Inhaltsverzeichnis

Deutsche Kollektivschuld in der Sicht von Weizsäckers bis Walsers I

Am 5. Mai 1985, dem Sonntag Cantate jenes Jahres, kam es zu einer letzten offiziellen Äußerung eines eigenständigen deutschen Geschichtsbewußtseins, die nur wenige Tage später nicht mehr möglich gewesen wäre. Bundeskanzler Helmut Kohl (1982 – 1998) legte als Repräsentant eines im Kriege bezwungenen Volkes gemeinsam mit dem Repräsentanten der Siegermächte, US-Präsident Ronald Reagan (1981 – 1989), als Zeichen der Versöhnung Kränze auf einem Soldatenfriedhof nieder, der Gräber von Gefallenen beider Seiten barg.

Nur drei Tage darauf veränderte die Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (1984 – 1994) zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes die geistesgeschichtliche Situation in Deutschland grundlegend. Zwar waren schon seit 1945 Kollektivschuldvorwürfe erhoben worden, doch fanden diese bis dahin noch keine Anerkennung von Seiten der Spitze der politischen Klasse. Bundeskanzler Helmut Schmidt (1974 – 1982) von der SPD, der Vorgänger Kohls, war Oberleutnant der Wehrmacht gewesen und Bundespräsident Karl Carstens (1979 – 1984), CDU-Mitglied wie von Weizsäcker, Leutnant sowie außerdem Mitglied in SA und NSDAP. Kohl und von Weizsäcker hatten eine ganz anders geartete Biographie: Kohl war 1945 noch Schüler und von Weizsäcker zwar Hauptmann, hatte aber Kontakte zum Widerstand gehabt und dürfte kurz vor Kriegsende desertiert sein, wenn er dies auch später bestritt: Während andere bis zum Letzten aushalten mußten, sei er wegen einer leichten Verwundung, einer „Schramme“ nicht näher bekannter Art, abtransportiert und anschließend zur Genesung nach Lindau am Bodensee heimgeschickt worden, wo ihn das Kriegsende überraschte. Jedenfalls konnten beide, Kohl und von Weizsäcker, ohne sich selbst eigentlich davon betroffen zu sehen, der Tätergeneration eine Kollektivschuld zuschreiben, der eine als Nachgeborener, der andere als – mehr oder weniger entschiedener – Gegner des NS-Systems, zumindest zu der Zeit, als dessen Zusammenbruch nahte.

Am 8. Mai 1985 hielt von Weizsäcker seine Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes vor dem Bundestag. Darin brachte er als vorgeblicher Angehöriger der Tätergeneration sein Schuldeingeständnis vor, das alle einschloß; Nachgeborene wie Kohl konnten dem nichts entgegensetzen, und die Angehörigen der Tätergeneration waren einerseits nicht mehr allzu zahlreich und hätten sich andererseits als Uneinsichtige, ewig Gestrige, Verstockte bloßgestellt, hätten sie dem so ehrlich sich bekennenden von Weizsäcker widersprochen. In den beiden entscheidenden Passagen seiner Rede wird erstens die maßlose Schuld der Tätergeneration konstatiert und zweitens festgestellt, welche Konsequenzen dies für die Nachgeborenen hat.

Maßlos ist die Schuld, weil im Unterschied zu aller übrigen Geschichte der „Völkermord an den Juden…beispiellos“ gewesen ist; mit dieser Aussage entschied von Weizsäcker bereits 1985 über den Ausgang des erst im Jahr darauf offen ausgebrochenen Historikerstreits (1986 – 1987) über die Einmaligkeit des Holocaust. – In seiner Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes bekannte sich von Weizsäcker zwar dazu, daß es nur individuelle Schuld gebe, doch sei jeder Angehörige der Tätergeneration eben darum schuldig, weil jeder zumindest Mitwisser war. „Es gibt [keine Unschuld, sondern nur] entdeckte und verborgen gebliebene Schuld“. Wer dies leugnet, „frage sich heute im Stillen selbst nach seiner Verstrickung.“ Die deutsche Kollektivschuld besteht demnach auf Grund der Schuldigkeit jedes einzelnen. – Der Mensch bleibt stets Sünder, stets schuldig und verdammenswert; man bemerkt von Weizsäckers gedankliche Verwurzelung in lutherisch-melanchthonischer Theologie.

Eine solche wurde schon im „Stuttgarter Schuldbekenntnis (1945)“ verdiesseitigt und auf die Deutschen übertragen: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“ Damit wird ja der dies öffentlich erklärende Rat der EKD nicht nur sich selbst gemeint haben; auch der einflußreiche, calvinistische Theologe Karl Barth (geb. 1886, gest. 1968) aus der Schweiz rief die Deutschen angesichts ihrer verfehlten Geschichte zur Umkehr auf („Ein Wort an die Deutschen. Ein Vortrag, gehalten auf Einladung des württembergischen Ministeriums des Innern im Württembergischen Staatstheater am 2. November 1945 (1946)“). Zwanzig Jahre erschien die sog Ostdenkschrift der EKD („Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. Eine Denkschrift (1965)), in der die deutsche Kollektivschuld ausdrücklich festgestellt wird: „Dabei hatte das deutsche Volk (sc. die Tätergeneration) schwere politische und moralische Schuld gegenüber seinen Nachbarn auf sich geladen. Die den Deutschen angetanen Unrechtstaten können nicht aus dem Zusammenhang mit der politischen und moralischen Verirrung herausgelöst werden, in die sich das deutsche Volk vom Nationalsozialismus hat führen lassen.“ („I. Umfang und Zusammenhänge der Probleme“) Später in demselben Text referiert man die Position eines zwei Jahre älteren Thesenpapiers, das die Kollektivschuld auf die Nachgeborenen ausgedehnt sieht und in dieser Hinsicht von der Ostdenkschrift nicht kritisiert wird: „Danach verlangen die Unrechtstaten der nationalsozialistischen Herrschaft von der Schuld- und Haftungsgemeinschaft des deutschen Volkes (sc. also der Gemeinschaft von Tätern und Nachgeborenen), daß es sich zur Wiedergutmachung des den östlichen Nachbarn angetanen Unrechts bereitfindet und darin die Glaubwürdigkeit seiner Umkehr unter Beweis stellt.“ („V. Theologische und ethische Erwägungen“) Den Ausdruck „Haftung“ in bezug auf die Nachgeborenen übernahm von Weizsäcker, der als Präsident des Evangelischen Kirchentages (1964 – 1970) an der Formulierung der Ostdenksachrift mitgewirkt hatte, in seine Rede zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes vor dem Bundestag.

Darin befaßt sich von Weizsäcker auch mit der Frage, in welcher Weise von der Kollektivschuld der Tätergeneration die Nachgeborenen betroffen sind. Wenn Schuld individuell ist, müßten diese ja eigentlich davon frei sein – aber ganz im Gegenteil: Sie werden davon erfaßt. Die Schuldlast der Tätergeneration ist nämlich ihre „schwere Erbschaft“. Die Nachgeborenen sind von den „Folgen [der beispiellosen Untaten] betroffen und [werden] für sie in Haftung genommen.“ Als Erben „müssen [sie] die Vergangenheit annehmen“, d.h. offenbar, sie sich zu eigen machen. – Wie soll dies möglich sein, wenn Schuld doch individuell erworben wird? Nur dadurch, daß die Nachgeborenen den Angehörigen der Tätergeneration vollkommen gleichen und dadurch ebenso schuldig geworden wären, wenn nicht veränderte geschichtliche Rahmenbedingungen sie davor bewahrt hätten. Deshalb sind die Nachgeborenen potentiell ebenso schuldig wie die, bei denen sich die Schuld tatsächlich manifestiert hat.

Dies kann auf zwei verschiedene Weisen interpretiert werden, einerseits in strikterem, andererseits in milderem Sinne. Die erstere der beiden Möglichkeit faßt die Deutschen als Angehörige eines unverbesserlichen, immer gleichen Tätervolkes auf und beklagt dies, ohne dadurch irgendetwas verändern zu können. Die mildere Deutung hingegen betrachtet die Nachgeborenen zwar als ebenfalls potentiell schuldig, sieht aber die Möglichkeit gegeben, daß sie sich durch Sinneswandel davon abwenden und so vor tatsächlichem Schuldigwerden bewahrt bleiben. Die striktere Deutung verneint dies, sieht die potentielle Schuld des deutschen Tätervolkes als ein Verhängnis und ist davon überzeugt, daß nur aufzuzeigen bleibt, wie sich die potentielle Schuld bei jeder passenden Möglichkeit zur tatsächlichen aktualisiert.

3 Kommentare zu „Deutsche Kollektivschuld in der Sicht von Weizsäckers bis Walsers I“

  • Peter_Gast:

    Bisher habe ich persönlich mich noch mit diesem Thema auseinandergesetzt, mich über die Kollektivschuldzuweisung aufgeregt, darunter gelitten. Damit sollte jetzt Schluß sein. Wenn ich in Diskussionen verwickelt werde, oder dieses Argument als moralische Daumenschraube verwendet wird, weise ich diesen Schwachsinn einfach brüsk von mir. Stelle klar, dass ich das als Zumutung und Beleidigung empfinde. Bisher habe ich die Erfahrung gemacht, dass dies bei weitem effektiver ist, als Gegenargumente zu bringen. Das ist übrigens die linke Taktik. Moral statt Argumente. Persönliche Würde statt rechter Gesinnung.

  • Georg Mogel:

    Denn was immer auf Erden besteht,
    besteht durch Ehre und Treue.
    Wer heute die alte Pflicht verrät,
    verrät auch Morgen die Neue.

    Adalbert Stifter
    (1805-1868)
                                                                         
     
    Wann kommen die Deutschen runter von der Couch? Diese nach einer bedingungslosen Kapitulation vor nicht weniger „schuldigen“ Feinden,  tief verunsicherte, neurotisierte Nation voller pathologischer Reflexe, die  65 Jahre nach Kriegsende  von den ehemaligen Feinden fortwährend zur Ader gelassen wird, um an dem sprichwörtlichen Fleiß und dem Talent der Deutschen teilzuhaben, hat allen Grund, zu einem normalen geschichlichen Selbstbewußtsein zurückzukehren. Von den „Eliten“ wird ein  krankhafter „Schuldstolz“ mit Fixierung auf 12 Jahre deutscher Vergangenheit und „Bewältigung“ derselben gepredigt. Alles und jedes wird damit eingefärbt. Darüber haben die jungen Deutschen ihre mehr als tausendjährige Geschichte vergessen und nur die Manifestation unserer Schande soll über alle Zeiten hindurch Bestand haben. Daß eine Nation mit dieser historisch einzigartigen  negativen Bewertung der eigenen Geschiche zum Untergang verurteilt ist, braucht nicht begründet zu werden. Die absichtsvolle Vernichtung dieser großen Nation in der Mitte Europas wurde mit teuflischer Bösartigkeit und Haß den Deutschen selbst übertragen und diese machen es besser, als es die erklärten äußeren Feinde der Deutschen je könnten.
    Aber das Maß der alltäglichen Erniedrigung und Plünderung ist übervoll. Vergeßt den perniziösen Mythos der einzigartigen Schlechtigkeit und Schuld des eigenen Volkes und verweigert den Predigern des Selbsthasses die Gefolgschaft.  Ein Europa, mit diesen stigmatisierten Deutschen in seiner Mitte, kann nicht gelingen. Diese pathologisierten, unmündig gehaltenen und am Nasenring geführten  Deutschen begründen -zurecht- ein tiefes Mißtrauen bei den Nachbarn, das nur durch weitere „Einhegung“ einigermaßen beruhigt werden kann. Darauf ruht kein Segen.

  • Wie kann sich so ein Mensch dann „herablassen“dem deutschen Volk als erster Repräsentant vorzustehen?Die,seine Unwürdigkeit dazu,resultiert aus seinem Lebenslauf.

Kommentieren