die Frage nach der persönlichen Verantwortung bleibt ihr fremd. – So hatte Adorno 1967 nach der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg12 im Soziologischen Seminar verkündet, „daß die Studenten heute die Rolle der Juden spielen“, und auch später wurde er „dieses Gefühl nicht los“.Das sagte derselbe, der Auschwitz zum Synonym für die Einzigartigkeit der Judenverfolgung während des 2. Weltkriegs stilisiert hatte.13

Was für ein in politischen Fragen schlichtes Gemüt sich ihnen in Person der Kaschnitz zugesellt hatte, müssen auch die Linken bemerkt haben, denn obwohl die Schriftstellerin z.B. anläßlich der vorgezogenen Bundestagswahl 1972 für Brandt, d.h. für die SPD, warb und mit der Frankfurter Hausbesetzerszene sympathisierte, interessierte es niemanden, wie sie zu den linken Terroristen der Baader-Meinhof-Bande stand: „Niemand will wissen, ob ich es mit den Roten Zellen halte. … Statt dessen soll ich von Rom erzählen“, beklagte sich Kaschnitz.

Die Schriftstellerin Marie Luise Kaschnitz wurde in den fünfziger und noch mehr in den sechziger Jahren mit höchsten Preisen ausgezeichnet. Texte von ihr wurden in Schulbücher aufgenommen. 1960 wirkte sie als zweite Gastdozentin im Rahmen der Frankfurter Poetikvorlesungen, die im Herbst 1959 eingerichtet worden waren und in jedem Semester neu vergeben wurden; Marie Luise Kaschnitz las über „Gestalten der europäischen Dichtung von Shakespeare bis Beckett“. 1968 empfing sie die Ehrendoktorwürde der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt.

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Welch bedeutendes Echo Marie Luise Kaschnitz‘ Werke innerhalb des nachkriegs-deutschen Protestantismus erzielten, läßt sich erahnen, wenn man erfährt, daß seit 1984 von der Evangelischen Akademie Tutzing alle zwei Jahre ein „Marie-Luise-Kaschnitz-Preis“ verliehen wird, während sie anderswo schon längst vergessen ist. – Die theologische Entwicklung des deutschen Protestrantismus seit 1945 ist durch eine radikale Verdiesseitigung gekennzeichnet, die vor allem die Landeskirchen betraf. Schon Dietrich Bonhoeffer14 hatte eine „nicht-religiöse Interpretation biblischer Begriffe“ gefordert und war letztlich nicht mehr in der Lage zu begreifen, was ihn als Christen von Nicht-Christen unterscheiden sollte. Rudolf Bultmann15 propagierte seit 1941 die Entmythologisierung, womit eigentlich die existentialistische Interpretation der biblischen Botschaft gemeint war bzw. existentialistische Philosophie an Stelle der biblische Botschaft. Danach habe das Jenseits im Diesseits aufzugehen. In seinem berühmten Vortrag „Neues Testament und Mythologie (1941)“ heißt es: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“ Das war eine unbegründete Behauptung, der nur diejenigen zustimmen konnten, die von allem Überirdischen ebenso hielten wie Bultmann. An die Adresse derjenigen gewandt, die ihm nicht zustimmen mochten, richtete er die folgenden Worte: „Und wer meint, es (sc. an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben) für seine Person tun zu können, muß sich klar machen, daß er, wenn er das für die Haltung des christlichen Glaubens erklärt, damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich macht.“ Genauer: Er macht die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich in den Augen derer, die eben die Beschränkung auf das Diesseits unterstützen und ihre Sicht der Dinge zum alleinigen Maßstab in der Zeit des elektrischen Lichts und der Radioapparate erklären.

Wenn Bultmann bereits 1941 so sprechen konnte, dann muß er gewiß gewesen sein, daß eine große Zahl von Protestanten bereits nicht mehr an Überirdisches glaubten. Dazu zählte auch Marie Luise Kaschnitz. Deshalb interpretierte sie theologische Begriffe ganz diesseitig, z.B. die Auferstehung, nach der eines ihrer bekanntesten Gedichte benannt ist:16 „Manchmal stehen wir auf / Stehen wir zur Auferstehung auf / Mitten am Tage / Mit unserem lebendigen Haar / Mit unserer atmenden Haut. / Nur das Gewohnte ist um uns. … Die Weckuhren hören nicht auf zu ticken / Ihre Leuchtzeiger löschen nicht aus.“ Um jeden Zweifel daran auszuschließen, daß sie nichts anderes meint als die alltägliche Wirklichkeit, parodiert sie Is. (Jes.) 11, 6 – 9: „Keine Fata Morgana von Palmen / Mit weidenden Löwen / Und sanften Wölfen.“ Zugleich spricht sie der alltäglichen Wirklichkeit eine andere Qualität zu, die allerdings in kaum mehr als unbegründeter zeitweiliger Hochgestimmtheit bestehen dürfte: „Und dennoch leicht / Und dennoch unverwundbar / Geordnet in geheimnisvolle Ordnung / Vorweggenommen in ein Haus aus Licht.“ – Wer allerdings noch dem Glauben an Überirddisches anhing, konnte sich von Wendungen wie „ein Haus aus Licht“ etwas anderes als das Gemeinte vorspiegeln lassen, in diesem Falle ein überirdisches Dasein der Erlösten. Kaschnitz aber verneint in einem anderen Gedicht in derselben Sammlung17 ausdrücklich die traditionelle Vorstellung von der Ewigkeit: „Keine Hierarchie / Von Heiligen auf goldenen Stühlen sitzend / Kein Niedersturz / Verdammter Seelen“. Stattdessen erwartet sie, ihrem verstorbenen Ehemann wiederzubegegnen: „Und deine Hand / Wieder in meiner. … Mehr also fragen die Frager / Erwarten Sie nicht nach dem Tode? / Und ich antworte / Weniger nicht“. – Um zu verstehen, wie diese Wiederbegegnung gedacht ist, die hier nur angedeutet wird, ist es unumgänglich, Kaschnitz‘ Gottesverständnis zu betrachten.

Kaschnitz überträgt Luthers jenseitiges Gottesbild, das den Grund alles Bösen in die Gottheit einbezogen sieht (Deus absconditus), auf das stoische Gottesverständnis, wonach der göttliche Logos sämtliches Geschehen in der Welt wirkt: Daraus wird bei Kaschnitz ein Gott, der mit dem gesamten Weltgeschehen identisch ist, mit der Natur, die sowohl Gutes als auch Böses umfaßt, Schönes sowie Schreckliches. Der Mensch geht daraus hervor, und nach seinem Tode kehrt er dahin zurück. Daher schreibt Kaschnitz: „Das Leben geht weiter, es gibt keinen Tod.“18 Das Leben nach dem Tode besteht also „in der leiblichen Verschmelzung mit dem All…“19 Sie spricht vom „Reich der dunkeln Alliebe“20.

Die Stoa begreift den menschlichen Logos als Anteil am göttlichen Geist, der die Welt lenkt. Die Affekte sind als vernunftwidrige Regungen zu meiden. Das Schicksal ist in jedem Falle gut und zu bejahen. – Dem kann Kaschnitz nicht folgen. Ihrer Auffassung nach entspricht Gott der „schönen und schrecklichen Natur“, dem „Kosmos“ in seiner Ganzheit aus Gut und Böse,21 die sich in den Affekten widerspiegelt. Denn wir sind „Kinder der Natur … Mit der dumpfen Erinnerung unseres Blutes nehmen wir teil an den ewigen Rhythmen von Tag und Nacht, Frühling und Herbst, Ebbe und Flut.“22 Ihr lutherisches Gottesbild führt sie dazu, die Stoa sozusagen auf den Kopf zu stellen. Sie sieht die Leitung der Natur nicht im göttlichen Logos, sondern in so etwas wie vergöttlichten Affekten, an denen die menschlichen teilhaben. Die Natur ist deshalb nach Kaschnitz ganz verschieden vom menschlichen Geist. Daher „trennen wir Gut und Böse“ im Denken, solange wir auf Erden leben, und dies endet erst mit dem Tode.23 „Im Nichtsein ist man frei von der Bürde der Verantwortung, frei von den Qualen der Entscheidung…“24 Was in diesem Leben bleibt, ist nicht die unbedingte Ausrichtung an der Vernunft gemäß der Stoa, sondern das Gegenteil: „Und die einzige Überwindung der schönen und schrecklichen Natur ist noch immer das gebeugte Haupt des Menschen, der weiß und doch leidet, der aufbegehrt und sich endlich doch hingibt an das Ganze des Seins.“25 M.a.W.: „Versuchen wir, uns hinzugeben an eine Wirklichkeit, die das Chaos umfaßt.“26 Man soll also alles tun, um den eigenen Verstand zu ignorieren, was hieße, den Geist schon hier und jetzt aufzugeben.

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Aussagen über Gott sind indirekt zugleich auch Aussagen über den Menschen. Kaschnitz‘ Theologie impliziert ihre Anthropologie. Wie sie Gott nicht als rationalen Geist versteht, so auch den Menschen nicht. Er wird von seinen Affekten beherrscht, die sein Geist hinnehmen soll. Der menschliche Intellekt zeichnet allein das irdische Dasein aus. Zuvor und hernach ist er nicht vorhanden. Deshalb setzt Kaschnitz‘ Denken auch nicht bei der Natur an, denn sie bzw. Gott ist in ihren Augen doch nur der alles Individuelle aufhebende Affekt. Die Natur, aus der der Mensch hervorgeht und in die er wieder eingeht, negiert das Individuum samt dessen Vernunft und bleibt letztlich unbeschreiblich. Daher wählt Kaschnitz als Ausgangs- und Zielpunkt ihres Denkens das Individuum: „Beginnen wir noch einmal mit dem Worte ‚Ich‘. Denn keinen andern Anfang gibt es, wie es auch kein anderes Ende gibt.“27 Mit diesem „Ich“ aber rücken dessen Affekte, seine Leidenschaften, seine Triebe ins Zentrum des Interesses, sie erscheinen bestimmend, nicht das Denken. Diese mit der von Freud begründeten Tiefenpsychologie kompatible Sichtweise konnte im Nachkriegsdeutschland als modern und fortschrittlich angesehen werden. Sie ließ sich auch mit anderen Strömungen der Zeit vereinbaren, die den Trieben mehr Raum schaffen wollten, die aber schon ab Ende der sechziger Jahre („sexuelle Revolution“) über Kaschnitz hinausgingen und ihr Werk deshalb bald in weitgehende Vergessenheit geraten ließen.

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Die Erzählung „Lange Schatten“, die der gleichnamigen Sammlung von Prosatexten ihren Titel28 gab, schildert ein Urlaubserlebnis. Die Protagonistin ist eine deutsche Schülerin der Obersekunda, also eine etwa Sechzehnjährige, die mit ihrer Familie einen Urlaub an der italienischen Meeresküste verbringt. Sie verachtet das Familienleben und wäre gern zusammen mit dem Herrn, der die Seinen einfach zurückläßt, „der braune Mann mit dem Goldkettchen“; stattdessen „hockt er an der Bar oder fährt mit dem Motorboot“. Doch auf dem einsamen Spazierweg begegnet ihr lediglich ein jüngerer Vertreter dieses Typs, ein zwölfjähriger, italienischer Junge, „ein stämmiges braunverbranntes Kind“. An einem einsamen Ort entkleidet er sich plötzlich vor ihr, obwohl ihm doch noch kaum das Wollen ansteht und das Vollbringen gar unmöglich sein dürfte. Sie denkt folglich auch nicht daran, sich ihm in irgendeiner Weise hinzugeben, sondern sieht ihm als einem wilden Tier mit „Basiliskenblick“ in die Augen, bis er „wimmernd wie ein kranker Säugling“ zurückweicht und seine Blöße wieder bedeckt; bei dem Herrn mit dem Goldkettchen, so ist zu vermuten, hätte dies gewiß nicht in derselben Weise gewirkt. Angesichts ihres Erfolges aber ist die Protagonistin „doch nichts als traurig“. Sie begibt sich zu ihren Eltern, der Junge nach Hause; beide werfen lange Schatten: Das Dunkle, ihr Triebleben erscheint größer als sie selbst, und doch setzt es sich nicht durch. Kaschnitz führt auf den Weg, die letzten Hemmungen zu verlieren und scheut inkonsequneter Weise doch vor dem Erreichen des Zieles zurück.

In einigen Texten der Sammlung „Lange Schatten (1960)“ spricht eine Ich-Erzählerin, die nicht mit Marie Luise Kaschnitz identisch ist. Dort erscheint die Sprache geradezu minderwertig, wodurch wohl eine Atmosphäre der Authentizität hergestellt werden soll. Im Gegensatz dazu steht der autobiographische Text „Am Circeo“, denn dort spricht als „Ich“ die Autorin selbst. – Aus dieser Erzählung zitiert der damals der „Gruppe 47“ angehörende Kritiker Walter Jens (geb. 1923), der die Sammlung noch im Jahr ihres Erscheinens als „Meisterwerk“ in der Wochenzeitung „Die Zeit“ anpries. An Hand von sieben Worte der Erzählung sucht Jens zu demonstrieren, daß dort „große deutsche Prosa“ vorliege: „in den zersprungenen Augen einen alten Triumph.“ Diese Worte gehören zu der Schilderung einer italienischen Greisin, wie sie allerorts anzutreffen sein soll; sie ist es, die „hier im Ort wirklich regiert“ und an einem „über Jahrtausende sich hinziehenden Geschehen“ teilhat. Was damit gemeint ist, bleibt ungewiß, doch bildet es anscheinend die unbekannte Größe, auf die sich die Rede vom „alten Triumph“ bezieht. Wenn die Augen der Greisin zersprungen sein sollen, dann werden sie offenbar mit einem Spiegel verglichen. Erblickt man darin „ein alten Triumph“, dann kann dieser keinesfalls innerhalb der Alten sein und aus ihren Augen hervorleuchten, sondern er muß sich vor ihr befinden, so daß er sich „in den zersprungenen Augen“ widerspiegeln kann. Vor ihr aber steht die Betrachterin. Kurz: Die Worte „in den zersprungenen Augen einen alten Triumph“ klingen vielleicht tiefsinnig und geheimnisvoll, doch bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als nicht stimmig. – Im Gegensatz zu großer Prosa findet man recht Kitschiges in derselben Erzählung: Ein junger Mann „lächelt das unbeschreiblich traurige Lächeln der süditalienischen Knaben, die schön und arm und hoffnungslos einsam sind.“ – Angesichts der Fülle des sprachlich Fragwürdigen kommt auch Jens nicht umhin „die Fehler, winzige Flüchtigkeiten“ zu erwähnen: „Abgegriffene Adjektive…, gespreizte Adverbien…“ etc. Für sein Urteil „Meisterwerk der Kunst“ will er ausdrücklich „nicht die Weltanschauung“ anführen, doch gerade dieser Eindruck drängt sich auf: Da hat jemand einer Gesinnungsgenossin29 einen Gefallen zu tun versucht und ihr Werk über den grünen Klee gelobt.

Neben den beiden erwähnten Erzählungen finden sich in dem Bändchen „Lange Schatten“ u.a. zwei simple Antinazi-Geschichten („Das rote Netz“, „Christine“), um läppische Einfälle herum Erzähltes („Gespenster“, „Die Reise nach Jerusalem“) und Sozialkitsch („Das Wunder“, „Popp und Mingel“). Immer wieder treten irgendwelche unangenehmen Charaktere auf, die sich an nichts Schönem und Gutem erfreuen, keine Spur von Witz oder Humor zeigen und deren Verhalten unerklärlich erscheint.

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Von großer Bedeutung muß die autobiographische Erzählung „Das dicke Kind“ für Marie Luise Kaschnitz gewesen sein, denn sie hat nicht nur eine Sammlung danach benannt, „Das dicke Kind und andere Erzählungen (1952)“, sondern die Titelgeschichte acht Jahre später noch einmal in die Sammlung „Lange Schatten (1960)“ übernommen.

In „Das dicke Kind“ führt eine Katastrophe zu einer persönlichen Weiterentwicklung: Aus dem als fette Raupe beschriebenen Kind wird nach dem Überstehen einer lebensbedrohlichen Situation,30 nach dem „Ringen um Befreiung und Verwandlung“, etwas Neues – ein Schmetterling, so wäre zu ergänzen, mag der Leser mutmaßen und an die Bombenangriffe auf Frankfurt denken, welche die Autorin selbst miterlebte. In dem trägen, ängstlichen Kind, das Kaschnitz zuvor mit einer Raupe verglichen hat, erwacht jedenfalls der Wille zum Überleben, geradezu eine Gier nach Leben. Das Kind ist beim Schlittschuhfahren ins Eis eingebrochen, und seine Gesichtszüge sind „aufgerissen…von Willen und Leidenschaft, als ob sie nun, im Angesicht des Todes, alles Leben tränken, alles glühende Leben der Welt.“ Dies ähnelt freilich kaum einem Schmetterling; vielmehr scheint sich die Raupe durch die Verwandlung nur ins Maßlose vergrößert zu haben. Hat sie vorher „langsam und stetig“ gegessen, so ist nach dem Überstehen der Katastrophe gewissermaßen ein gefräßiges Monstrum aus ihr geworden.

Anmerkungen

1geb. 1890, gest. 1958

2Übersetzerin aus dem Italienischen; seit ihrer Eheschließeung (1970) mit dem verwitweten Musiker Dieter Schnebel (geb. 1930) trägt sie den Namen Iris Schnebel-Kaschnitz.

3Weiter heißt es bei St. Exupéry: „L‘essentiel est invisible pour les yeux.“ Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. – Dieses aus den beiden genannten Sätzen bestehende Zitat wurde in der Nachkriegszeit sehr populär.

4Bundeskanzler Helmut Kohl (1982 – 1998) prägte diese Wendung 1984.

5in: „Lange Schatten (1960)“

6An die Stelle eines schwarz-haarigen Juden-Kindes tritt in der Erzählung die weiß-blonde Christ-ine: Klischee mit ausgewechselten Vorzeichen.

7Wie verbreitet die Unterscheidung zwischen Täter- und Nachkriegsgeneration damals gewesen ist, zeigt auch eine Rede, die die spätere linke Terroristin Gudrun Ensslin (geb. 1940, gest. 1977) nach dem Tode des Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 gehalten haben soll. Darin habe sie gesagt: „Sie werden uns alle umbringen – ihr wißt doch, mit was für Schweinen wir es zu tun haben – das ist die Generation von Auschwitz, mit der wir es zu tun haben. Man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren. Die haben Waffen, und wir haben keine. Wir müssen uns auch bewaffnen.“

8„Von der Verwandlung. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

9„Von unseren Kindern. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

10geb. 1903, gest. 1969; eigentlich Theodor Ludwig Wiesengrund

11Adorno klagte 1969 angesichts der Störung seines Unterrichts: „Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, daß Leute es mit Molotow-Cocktails [- also durch mit brennbarer Flüssigkeit gefüllten Flaschen -] verwirklichen wollen.“ Dann rief er die Polizei, offenbar nicht eingedenk der präfaschistischen Geneigtheit des autoritären Charakters.

12geb. 1940, gest. 1967; er wurde in den Hinterkopf geschossen von einen West-Berliner Polizisten, der für die Ost-Berliner Staatssicherheit arbeitete, wie sich 2009 herausstellte.

13Von Adorno wurde die Frage gestellt, „ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“, und er meinte, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch.“

14geb. 1906, gest. 1945

15geb. 1884, gest. 1976

16„Auferstehung. in: Dein Schweigen – meine Stimme. Gedichte (1962)“

17„Ein Leben nach dem Tode. in: Dein Schweigen – meine Stimme. Gedichte (1962)“

18„Von unseren Kindern. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

19„Von der Gotteserfahrung. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

20„Vom Wandern in der Tiefe. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

21Der Begriff „Kosmos“ ist in diesem Zusammenhang irreführend, da er, der das Chaos ausschließt, bei Kaschnitz eine Gesamtheit aus Kosmos und Chaos beschreiben soll.

22„Von der Natur. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

23„Von der Gotteserfahrung. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

24„Vom Wandern in der Tiefe. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

25„Von der Natur. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

26„Von unserer Krankheit. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

27„Vom Ich. in: Menschen und Dinge 1945 (1946)“

28„Lange Schatten (1960)“

291965 erschienen die Namen beider zusammen u.a. mit denen Hans Werner Richters und verschiedener Autoren der „Gruppe 47“ in einem „Aufruf für eine neue Regierung“, nämlich einer sozialdemokratischen.

30Die Autorin nennt das „Einbrechen“ der kindlichen Schlittschuhläuferin ins Eis zwar ausdrücklich „kein lebensgefährliches“, doch damit will sie offenbar nur die fehlende Hilfsbereitschaft der Erzählerin rechtfertigen.

6 Kommentare zu „Auf dem ungeordneten Rückzug“

  • Die Kollektivschuldbehauptung scheint für sehr viele Deutsche identitätsstiftend zu sein. Man verteidigt sie vehement, modifiziert sie oder lehnt sie entschieden ab – aber nie geht es ohne sie. Merkwürdig.

  • virOblationis:

    Die Kollektivschuldbehauptung ist m.E. mit einem Gift zu vergleichen, welches – bildlich gesprochen – das zentrale Nervensystem jedes Volkskörpers lähmt. Darum läßt es sich nicht ignorieren, sondern es muß, wenn es aufgenommen worden ist, dafür gesorgt werden, daß es wieder ausgeleitet wird.
    Wegen der tiefgreifenden Wirkung des Giftes werden diejenigen, die seine Wirkung befürworten, sich mit allem Nachdruch dafür einsetzen, daß es nicht ausgeschieden wird.

  • @vir Oblationis

    Wäre es dann nicht sinnvoller, man begänne, sich gegen das Gift zu immunisieren bzw. Resistenzien aufzubauen, weil die Vergifter die Ausscheidung heftiger bekämpfen- um dein  metaphysisches Bild aufzugreifen.

  • virOblationis:

    @ Judith
    Beides, denke ich: Einerseits ausleiten und andererseits sich gegen eine erneute Aufnahme schützen.

  • Die Charakterskizze der Autorin Marie Luise Josephine Freiin von Holzing Berstett bestätigt erneut, dass es für ein Volk katastrophal ist, wenn seine Künstler, Autoren, Journalisten, Politiker, Historiker, u.ä. ihre ganz persönliche seelische Deformiertheit in den Rang einer – für alle verbindlichen – Wahrheit heben dürfen.

    Wenn Freiin von Holzing Berstett meint, Schuld auf sich geladen zu haben, so ist das alleine ihre Sache und sie muss es mit ihrem Gewissen ausmachen – aus persönlichem Versagen aber ein ganzes Volk zu verdammen, kann nur einer deformierten Seele einfallen.

  • @vir Oblationis

    Da hast du wohl Recht. Schaue ich mir den Niedergang der Deutschen an, kommt es mir wie ein Wettlauf mit der Zeit vor.

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