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Deutsche Kollektivschuld in der Sicht von Weizsäckers bis Walsers II

Es gab nach der Weizsäckerrede von 1985 viele Äußerungen, die der strikteren Interpretation folgten; bekannt wurde die aus einer Inaugural-Dissertation hervorgegangene Publikation des jüdisch-us-amerikanischen Soziologen und Politologen Daniel Goldhagen (geb. 1959), „Hitler‘s willing Executioners (1996)“, die 1996 unter dem Titel „Hitlers willige Vollstrecker“ auf deutsch erschien. Die striktere Interpretation wurde in wissenschaftlicher Diskussion höchstens ansatzweise überwunden. Den Todesstoß versetzte ihr ein deutscher Schriftsteller.

1998 erhielt aus dem schwäbischen Wasserburg am Bodensee stammende Autor Martin Walser (geb. 1927) den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, und anläßlich der Verleihung hielt er am 11. Oktober desselben Jahres eine Rede in der Frankfurter Paulskirche. Darin sagte er: „Jeder kennt unsere geschichtliche Last, die unvergängliche Schande…“ und „Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum …“ Doch im selben Atemzug erledigte er die strikte Interpretation, indem er die Rede vom unverbesserlichen Tätervolk der Lächerlichkeit preisgab: „Warum werde ich…nicht mobilisiert: ‚Wenn die sympathisierende Bevölkerung vor brennenden Asylantenheimen Würstchenbuden aufstellt …‘ Das muß man sich vorstellen: die Bevölkerung sympathisiert mit denen, die Asylantenheime angezündet haben, und stellt deshalb Würstchenbuden vor die brennenden Asylantenheime, um auch noch Geschäfte zu machen. Und ich muß zugeben, daß ich mir das, wenn ich es nicht in der intellektuell maßgeblichen Wochenzeitung und unter einem verehrungswürdigen [Autoren-]Namen läse, nicht vorstellen könnte.“

Wenn das Verhalten eines unverbesserlichen Tätervolkes nicht veränderbar ist, was läßt sich angesichts dessen tun, als diese Tatsache zu beklagen? Nun, man kann als Betroffener ein schlechtes Gewissen haben. Aber ein solches taugt nicht zu Staatsakten. „Öffentliche Gewissensakte sind…in der Gefahr symbolisch zu werden. Und nichts ist dem Gewissen fremder als Symbolik, wie gut sie auch gemeint sei.“ Das Gewissen „ist nicht repräsentierbar.“ Man kann es auch nicht einfordern.

Walser nahm zur milderen Interpretation ebenfalls Stellung. Sie gesteht den Nachgeborenen die Möglichkeit der Abwendung von der Vergangenheit zu. Gerade dadurch läßt sie sich aber auch zur Durchsetzung politischer Forderungen einsetzen. Doch dies steht in der Gefahr einer Abnutzung, wenn es zu häufig geschieht: „Auschwitz eignet sich nicht dafür, Drohroutine zu werden, jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule oder auch nur Pflichtübung.“ – Daraus entstand das Wort von der „Auswitzkeule.“

Walser gibt zu bedenken, „daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessendürfen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken. Immer guten Zwecken, ehrenwerten. Aber doch Instrumentalisierung. Jemand findet die Art, wie wir die Folgen der deutschen Teilung überwinden wollen, nicht gut und sagt, so ermöglichten wir ein neues Auschwitz.“ – Mit diesem Beispiel bezog sich Walser offenbar auf den Schriftsteller Günter Grass (geb. 1927), der bei einer Rede in der „Evangelischen Akademie Tutzing“ im Februar 1990 vom „deutschen Einheitsstaat“ gesagt hatte, er habe „Auschwitz“ als „Ort des Schreckens“ ermöglicht, und dies „schließt“ die Vereinigung von BRD und DDR „aus“. Zugleich plädierte Grass in seiner Frankfurter Poetik-Vorlesung desselben Jahres, „Schreiben nach Auschwitz“, für die mildere Interpretation, denn er sprach in bezug auf die Nachgeborenen von „nicht…unmittelbarer Schuld, aber doch von anhaltender Verantwortung“. Weiter hieß es: dort „…das meine ich damit, wenn ich sage, die Verantwortung für dieses Verbrechen gehört zur Nation.“ Grass sieht sich als Angehörigen der Tätergeneration an, dem nur das „Schuldgefühl als Schande“ bleibt, wie er in einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 12. August 2006 sagte. Die Nachgeborenen seien zwar „ohne jede Schuld“, so Grass gegenüber „Spiegel-Online“ am 10. Oktober 2002, übernähmen aber dennoch das Erbe der Tätergeneration „und stehen [darum] dennoch in der Verantwortung, dass sich so etwas in Deutschland, aber auch nicht mal ansatzweise wiederholt.“ Die Nachgeborenen haben sich von der Vergangenheit abzuwenden. Bleibt dies aus, droht sich ihre potentielle Schuld zur tatsächlichen zu aktualisieren. Ihnen bleibt die Distanzierung von ihrer eigenen Geschichte aufgegeben.

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Der Abschied von der strikteren Interpretation nach Walseres Rede in der Paulskirche stieß auch auf Widerstand. Vor allem der damalige Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignaz Bubis (1992 – 1999), der im Anschluß an Walsers Rede den Applaus verweigert hatte, zieh den Schriftsteller bald darauf der „geistige[n] Brandstiftung“ und wiederholte dies am 9. November 1998 in einer Ansprache zum Gedenken an die Reichskristallnacht. Walser und Bubis einigten sich in einem daraufhin von der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vermittelten Versöhnungsgespräch am 14. Dezember darauf, daß ihre Kontroverse auf Mißverständnissen beruht hätte. Schon im Sommer 1999 verstarb Ignaz Bubis, und so fand die Debatte ihren endgültigen Schluß.

Die mildere Interpretation setzte sich allgemein durch. Sie ermöglichte im Gegensatz zur strikteren öffentlichte Gedenkfeiern, denn wenn das Gewissen des einzelnen sich auch nicht öffentlich darstellen läßt, bei der Abwendung von der Vergangenheit ist dies sehr wohl möglich. Immer wieder läßt sich der Akt der Lossagung vollziehen, auch wenn Walser warnte: „Was durch Ritualisierung zustande kommt, ist von der Qualität des Lippengebets.“ Schließlich gehört die Abrenuntiation, die Lossagung vom Bösen, zu jeder Taufe und kann durchaus mit ehrlicher innerlicher Beteiligung ausgesprochen werden. Analog dazu läßt sich eine rituelle Abrenuntiation auch als Staatsakt durchführen. So verkündete Bundespräsident Christian Wulff (ab 2010) anläßlich des von seinem Vorgänger Roman Herzog (1994 – 1999) eingeführten Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 2011 in Auschwitz: „Der Name Auschwitz steht wie kein anderer für die Verbrechen Deutscher an Millionen von Menschen. … Wir tragen hieraus eine historische Verantwortung, die unabhängig ist von individueller Schuld. … Wir müssen die Erinnerung ewig wach halten“, denn „das ist der besondere Auftrag, der sich an die Deutschen richtet, hierfür ewig einzustehen.“

Die mildere Interpretation ermöglichte aber auch erst Ereignisse wie die Teilnahme Bundeskanzler Gerhard Schröders (1998 – 2005) an der Sechzigjahrfeier der erfolgreichen Invasion in der Normandie am Sonntag Trinitatis, dem 6. Juni 2004, und die von Bundeskanzlerin Angela Merkel (ab 2005) an der Parade anläßlich des fünfundsechzigsten Jahrestages des Sieges über Deutschland am Sonntag Rogate, dem 9. Mai 2010, auf dem Roten Platz in Moskau; denn auch in solchem Rahmen konnte die Abwendung von der Vergangenheit ihren Ausdruck finden. Angesichts des bis zum Mittwoch nach Cantate 1985 in Deutschland noch vorhandenen eigenständigen Geschichtsbewußtseins wäre dies undenkbar gewesen.

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Ebenso wie den Nachgeborenen gesteht die mildere Interpretation auch einigen Angehörigen der Tätergeneration zu, durch Lossagung bzw. Abwendung von dem, was die übrigen taten, nicht schuldig geworden zu sein. Insbesondere gilt dies neben denen, die ins Exil gingen, für die Angehörigen des Widerstands. Auch wenn politisch Korrekte darauf verweisen mögen, daß die Widerstandskämpfer mitunter keine lupenrein antifaschistische Gesinnung aufzuweisen haben, so gelten sie doch als „Repräsentanten eines besseren Deutschland“. – Gäbe es noch ein eigenständiges Geschichtsbewußtsein, müßte man sie vielmehr „bessere Repräsentanten Deutschlands“ nennen, bessere nämlich als die damals herrschenden, von denen viele in höchstem Maße schuldig wurden.

5 Kommentare zu „Deutsche Kollektivschuld in der Sicht von Weizsäckers bis Walsers II“

  • virOblationis:

    Wie werden wir eine verfehlte Sicht der Geschichte, die – wie ich meine – als eine Variante verdiesseitigter protestantischer Religiosität die Seelen vergiftet, wieder los? Früher hätte es zwei Möglichkeiten gegeben:
    a) Zuwendung zur katholischen Kirche
    b) Zuwendung zur Stoa
    Beide Möglichkeiten sind in der Vergangenheit zwar oft in Anspruch genommen worden, stehen heute aber kaum mehr offen, denn
    a) unterscheidet sich die katholische Amtskirche in Deutschland nicht mehr deutlich erkennbar von den protestantischen Landeskirchen, und
    b) fehlt durch den Rückgang der altsprachlichen Gymnasien der Zugang zu stoischem Gedankengut, das so viele früher im Lateinunterricht kennenlernten (Cicero, Seneca). Deutschlands „unmoderne“ Geistesgeschichte während der Moderne, gerade auch das Preußentum, ist m.E. ohne Stoa undenkbar.

  • @Vir

    c. Zeit.

    Eine Zivil-Religion, die starke Priester und Prediger hat, aber – im Verhältnis dazu – wenig echte Anhänger, wird m.E. von selbst untergehen.

  • Georg Mogel:

     
    „Jedes Volk hat seine ihm eigentümlichen Kräfte und in jedem legen Millionen von Menschen ihre Gedanken und Gefühle in der Sprache nieder. Die Sprache ist ein unerhörtes geistiges Dokument derjenigen Nation die sie spricht. Sie ist eine echte Konfession, eine Beichtschaft, die sich hinkniet in den Beichtstuhl der Welt. Darum gibt es keine größere Gefahr für ein Volk als diejenige seine Sprache nicht zu würdigen. Ein Volk geht nicht zugrunde durch verlorene Kriege sondern dadurch, dass es von innen her entkräftet, seine Sprache, die Hochsprache seiner Dichter und Denker aufgibt, Hochverrat an sich selbst begeht.“
     
    Josef Weinheber
    1892-1945

  • Georg Mogel:

    @ virOblationis  2.3. 11
    Das metaphysische Bedürfnis ist eine Reaktion auf die Sinnwidrigkeit der Welt. Ihre resignative Haltung kann ich nicht ganz teilen. Sowohl der christliche Glaube in Form des bestandhaltigen Katholizismus  -über häretische Sumpfblüten oder gar den heruntergekommenen Protestantismus der EKD nicht zu reden-,  als auch die Philosophie stehen dem Menschen unserer Tage hilfreich zu Gebote.
    Vernunft ist stets bei wen´gen nur gewesen.

  • […] in unserer Alpträume Könnten Sie bitte Rücknahme dieses Geschenk der Gefühle Deutsche Kollektivschuld in der Sicht von Weizsäckers bis Walsers IIGrass sieht sich als Angehörigen der Tätergeneration an dem nur das Schuldgefühl als […]

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