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Nach der Frankfurter Schule 1e: Habermas (letzter Teil)

von virOblationis

„…mir wird ja von meinen marxistischen Freunden nicht ganz ohne Grund vorgeworfen, ein Radikalliberaler zu sein.“* So Habermas. – Auch wenn er auf Marx dem Buchstaben nach immer wieder verweist, ist er von dessen Geist doch weit entfernt: Marx wäre nie darauf verfallen, den „Legitimationsproblemen im Spätkapitalismus (1973)“ ein Buch zu widmen, sondern hätte sich ganz darauf konzentriert, Versuche der Legitimierung einer Klassengesellschaft zu entlarven. An die Stelle des Proletariates bei Marx tritt die Masse von Arbeitnehmern, die sich in keinem unversöhnlichem Gegensatz zum Kapital befindet, weshalb der Staat, dem Habermas eine so große Eigenständigkeit zumißt, daß er nicht etwa als ausführendes Organ der Interessen der herrschenden Klasse erscheint, sich genötigt sieht, um seine Legitimatierung im Ansehen der Öffentlichkeit zu werben. Marx hingegen schreibt: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.“**

* Interview mit der New Left Review 151 vom Mai 1985

** Kommunistisches Manifest (1848), I. Bourgeois und Proletarier

Von Habermas‘ mangelndem Interesse an Ökonomie war bereits im Zusammenhang mit „Erkenntnis und Interesse (1968)“ die Rede. Auch die „Theorie des kommunikativen Handelns“ stellt die Ökonomie samt staatlicher Verwaltung nicht dar, sondern spricht sie nur an, um die Lebenswelt davon abzugrenzen. – Der geschäftliche Bereich [wie der des Vaters] blieb Jürgen Habermas – im Gegensatz zum Familienleben im [mütterlich geführten] Haushalt – fremd. Die Arbeitswelt stellt für [den erwachsenen Jürgen] Habermas aber insofern kein Problem dar, als seine Versorgung mit materiellen Gütern dauernd gewährleistet ist: „Geben wir doch unserem marxistischen Herzen einen Stoß: er war ganz erfolgreich, der Kapitalismus, wenigstens im Bereich der materiellen Reproduktion, und ist es immer noch.“* Dem Recht im Staate kommt die Aufgabe zu, dem zweckrationalen Handeln und damit der Arbeitswelt Grenzen zu setzen, um die Lebenswelt davon freizuhalten.**

* Dialektik der Rationalisierung IV. Krisentheorien und soziale Bewegungen, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

** s. Theorie des kommunikativen Handelns II. Max Webers Theorie der Rationalisierung 4. Rationalisierung des Rechts und Gegenwartsdiagnose: Sinnverlust und Freiheitsverlust (2) Zweideutige Rationalisierung des Rechts (a) Recht als Verkörperung moralisch-praktischer Rationalität

Dem entspricht Habermas‘ Verständnis von Sozialismus. Er bildet den Rahmen für „emanzipierte Lebensformen“*, ohne die Produktionsverhältnisse anzutasten. Es kommt Habermas nur darauf an, daß die Ökonomie den Diskurs innerhalb der Lebenswelt zufrieden läßt: „Man würde auch im Sozialismus mit einem Wirtschaftssystem leben müssen, das genauso operiert wie ein ausdifferenziertes, aus dem politischen Zusammenhang ausdifferenziertes Teilsystem eben funktioniert, das aber dennoch nicht diese objektive, hinter dem Rücken durchgreifende destruktive Gewalt für kommunikativ strukturierte Lebensverhältnisse entwickelt.“**

* Interview mit der New Left Review 151 vom Mai 1985

** Interview mit Amsterdamer Zeitschrift „Intermediair“ (vom 29. Juni 1979)

Etwas flapsig formuliert: Habermas‘ Sozialismus mit kapitalistischer Wirtschaft besteht darin, daß er seine Kaufentscheidungen selbständig treffen und ansonsten ungestört seinem Diskurs nachgehen kann. – Durch Habermas‘ „kritische Fortbildung marxistischer Grundannahmen“* kommt es also zu einer Art ent-ökonomisiertem Marxismus, der nicht mehr auf dem Irrtum beruht, es bedürfe einer grundlegenden Umgestaltung der Produktionsverhältnisse, durch die „die unter dem Diktat des Wertgesetzes gefangengehaltene Lebenswelt ihrer Spontaneität zurückgegeben“** wird.

* Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx Vorbemerkung

** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 2. Marx und die These der inneren Kolonialisierung (1) Realabstraktion oder die Versachlichung sozial-integrierter Handlungszusammenhänge (b) Einige Schwächen der Werttheorie

Der Kapitalismus ist nach Habermas erfolgreich „im Bereich der materiellen Reproduktion“, doch „hat er von Anbeginn einen enormen Raubbau mit (sic!) traditionellen Lebensformen betrieben.“* Diese will Habermas nicht etwa wiederherstellen oder, was noch übrig ist, erhalten, sondern es geht einzig darum, in welcher Weise sie weiter verändert werden: „Nun, ich meine sicher nicht, daß Versuche, alternative Lebensstile zu entwickeln, auf die Zerstörung von Lebensformen [bzw. der Lebenswelt]** hinauslaufen.“***

* Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

** Die auf das Zitat folgenden Sätze des Textes zeigen, daß mit Lebensformen tatsächlich die Lebenswelt gemeint ist.

*** Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

Die Lebenswelt, von der Habermas spricht, bleibt also bestehen, selbst wenn sie gänzlich verändert wird; sie erfährt eine „Transformation“*. Daher haben selbst die „Prozesse der Entwurzelung von plebejischen Unterschichten aus einer traditionellen Welt“** deren „Lebenswelt“ offenbar nicht zerstört, insofern „kommunikative Organisationsformen“*** (anderswo?) erhalten geblieben sind. Erst wenn der Kapitalismus in Bereiche jenseits der materiellen Produktion eingreift, die durch „das Medium des kommunikativen Handelns zusammengehalten werden“****, dann ist die Lebenswelt bedroht, und zwar „in ihrer kommunikativen Infrastruktur“*****. – Ein solcher Gedankengang läßt sich wohl nur nachvollziehen, wenn man voraussetzt, daß Habermas die im Zuge der Industrialisierung vorangeschrittene Zerstörung aller geschichtlich gewachsenen Lebensformen ohne Rücksicht auf deren kommunikative Infrastrukturen begrüßt, während er es sich im eigenen privaten Dasein verbittet, durch die Arbeitswelt inkommodiert zu werden.

* Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

** ebd.

*** ebd.

*** ebd.

***** ebd.

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Habermas interpretiert Geld und Macht im Anschluß an Talcott Parsons* als zwei Steuerungsmedien, die ihre Funktion innerhalb von Wirtschaft und Staat zu erfüllen haben.** Geld [in der Wirtschaft] und Macht [im Staat] vermögen die Sprache – abgesehen „von den Formen generalisierter Kommunikation“ – „als Mechanismus der Handlungskoordination“*** zu ersetzen; „…Geld und Macht [sind]…Kommunikationsmedien…, die…Sprache substituieren…“**** Beide Subsysteme erfolgsorientierten Handelns werden durch diese entsprachlichten Steuerungsmedien ausdifferenziert. – Darüber hinaus vermögen die Medien Geld und Macht auf die Lebenswelt einzuwirken, was „eine Technisierung der Lebenswelt“***** zur Folge hat.

* geb. 1902, gest. 1979

** s. Theorie des kommunikativen Handelns VII. Talcott Parsons: Konstruktionsprobleme der Gesellschaftstheorie 2. Entfaltung der Systemtheorie (3) Die Theorie der Steuerungsmedien (c) Schwierigkeiten bei der Übertragung des Medienbegriffs auf Machtbeziehungen

*** Theorie des kommunikativen Handelns VII. Talcott Parsons: Konstruktionsprobleme der Gesellschaftstheorie 2. Entfaltung der Systemtheorie (3) Die Theorie der Steuerungsmedien (e) Parsons handlungstheoretische Begründung der Medien. Generalisierte Formen der Kommunikation vs. Steuerungsmedien

**** Theorie des kommunikativen Handelns IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung Vorüberlegung: Rationalisierung von Lebenswelten vs. wachsende Komplexität von Handlungssystemen – kursiv im Original

***** Theorie des kommunikativen Handelns VII. Talcott Parsons: Konstruktionsprobleme der Gesellschaftstheorie 2. Entfaltung der Systemtheorie (3) Die Theorie der Steuerungsmedien (e) Parsons handlungstheoretische Begründung der Medien. Generalisierte Formen der Kommunikation vs. Steuerungsmedien – kursiv im Original

Die Technisierung bzw. Mediatisierung der Lebenswelt stellt sich dar in Form von „Monetarisierung und Bürokratisierung“* des Lebens des Konsumenten und Staatsbürgers bzw. „Teilnehmers an Prozessen der öffentlichen Meinung[sbildung]“**. Es kommt durch das Übergreifen des Systems auf die Lebenswelt zu deren Beeinträchtigung, die Habermas als „Kolonialisierung“ bezeichnet. „Am Ende verdrängen systemische Mechanismen Formen der sozialen Integration auch in jenen Bereichen…, wo die symbolische Reproduktion der Lebenswelt auf dem Spiel steht. Dann nimmt die Mediatisierung der Lebenswelt die Gestalt der Kolonialisierung an.“***

* Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx I. Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne (3) Kolonialisierung der Lebenswelt (a) Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt in modernen Gesellschaften

** ebd.

*** Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt (6) Die Entkoppelung von System und Lebenswelt und eine Reformulierung der Verdinglichungsthese (b) Systematik der Verständigungsformen

Die Lebenswelt ist für Habermas das Primäre, nicht das [wirtschaftlich-politische] System. Der marxistischen Theorie von ökonomischer Basis und gesellschaftlichem Überbau erkennt Habermas Gültigkeit nur für das 19. Jahrhundert zu. – Habermas geht noch einen Schritt weiter: Er kehrt das Verhältnis von Überbau und Basis um. Danach erklärt Habermas die ökonomische Entwicklung zur Folge des Rationalisierungsprozesses innerhalb der Lebenswelt: Die „Komplexitätssteigerungen [des Systems] sind ihrerseits von der strukturellen Differenzierung der Lebenswelt abhängig. Und dieser Strukturwandel…gehorcht wiederum dem Eigensinn einer kommunikativen Rationalisierung.“* Der Rationalisierung der Lebenswelt entspricht also die Zunahme der Komplexität des Systems, wobei letztere Folge der ersteren ist.

* Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt (4) Die institutionelle Verankerung der Mechanismen systemischer Integration in der Lebenswelt

In bezug auf Technisierung bzw. Mediatisierung der Lebenswelt – als „Effekte [nach] einer Entkoppelung von System und Lebenswelt“* – spricht Habermas auch von „sozialpathologischen Formen einer inneren Kolonialisierung“**. Es existiere eine „Schwelle, an der die Mediatisierung der Lebenswelt in eine Kolonialisierung umschlägt“***. Dies geschieht, da „Monetarisierung und Bürokratisierung…die Grenzen der Normalität (zu) überschreiten, sobald sie die eigensinnig strukturierten Zufuhren[?] aus der Lebenswelt instrumentalisieren.“****

* Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 1. Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne (3) Kolonialisierung der Lebenswelt: Wiederaufnahme von Webers Zeitdiagnose – kursiv im Original

** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 1. Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne – kursiv im Original

*** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 1. Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne (3) Kolonialisierung der Lebenswelt: Wiederaufnahme von Webers Zeitdiagnose – kursiv im Original

**** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 1. Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne (3) Kolonialisierung der Lebenswelt: Wiederaufnahme von Webers Zeitdiagnose (a) Austauschbeziehungen zwischen System und Lebenswelt in modernen Gesellschaften

Habermas führt seine Kolonialisierungsthese auf Horkheimer zurück, wenn er diesem folgenden Gedanken zuschreibt: „Je mehr sich Ökonomie und Staat in eine Verkörperung kognitiv instrumenteller Rationalität verwandeln und auch andere Lebensbereiche ihren Imperativen unterwerfen, (…um so weniger finden Individuierungsprozesseeine Stütze im Bereich der…kulturellen Reproduktion.)“* – Mit der Kolonialisierung der Lebenswelt verliert der Konsument seine Unabhängigkeit bei Kaufentscheidungen, der Staatsbürger sieht sich der Verfügungsgewalt der Bürokratie ausgeliefert, und das Klima der Lebenswelt wird durch Leistungswillen vergiftet: „In dem Maße[,] wie das ökonomische System die Lebensform der privaten Haushalte und die Lebensführung von Konsumenten und Beschäftigten seinen Imperativen unterwirft, gewinnen Konsumismus und Besitzindividualismus, Leistungs- und Wettbewerbsmotive prägende Kraft.“**

* Theorie des kommunikativen Handelns IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung 1. Max Weber in der Tradition des westlichen Marxismus (2) Zur These vom Freiheitsverlust

** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 1. Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne (3) Kolonialisierung der Lebenswelt: Wiederaufnahme von Webers Zeitdiagnose (b) Vereinseitigte Stile der Lebensführung und bürokratische Austrocknung der politischen Öffentlichkeit – Komma fehlt im Original

Habermas hält – in bezug auf das „Basis-Überbau-Theorem“* – den Überbau für das Primäre und sieht dessen Beeinflussung durch die Basis als Kolonialisierung an. „Unter dem Gesichtspunkt der Rationalisierung…ist dasjenige, was für mich die Idee des Sozialismus konstituiert, die Möglichkeit, die kapitalistische Vereinseitigung des Rationalisierungsprozesses[, die in der Kolonialisierung zum Ausdruck kommt,] zu überwinden, [nämlich die] Vereinseitigung im Sinne des Dominantwerdens der kognitiv-instrumentellen Aspekte…“**

* Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt (6) Die Entkoppelung von System und Lebenswelt und eine Reformulierung der Verdinglichungsthese

** Interview mit Amsterdamer Zeitschrift „Intermediair“ (vom 29. Juni 1979)

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Mehrfach wurde bereits ein Rationalisierungsprozeß erwähnt, zuletzt im vorigen Absatz: Was hat es damit auf sich? – Auf den Neukantianer Max Weber, einen der Gründer der Soziologie in Deutschland, geht die Theorie einer allgemeinen Rationalisierung zurück. Sie geht von einem „universalen Rationalisierungsprozess(es)“* aus, der religiös-metaphysische Weltbilder entzaubert. „Der religiöse Glaube wird [schließlich] privatisiert. Mit der bürgerlichen Familie und einer dezentralisierten Gemeindereligiosität entsteht eine neue Intimsphäre, die sich in vertiefter Reflexions- und Gefühlskultur auslegt…“**, resumiert Habermas. – Webers Deutung mag insofern zutreffen, als die dem Menschen gegebene Vernunft überall wirksam sein kann; doch eine allein auf die Vernunft gegründete Weltdeutung, die Philosophie, wurde nur durch die antiken Griechen verwirklicht. Dem entsprechend räumt auch Weber ein, daß ausschließlich im Bereich der abendländischen Kultur [als Nachfahrin des griechisch-römischen Altertums] der von ihm beobachtete Rationalisierungsprozeß zur Moderne geführt hat. Offenbar deutet Weber die neuzeitliche Saecularisierung als Rationalisierung.

* Theorie des kommunikativen Handelns II. Max Webers Theorie der Rationalisierung Vorüberlegung: Der wissenschaftliche Kontext

** Theorie des kommunikativen Handelns IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung Vorüberlegung: Rationalisierung von Lebenswelten vs. wachsende Komplexität von Handlungssystemen

Die Rationalisierung von Wirtschaft und ihr komplementärem Staat läßt sich nach Habermas schon an der sich erhöhenden Effektivität erkennen; darin bringt sich die von Traditionen befreite, reinere Verwirklichung zweckrationalen Handelns zum Ausdruck. Max Weber schreibt dem Calvinismus einen wesentlichen Anteil an der Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu: Die Lehre zweifacher Praedestination – entweder zum Heil oder zur Verdammnis – führte dazu, daß nach Anzeichen der Erwählung durch Erfolg im irdischen Erwerbsleben gesucht wurde, was die wirtschaftliche Entwicklung beflügelte und daneben zu innerweltlicher Askese und einer alle Lebensbereiche erfassenden ratonalen Gesinnung führte. – Habermas knüpft daran an: Es habe sich eine kognitiv-instrumentelle Einstellung herausgebildet, die er auf den Bereich des [ökonomisch-politischen] Systems begrenzt sehen will. Den Schwerpunkt seines Interesses bildet die Rationalisierung innerhalb der Lebenswelt, vor allem die von der Religion losgelöste Moral. Dabei denkt Habermas freilich an die „Brüderlichkeitsethik“* der Wiedertäufer, weniger an die protestantische Ethik der Calvinisten, von der bei Max Weber die Rede ist.

* Theorie des kommunikativen Handelns II. Max Webers Theorie der Rationalisierung 3. Modernisierung als gesellschaftliche Rationalisierung (1) Die protestantische Berufsethik und das selbstdestruktive Muster der gesellschaftlichen Rationalisierung

Die „Theorie des kommunikativen Handelns“ ins Gesamt erinnert bildlich vorgestellt an den Zündapp Janus, ein ganz eigentümliches Automobil aus Habermas‘ Assistentenzeit, in dem die beiden Mitfahrer hinten mit dem Rücken zum Fahrer und zum Beifahrer saßen. System und Lebenswelt als die zwei einander gleichenden Hälften der Fahrgastkabine werden gemeinsam in Bewegung gesetzt durch die dem Fahrwerk entsprechende Rationalisierung. – Die beiden Mitfahrer verfügen zwar über einen eigenen Einstieg am hinteren Ende des Kleinwagens, der wie der vordere aussieht, aber wenn der Janus auch äußerlich den Eindruck der Gleichberechtigung beider Fahrgastkabinenhälften erweckt, so wird die Fahrtrichtung – trotz Mittelmotors – doch ausschließlich von der einen, der vorderen, bestimmt. So besteht auch in Habermas‘ Doppelkonstruktion Interesse eigentlich nur an der Lebenswelt; von dieser wird das System abgegrenzt und dessen Einmischung, die gewissermaßen von der anders ausgerichteten Rückbank her stattfindet, als Kolonialisierung disqualifiziert, während der Diskurs in bezug auf die Fahrtrichtung auf die Inhaber der beiden vorderen Sitze beschränkt bleibt.

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Habermas behauptet – ohne weitere Begründung – ein fortwährendes Voranschreiten der „kommunikativen Rationalisierung“ gemäß ihrem „Eigensinn“*, wobei Eigensinn wohl soviel wie innere Gesetzmäßigkeit bedeuten soll. Es heißt zur Begründung der vorgeblich „,fortschreitenden‘ Rationalisierung der Lebenswelt“** lediglich außerhalb der „Theorie des kommunikativen Handelns“ einmal: „…wenn nicht…in den letzten vierzig Jahren…bei allen Katastrophen doch auch ein Stück ,existierender Vernunft‘, wie Hegel gesagt hätte, wiederzuerkennen wäre…im Feminismus, in den Kulturrevolten, in ökologischen und pazifistischen Widerständen. Im Auge haben muß man auch die…Veränderungen in den Sozialisationsmustern, in den Wertorientierungen – z.B. …in der Revolutionierung der Geschlechterrollen, in einem veränderten subjektiven Stellenwert der Erwerbsarbeit usw.“***

* Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt (4) Die institutionelle Verankerung der Mechanismen systemischer Integration in der Lebenswelt

** Interview mit der New Left Review 151 vom Mai 1985

*** ebd.

Wenn der Prozeß der Rationalisierung unabhängig vom Wollen der Menschen voranschreitet, dann vermag das im Diskurs der sozialen Welt befindliche Subjekt sich dem höchstens kurzfristig zu entziehen, aber nie endgültig. Die Rationalisierung nimmt ihm – wie ein Naturgesetz – die Freiheit der Entscheidung, indem sie das Ziel bestimmt und jedes Subjekt darauf festlegt: Mit der Freiheit aber verliert der Mensch, was ihn zum eigenständigen Subjekt erhebt. Habermas opfert das – ohnehin im Kollektiv der Intersubjektivität gefangene – Subjekt dem Prozeß der Rationalisierung. – Um noch einmal auf den Zündapp Janus zurückzukommen: Dessen Fahrwerk ist bei Habermas durch seine Konstruktion auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet, und der im Diskurs befindliche Fahrzeuglenker kann mittels Steuerung nicht grundsätzlich davon abweichen. – Doch der Behauptung einer fortschreitenden Rationalisierung fehlt nicht nur die Begründung. Sie erscheint vollends fraglich, wenn Habermas unter Verweis auf Horkheimer „Widerstände“ erwähnt, „welche die subjektive Natur der Rationalisierung entgegensetzt.“* Doch wird dieser Gedanke von Habermas einfach nicht weiter verfolgt.

* Theorie des kommunikativen Handelns IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung 2. Die Kritik der instrumentellen vernunft (1) Theorie des Faschismus und der Massenkultur

Das Gegenstück zur Moderne bildet nach Habermas die „total integrierte(n) Gesellschaft“, in der die Religion den Zusammenhalt der Gesellschaft sichert und „Konflikte, die aus Machtbeziehungen und ökonomischen Interessen entstehen könnten“* unterdrückt. – „Stammesgesellschaften“ als „archaische(n) Gesellschaften“ kommen dem Idealbild der „total integrierten Gesellschaft“** am nächsten [und stehen somit an der Stelle der Urhorde Marcuses]. „In dem Maße[,] wie sich dann aber die Strukturen der Lebenswelt ausdifferenzieren, trennen sich auch die Mechanismen der systemischen und der sozialen Integration voneinander.“*** Es vollzieht sich eine „Entkoppelung von System und Lebenswelt“****. [Das System verselbständigt sich.] „In einem differenzierten Gesellschaftssystem schrumpft die Lebenswelt [vom Habermas‘schen System her betrachtet] zu einem Subsystem.“*****

* Theorie des kommunikativen Handelns V. Der Paradigmenwechsel bei Mead und Durkheim: Von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln 3. Die rationale Struktur der Versprachlichung (2) Die Logik dieses Formwandels, erklärt am fiktiven Grenzfall einer total integrierten Gesellschaft

** ebd.

*** Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt (2) Stammesgesellschaften als selbstgesteuerte Systeme – Komma fehlt im Original

**** Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt

***** Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt (4) Die institutionelle Verankerung der Mechanismen systemischer Integration in der Lebenswelt

Nach Habermas entstand der institutionelle Rahmen, der die Voraussetzung der Rationalisierung bildete, „im Gefolge von Reformation und Renaissance“*. Während des 18. Jahrhunderts ereigneten sich im Nordwesten Europas als der „,Speerspitze‘ der Moderne“ drei Revolutionen, eine industrielle, eine politische und eine pädagogische. Sie „trennen die frühe von der entfalteten Moderne“**. [Mit der Lösung der Bindung an die Tradition tritt Rationalität an die Stelle der Autorität, auch in der Erziehung.] „…ein von imperativen Mandaten der Kirche und der Familie entlastetes Bildungssystem macht…. formale Erziehung [möglich und damit]… die reflexive Brechung der symbolischen Reproduktion der Lebenswelt.“***

* Theorie des kommunikativen Handelns VII. Talcott Parsons: Konstruktionsprobleme der Gesellschaftstheorie 3. Theorie der Moderne Lebensweltrationalisierung und Steigerung der Systemkomplexität entdifferenziert

** ebd. – kursiv im Original

*** Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie (4) Funktion des verständigungsorientierten Handelns für die Reproduktion der Lebenswelt. Dimensionen der Lebensweltrationalisierung – kursiv im Original – Während das imperative Mandat sonst die Bindung eines Abgeordneten an Aufträge seiner Wähler bezeichnet, wird es hier verstanden als nicht kritisch zu hinterfragende erzieherische Anweisung.

„…eine Lebenswelt [kann] in dem Maße als rationalisiert angesehen werden, wie sie Interaktionen gestattet, die nicht über ein normativ zugeschriebenes Einverständnis, sondern – direkt oder indirekt – über eine kommunikativ erzielte Verständigung gesteuert werden.“* Wenn es in der Habermas‘schen „Intersubjektivität der Lebenswelt“ rational zugeht, bemüht man sich dort immer wieder neu um die „Erzielung eines Einverständnisses“.**

* Theorie des kommunikativen Handelns IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung Vorüberlegung: Rationalisierung von Lebenswelten vs. wachsende Komplexität von Handlungssystemen – kursiv im Original

** Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie (2) Der sozialphänomenologische Begriff der Lebenswelt im Lichte der Kommunikationstheorie

Zur Rationalisierung im besonderen und zur Theorie des kommunikativen Handelns im allgemeinen einige Verse Eugen Roths* als Kommentar:

„Ein Mensch, den wüst ein Unmensch quälte,

Der lang und breit ihm was erzählte,

Und der drauf, zu erfahren, zielte,

Was er, der Mensch, wohl davon hielte,

Sprach, kratzend sich am Unterkiefer:

,Ich glaub, die Dinge liegen tiefer!‘“

Bei Roth besteht zwar die Pointe des Gedichts** darin, daß der Mensch als Weiser gilt, obwohl er nie auch nur andeutet, worin das Tiefere besteht, doch im Fall der „Theorie des kommunikativen Handelns“ läßt sich dies durchaus angeben: Die Realität erschöpft sich nicht in Rationalität; wer nicht auf das Metaphysische verwiesen werden will, begnüge sich mit dem Irrationalen und dem nach Macht verlangenden Willen: Habermas erklärt, daß neben Lernbereitschaft auch die Kritikfähigkeit zur Rationalität gehöre,*** doch andererseits nimmt er selbst an einer Stelle des Werkes**** auch Bezug auf Marx‘ bekannte Wendung aus der „Einleitung (1844)“ der „Kritik der Hegel‘schen Rechtsphilosophie (1844/1927)“: „Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen…“

* geb. 1895, gest. 1976

** „Der Weise“, in: „Mensch und Unmensch (1948)“

*** Theorie des kommunikativen Handelns I. Einleitung 2. Einige Merkmale des mythischen und des modernen Weltverständnisses (3) Die englische Rationalitätsdebatte im Anschluß an P. Winch: Argumente für und gegen eine universalistische Position

**** Theorie des kommunikativen Handelns II. Max Webers Theorie der Rationalisierung Vorüberüberlegung: Der wissenschaftliche Kontext

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Habermas ist mit seinem Sieg im Historikerstreit zum Philosophen der alten BRD aufgestiegen, die aber nur noch kurze Zeit existierte. Zugleich hat Habermas, der gegen die Wiedervereinigung eintrat, wider Willen einen Beitrag zu ihrem Gelingen geleistet: Sein Erfolg im Historikerstreit schloß alle Ansichten jenseits des links-liberalen Lagers als potentiell faschistische aus dem wissenschaftlichen Diskurs aus. Dieses Muster konnte ab 1990 als Blaupause verwendet werden, um die innere Einheit der durch den real existierenden Sozialismus geprägten Bürger der DDR mit den vom westlichen Liberalismus der alten BRD bestimmten zu erreichen: Im Antifaschismus waren beide Seiten nunmehr auf einen Nenner zu bringen; was die Alliierten in West und Ost zur Anti-Hitler-Koalition verbunden hatte, bildete nun für deren geistige Erben im Rest Deutschlands vorübergehend eine nationale Notwendigkeit zur Erringung innerer Einheit. Dem entsprechend sieht die Gesamtheit der Parteien im Bundestag aus, zu denen auch eine sozialdemokratisierte SED unter neuem Namen gehört. Presse, Funk und Fernsehen weisen eine ebenso einheitliche Gestalt auf wie der Parteienverbund. Die gesamte Gesellschaft ist davon geprägt. Der Faschismus bildet die Sünde wider den Geist, und in seinem Vorfeld lauert der Nationalkonservatismus. – Nachdem die neue BRD auf solche Weise zusammengewachsen ist, wäre es an der Zeit, der gemeinsamen Identität weitere Aspekte hinzuzufügen, die den des „Kampfes gegen Rechts“ in den Hintergrund treten lassen. Mit der NSA*-Affäre (2013) könnte ein Anfang gelingen, indem die Identität nicht mehr aus der Abhängigkeit von den Alliierten, ins Besondere den USA, gewonnen wird, sondern vorübergehend aus der Abgrenzung von ihnen.

* National Security Agency, US-Auslandsgeheimdienst mit dem Schwerpunkt in der Erfassung von Daten aus der EDV (elektronische Datenverarbeitung)

Habermas ist der Philosoph der alten Bundesrepublik gewesen. Die Einwanderung kulturfremder Völkerschaften hat seine Diskurstheorie praktisch widerlegt, auch wenn er versucht hat, sie den neuen Umständen anzupassen: Säkularisierung und Rationalisierung greifen außerhalb des christlichen Kulturraumes nicht oder nur in unzureichendem Maße. „Die lange Zeit [unter monokulturellen Bedingungen im Westen gepflegte,] unbestrittene These, dass zwischen der Modernisierung der Gesellschaft und der Säkularisierung der Bevölkerung ein enger Zusammenhang besteht, findet unter Soziologen immer weniger Anhänger.“ So Habermas, der ebenfalls davon abrückt, indem er auf die allzu „undifferenzierten Schlussfolgerungen“* der Vergangenheit verweist. Erneut appeliert er an den Verfassungspatriotismus: „Auch religiöse Bürger und Religionsgemeinschaften dürfen sich nicht nur äußerlich anpassen. Sie müssen sich die säkulare Legitimation des Gemeinwesens unter den Prämissen ihres eigenen Glaubens zu eigen machen.“** Und wenn sie es nicht tun, obwohl Habermas es von ihnen fordert? – Es bleibt Habermas nichts weiter übrig, als weiterhin auf eine universale Rationalisierung zu hoffen, obwohl die Wirklichkeit ihr offensichtlich nicht entspricht. Den Unterschied zwischen den Kulturen spielt Habermas herunter und spricht von bloßen Mentalitäten. Doch selbst deren Veränderung „läßt sich nicht…erzwingen, sie ist bestenfalls Ergebnis eines Lernprozesses.“ Auch der kann nicht, „moralisch oder rechtlich gefordert werden.“*** So spricht Habermas schließlich kapitulierend von einem komplementären Lernprozeß, d.h. er mutet ihn eigentlich nur mehr der einheimischen Seite zu. Die Argumentation dient Habermas zu dem Zweck, nicht einräumen zu müssen, daß letztlich seine Vorstellung von Lebenswelt, das Zentrum seiner Philosophie, die spezifisch christliche Tradition voraussetzt, die das Erbe der antiken Philosophie in sich aufgenommen hat, aber auf andere Kulturen nur unzureichend übertragbar ist.

* „Die Dialektik der Säkularisierung“, Blätter für deutsche und internationale Politik 4/2008

** ebd.

*** ebd.

Während Habermas also fortwährend mit Preisen überhäuft wird, muß er es miterleben, daß seine Philosophie bereits zu seinen Lebzeiten überholt ist, und mit dem Verlangen nach der Überwindung des kulturell homogenen Nationalstaates sowie der Schaffung eines Weltparlamentes hat er zur Untergrabung der Grundmauern, die auch seine Theorien trugen und ertrugen, einen nicht unerheblichen Beitrag geleistet. Eingestehen wird er sich dies freilich kaum, sondern eher den Begriff der Dialektik strapazieren.

5 Kommentare zu „Nach der Frankfurter Schule 1e: Habermas (letzter Teil)“

  • ingres:

    Irgendwie habe ich das Gefühl man kann Habermas‘ Überlegungen in einem einzigen Satz zusammenfassen. Mit der Auflösung der Religion fällt die Orientierung. Aber das war mir auch ohne Habermas immer klar. Bei mir ist die Orientierung allerdings nicht gefallen nur der Gottesbegriff. Wohl aber bei den Gleichgeschalteten und den Antifanten usw, die sich neue säkulare Ersatzreligionen suchten. Das ist alles.
    An meiner Uni gab es damals mal ein Seminar: „Bedingungen der Herausbildung kritischer Subjektivität“. Abgesehen davon, dass man die nicht angeben kann war der Gedanke schon richtig, aber das Seminar eben überflüssig. Denn weder auf dem noch im Podium saßen kritische Subjekte, sondern gleichgeschaltete Objekte einer neuen Ersatzreligion. Die Vorläufer der Grünen und Antifanten.

  • ingres:

    Korrektur: Weder auf dem Podium noch im Auditorium saßen Subjekte …..

  • Konservativer:

    Sehr geehrter virOblationis
    Es ist ein großer Wurf, den Sie hier vorgelegt haben.
    Vergleichbar mit einer Veranstaltungsreihe in Sozialwissenschaften an einer Universität.
    Meinen dank dafür, daß Sie uns an Ihrer Durchdringung des komplexen, komplizierten und zumeist schwer verständlichen Stoffes teilhaben ließen. Wir alle, die wir hier mitlesen dürfen, profitieren von Ihrer Arbeit.
    Imponiert hat mir auch Ihre Fairness gegenüber den behandelten Personen. Eine Fairness übrigens, die unter den Vertretern auf der „anderen Seite der Barrikade“ höchst selten praktiziert wird.

    In dem Bemühen, die Geisteswissenschaften auf das Niveau der Naturwissenschaften zu heben, gleicht sie sich gewissermaßen der höheren Mathematik, Physik, Chemie und auch Biologie an, was in der geisteswissenschaftlichen Sprache/Terminilogie deutlich wird.

    Gewisse Erkenntnisse haben dabei durchaus ihren praktischen Wert, wie wir anhand der Werbung, Propaganda und Indoktrination, d.h. anhand von Beispielen gelungener Beeinflussung von Menschen sehen können. Doch Freunde eines „social engineering“ haben zu beachten, daß die Beispiele gelungener Beeinflussungen in zeitlich, räumlich, sozial, kulturell und entwicklungstechnisch gegebenen Kontexten stattfanden, also unter bestimmten, benennbaren Bedingungen, die nicht ohne weiteres auf andere Bedingungszusammenhänge übertragbar sind.
    Immer ist der Standpunkt, die Positionierung des Geisteswissenschaftlers zu beachten, auch wenn er für sich eine objektive Herangehensweise postuliert. Nehmen wir ein geschichtliches Ereignis, wie die „Kreuzzüge“, die zweifellos stattgefunden haben, deren Deutung jedoch keineswegs objektiv gehandhabt wird (Sympathie oder Antipathie mit dieser oder jener Seite, Instrumentalisierung im Dienste (s)einer Sichtweise oder Ideologie u.s.w.). „Der Deuter (mit seiner persönlichen Weltanschauung) deutet das zu deutende Ereignis“.

    Paul Veyne beleuchtet am Beispiel der Geschichtswissenschaft Aspekte der Problematik der Geisteswissenschaften im Unterschied zu den Naturwissenschaften.

    http://www.amazon.de/Geschichtsschreibung-was-sie-nicht-ist/dp/3518114727/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1384779082&sr=1-1&keywords=Geschichtsschreibung.+Und+was+sie+nicht+ist

    „Alle Geschichtsschreibung“, sagt Paul Veyne, „hängt
    einerseits von der Problematik, der sie sich stellt, andererseits von der Quellenlage ab. Kommt es zu einer Blockade der Geschichtsschreibung, so ist das stets entweder dem Mangel an Quellen, oder aber einer inzwischen überholten Fragestellung geschuldet.
    Wie die Erfahrung zeigt, kommt es sehr viel öfter zu einer Sklerose der Problemstellung als zu einem Stillstand auf Grund einer Erschöpfung der Quellen; selbst bei spärlicher Dokumentation lassen sich in der Regel weitere Fragen finden, die zu stellen bis dahin nur niemand versucht hat.“

    Paul Veyne kommt im Zuge seiner Forschungen häufig zu „ketzerischen“, dem geläufigen Geschichtsbild (Jacob Burckhardt – „Die Zeit Constantins des Großen“) widersprechenden Ergebissen.
    Ein Beispiel:
    „Die oft kritisierte konstantinische Wende wird (von Paul Veyne) ernstgenommen als «aufrichtiger, uneigennütziger Schritt ohne ideologische Hintergedan­ken». Konstantin handelte aus «Frömmigkeit, für das Heil seiner Untertanen und des Menschengeschlechts, aber nicht, weil er glaubte, daß dadurch die Bürger seines Reiches leichter beherrschbar seien»“

    Nachfolgend ein Beispiel für die „einfache“ Sprache des Paul Veyne, der einen eher komplizierten Sachverhalt für „Jedermann“ verständlich darstellt:

    „Den Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Religiosität erläutert Veyne an einem schlichten Beispiel: «Eine Frau aus dem Volk kann ihren Familien- oder Ehekum­mer der Jungfrau Maria erzählen; falls sie sich mit denselben Sorgen an Hera oder Aphrodite gewandt hätte, würde sich die Göttin wohl gefragt haben, was nur in diese dumme Bäuerin gefahren ist, die ihr da von Dingen erzählt, mit denen Götter nichts zu schaffen haben.»“

    Quelle: http://www.cicero.de/salon/europa-hat-keine-wurzeln-nicht-einmal-christliche/43587

    Paul Veyne schreibt zwar eindeutig dieses:
    «Die christliche Identität hat nicht viel an den materiellen, sozialen, politischen und juristischen Lebensumständen geändert. Aber dennoch: Eine Identität ist etwas Wertvolles, für das es sich lohnt zu töten und zu sterben.»

    Dennoch meint der Autor des Artikels (Daniel Binswanger) folgendes aus Paul Veynes Werk herausdeuten zu können, was allerdings mehr über seinen eigenen Standpunkt, über seine persönliche Weltanschaung verrät als über die Aussagen des Paul Veyne):
    „Das Werk des Geschichtsforschers weist einen anderen Weg: Man kann Identitäten auch historisieren.“

  • Konservativer:

    Ich vergaß die Quelle für die Zitate im letzten Absatz zu verlinken:

    http://www.weltwoche.ch/ausgaben/2006-30/artikel-2006-30-das-foucaultsche.html

  • virOblationis:

    @ Konservativer

    Noch ist das Ende nicht ganz erreicht: Es soll noch „Nach der Frankfurter Schule 2: Sloterdijk“ folgen. Der versuchte in der „Kritik der zynischen Vernunft (1983)“ an die Frankfurter Schule anzuknüpfen, schlug darin aber auch schon ganz andere Töne an; ich verstehe die beiden Bände als Dokument der entstehenden Neuen Linken. Von ihr wandte sich Sloterdijk später ab.

    Das geistige Erbe der Frankfurter Schule betrachte ich als ein Element der Neuen Linken. Deren Entstehung aus verschiedenen Strömungen will ich anschließend darstellen. Ich denke, man wird darin eine diachrone Ergänzung und Bestätigung sehen können von Manfred Kleine-Hartlages These einer Metaideologie, die auf eine vor allem synchrone Analyse gegründet ist.

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