Die geistigen Wurzeln der Neuen Linken 2b: Das manichäische Denken (zweiter Teil)
von virOblationis
An Hand der angelsächsischen Tierschutz- und der Frauenbewegung sollen im Folgenden die gesellschaftlichen Auswirkungen des manichäischen Denkens während des 19. und 20. Jahrhunderts veranschaulicht werden, als der zu Grunde liegende Puritanismus bereits mehr oder weniger saecularisiert war.
Während der deutsche Naturschutz im 19. Jahrhundert entstand, da man die Vielfalt der natürlichen oder allmählich im Zuge der Kultivierung entstandenen Landschaften samt den ihnen eigentümlichen Pflanzen und Tieren zu erhalten suchte, ist der etwa gleichzeitig aufgekommene angelsächsische Tierschutz auf ganz andere Motive zurückzuführen. Das im Puritanismus wurzelnde und als manichäisch charakterisierbare Denken in Extremen bzw. Gegensätzen wie Licht und Finsternis führte zu einer Ablehnung der traditionellen Klassifizierung irdischer Lebensformen, wie sie seit der Antike vertreten wurde: Oberhalb der Hexis, des bloßen Zusammenhalts von Anorganischem, steht das pflanzliche Dasein mit Ernährung, Vermehrung und Wachstum; danach kommt das zur sinnlichen Wahrnehmung wie zur Bewegung fähige, von Affekten gelenkte Tier, und die oberster Stelle nimmt der vernunftbegabte Mensch ein. Solch differenziertes Denken verwerfend wurde das Tier auf die Ebene des Menschen erhoben, während die Pflanzen anscheinend nicht mehr galten als die unbelebte Materie. Dies hatte zur Folge, daß die Forderung nach fleischfreier Ernährung erhoben wurde; im 19. Jahrhundert entstand eine Vegetarian Society, Vegetarier-Gesellschaft. Im 20. Jahrhundert führte dies konsequenter Weise weiter zur veganen Ernährung, die auf sämtliche Tierprodukte verzichtet und den Menschen allein mittels pflanzlicher Produkte bekleiden will sowie zur Forderung nach Ablehnung jeglicher Nutztierhaltung.
Dem angelsächsischen Tierschutz, der sich seit den sechziger Jahren auch in der BRD verbreitete, geht es in erster Linie nicht um eine moralische Haltung des Menschen, der sich dem nicht rational begabten Mitgeschöpf gegenüber rücksischtsvoll verhalten soll, sondern darum, dem Tier Rechte zuzusprechen, wie sie jeder Mensch auf Grund seiner Natur innehat: Der Kampf gegen Viehtransporte, Massentierhaltung, Jagden und Tierversuche – so berechtigt er immer sein mag – bildet das Vehikel des Tierschutzes als einer Tierrechtsbewegung, die sich in Deutschland freilich nicht recht durchzusetzen vermochte und sich daher in den achtziger Jahren vom übrigen Umweltschutz abspaltete.
Der Tierrechtsbewegung entsprechen philosophische Entwürfe, die zumindest bestimmten Tierarten eine der des Menschen gleichkommende Persönlichkeit zuerkennen wollen. Ein bekannter Vertreter dieser Richtung ist der jüdisch-australische Philosoph Peter Singer*, Verfasser von „Animal Liberation (1975; dtsch. Die Befreiung der Tiere, 1976)“. Singer sieht keine prinzipiellen Probleme in bezug auf die Euthanasierung von Menschen, ggf. in Form einer „Sterbehilfe“, mit Blick auf Ungeborene und Neugeborene mit schwerer geistiger Behinderung, demente Alte sowie Selbstmordgefährdete. Menschen, die ihre Interessen (noch) nicht bzw. nicht mehr zu artikulieren vermögen oder als Selbstmordgefährdete darauf verzichten, spricht Singer die Person ab und will sie der Tötung preisgegeben. – Singer dürfte sich in Australien geistig dem Denken in der Tradition des angelsächsischen Calvinismus angenähert haben, das ja seit dem 17. Jahrhundert die Nähe zum Judentum sucht, was für Singer nicht schwierig gewesen sein wird, da das europäische Judentum im Spätmittelalter den Nominalismus übernahm, dem auch die englische Reformation im Anschluß an die Spätscholastik desselben Landes folgte: Gibt es nur Einzeldinge, dann existiert keine menschliche Natur, sondern es gibt nur einzelne Personen; bei Tieren mißachtet man diesen Grundsatz allerdings, so bald man nur bestimmten Arten Persönlichkeitsrechte zuspricht.** Daneben propagiert Singer einen (hedonistischen) „Präferenzutilitarismus“, eine Bewertung von Handlungen danach, ob sie Schmerz minimieren und Lust maximieren; demnach hätte sich die Ethik nach den Affekten zu richten, also nach dem Bereich unterhalb der Ratio, wodurch der Mensch zum animalischen Dasein hinabgezogen wird, was eben auch eine Denkmöglichkeit im Sinne des angelsächsischen Tierschutzes darstellt, wenn es nicht gelingt, das Tier auf die Ebene des Menschen hinaufzubefördern.
* geb. 1946
** Der zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgekommene sog. Anti-Speziesismus richtet sich nur gegen eine einzige Species, nämlich die des Menschen. Seine Anhänger kürzen den für manche von ihnen wohl zu schwierigen Begriff ab zu „Anti-Spe“, was man – angesichts des Gleichklangs mit dem lateinischen spe-s, Hoffnung – vielleicht besser mit „hoffnungslos“ wiedergegeben könnte.
Der angelsächsische Tierschutz nimmt sich des gesamten animalischen Lebens an; das einzelne Tier stellt aus seiner Sicht nur einen Vertreter der Gesamtheit dar. Die daraus hervorgehende Abstraktheit im Verhältnis zu Tieren wie zur übrigen natürlichen Umgebung ist inzwischen auch in Deutschland verbreitet; dem entsprechend ist an die Stelle der Heimatkunde weithin der schulische Sachunterricht getreten. Die Kinder lernen nicht mehr ihre Heimatregion kennen, um damit vertraut heranzuwachsen, denn sie sollen gar keine Wurzeln schlagen. Solche Kinder kennen kaum noch die Pflanzen und Tiere ihrer Umgebung, erfahren dafür aber z.B. von den Problemen der Eisbären, deren weit entfernte Lebenswelt sich verändere, und nur den Tieren, hier: den Eisbären, wird das Recht auf eine bestimmte Heimatregion und deren Erhaltung zugestanden; man macht ihnen auch als Fleischfressern keinen Vorwurf. – „I don‘t eat animals and they don‘t eat me“, Ich esse keine Tiere, und sie [fr]essen mich nicht, sang Melanie* 1970, die auch beim berühmt gewordenen Festival in Woodstock auftrat (1969), als angeblich einzige Musikerin, die nicht unter Drogen stand. Man mag wohl glauben, daß Melanie auf den Verzehr von Tieren verzichtet hat, doch die Erwartung, daß die Tiere, beispielsweise wiederum der Eisbär, im Gegenzug dasselbe tun, zeigt lediglich die weite Verbreitung von Wunschdenken an. Wenn der Automobilbau neuerdings auf Stoßstangen verzichtet, werden Zusammenstöße dadurch nicht vermieden, sondern der dabei angerichtete Schade noch vergrößert; ebenso vermag ein Volk einen bestimmten geographischen Raum nur so lange in Frieden zu besiedeln, wie es bereit ist, dessen Grenzen zu verteidigen.
* Melanie Safka; geb. 1947
Wenn sich solches manichäische Denken in die Zukunft richtet, erwartet es den – auf Grund der Fremdheit des Göttlichen – eher diesseitig gedachten Himmel für die Auserwählten und die Hölle für die Verworfenen. Unter den Bedingungen einer Saecularisierung wird daraus das Zwillingspaar von Utopie und Dystopie: Entweder man glaubt, auf eine universale Katastrophe zuzutreiben, die im Triumph des Bösen endet, oder man meint, sich auf einen innergeschichtlichen Zustand des Heiles hin zu bewegen; so war der Chiliasmus, die Erwartung eines diesseitigen tausendjährigen Reiches, unter den Independenten des 17. Jahrhunderts weit verbreitet, während die traditionelle Theologie die Hoffnung auf ein innerweltliches Gottesreich ablehnte und als charakteristisch für das Judentum ansah. – Aus der Verbindung des Umweltschutzes mit Utopie bzw. Dystopie entstehen Szenarien wie die des Waldsterbens; dabei soll die Belastung der Bäume durch Schadstoffe nicht bestritten werden, aber beim Waldsterben ging es um mehr: „Erst stirbt der Baum, dann stirbt der Mensch“, so hieß es. M.a.W. wir alle werden elendiglich umkommen, und wir sind selbst schuld daran. Das ist der Gedanke, der solchen ökologisch-apokalyptischen Befürchtungen zu Grunde liegt. Zuletzt wurden sie aktualisiert durch die Vorhersage einer Klimakatastrophe, mit Hilfe derer man nebenbei allerdings auch Geschäfte zu betreiben vermag, z.B. über den Verkauf von CO2-Zertifikaten, da man im CO2 den Verursacher des Klimawandels ausgemacht zu haben meint, obwohl sich das Wetter immerfort verändert hat, wobei seit etwa 1850 eine Erwärmung eingetreten ist, als es CO2 ausstoßende Fabriken doch erst in bescheidenem Umfang gab. Aber CO2, Kohlendioxyd, ist eben das Gas, das der Mensch ausatmet, und so wird der Mensch als atmendes Wesen zugleich als Schädling für die Umwelt entlarvt. Folgender Witz kursierte in den neunziger Jahren: „Die Erde trifft einen anderen Planeten, der sagt: ,Du siehst krank aus.‘ ,Ich habe homo sapiens‘, antwortet die Erde. ,Das kenne ich. Das geht vorüber‘, tröstet der andere Planet die Erde.“ Eine solch negative Anthropologie denkt in Extremen und sieht sozusagen alle Menschen als Verworfene an; die Stelle der Auserwählten nimmt dabei die übrige Natur ein, die vom Menschen befreit wird. Traditionell gilt der Mensch als Krone der Schöpfung; will jemand, der in Extremen denkt, dies kritisieren, dann vermag er nicht, den Menschen graduell herabzustufen, sondern er stellt das bis dahin gewohnte Verhältnis einfach auf den Kopf. So wird aus der Krone der Schöpfung deren einziger Schädling.
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Die englische Frauenbewegung des 19. Jahrhunderts war – anders als die us-amerikanische – in ideologischer Hinsicht kontinental geprägt, d.h. von den verschiedenen Strömungen der Französischen Revolution; zwei Beispiele sollen dies verdeutlichen. Die Revolution hatte die Gleichheit der Menschen postuliert, um sich nach dem Sturz der Jakobiner auf den juristischen Aspekt der Gleichheit zu beschränken, die Gleichheit vor dem Gesetz. Der Sozialismus nahm sich der ökonomischen Gleichheit an und die Frauenbewegung der biologischen, einer Verwirklichung der Gleichheit von Mann und Frau. Dazu war vor allem eine gesellschaftliche Gleichstellung zu erringen, und das Stimmrecht in Wahlen bildete in dieser Hinsicht bald ein zentrales Anliegen.
Bereits Mary Godwin, geb. Wollstonecraft,* die 1792 ins revolutionäre Frankreich gereist war und dort ihr Buch „A Vindication of the Rights of Woman“ verfaßte, Eine Verteidigung der Rechte der Frau, das noch in demselben Jahr in London erschien, forderte dieselbe Bildung für Frauen wie Männer. – Barbara Bodichon, geb. Leigh Smith,** war die Tochter eines Unitariers, Philanthropen und Anhängers des Freihandels, der zwar Vater von fünf Kindern wurde, die Mutter seiner Kinder aber nicht vor den Traualtar führte, wohl um seinen Nonconformismus unter Beweis zu stellen; eine seiner Schwestern heiratete in die Familie Nightingale ein und wurde Mutter der später bekannten Florence Nightingale,*** die nach ihrer Ausbildung in Paris und Kaiserswerth bei Düsseldorf seit 1853 ein Hospital in London leitete, den Aufbau von Krankenstationen für die verwundeten Briten während des Krimkrieges (1853 – 1856) bewerkstelligte und danach Englands erste Schule für Krankenpflegerinnen gründete (1860). Barbara Leigh Smith verlor ihre Mutter als Siebenjährige. Ihr Vater, ein Großgrundbesitzer, wurde bald darauf Abgeordneter des Unterhauses; seit 1828 war dies auch der Anglikanischen Kirche nicht angehörenden Dissenters möglich. Barbara und ihre Geschwister lebten unter der Aufsicht einer Tante in Hastings und erhielten dort Privatuntericht. Sie sollten darauf vorbereitet werden, ihr Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten, wobei Geld keine Rolle spielte. Barbara Leigh Smith studierte in einem zu London neu eröffneten Ladies College Malerei und daneben Nationalökonomie sowie Rechtswissenschaft. Mit einer Freundin reiste sie durch die Länder Kontinentaleuropas. 1854 veröffentlichte Barbara Leigh Smith ihr erstes Buch, das sich mit der rechtlichen Ungleichheit von Männern und Frauen im Vereingten Königreich befaßte. Nachdem eine Romreise sowie eine Affaire mit ihrem Verleger, einem verheirateten Mann, sie überanstrengt hatte, besuchte Barbara Leigh Smith Algerien, wo sie den französischen Arzt Eugène Bodichon**** kennenlernte, mit dem sie bald darauf die Ehe einging (1857). Bereits um 1850 waren in England erste Stimmen laut geworden, die ein Wahlrecht für Frauen forderten, und dafür setzte sich auch Barabara Bodichon ab 1865 ein, da sie [den Sommer] in England zu verbringen pflegte, [den Winter] in Algerien. 1885, nicht lange nach dem Tod ihres Ehemannes, erlitt Barbara Bodichon einen Schlaganfall und benötigte seitdem Pflege. Im Jahre 1891 verstarb sie. Dem Leichenzug schlossen sich hunderte von Menschen an, meist ärmere Leute aus der Gegend von Hastings, denen Barbara Bodichon Wohltaten erwiesen hatte.
* geb. 1759, gest. 1797; die Mutter der Schriftstellerin Mary Shelley (geb. 1797, gest. 1851), Autorin des Romans „Frankenstein (1818)“, der zuerst anonym erschien.
** geb. 1827, gest. 1891
*** geb. 1820, gest. 1910
**** geb. 1810, gest. 1885
Bis zum Sieg der Nordstaaten im Sezessionskrieg (1861 – 1865) hatte die us-amerikanische Frauenbewegung wie schon Olympe de Gouges* die Abschaffung der Sklaverei gefordert. 1869 erhielten die Afro-Amerikaner das Stimmrecht, allerdings nur die männlichen; danach erfolgte in der dortigen Frauenbewegung eine Konzentration auf die Frage des Wahlrechts. So entstanden im Jahre 1869 die New Yorker National Woman Suffrage Association und ebenso die Bostoner American Woman Suffrage Association; die beiden Organisationen schlossen sich 1890 zusammen. In dieser Hinsicht folgte die us-amerikanische Frauenbewegung der kontinentaleuropäischen.
* geb. 1748, gest. 1793
Aus der eigenen, puritanischen Lebensweise erwuchs ein ganz anderer Zweig weiblichen Engagements in der us-amerikanischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts: Frauen dominierten die Vereine der Temperenzler, die sich zwar nach dem lateinischen temperantia, Mäßigkeit, nannten, tatsächlich aber kein Maßhalten, sondern vollkommenen Verzicht auf Alkohol forderten; wieder ließ die Tradition manichäischen Denkens keine Differenzierung zu, sondern verfiel auf eine extreme Forderung.* – Das Engagement der Temperenzlerinnen wurde von Erfolg gekrönt: 1919 verabschiedete der US-Kongreß das Prohibitionsgesetz, das Herstellung und Verkauf alkoholischer Getränke verbot; dies geschah ein Jahr, bevor auch das Frauenwahlrecht beschlossen wurde. Freilich erreichte die Prohibition nicht, daß weniger getrunken wurde; stattdessen blühte die organisierte Kriminalität auf, für die jede liberale Gesellschaft anfällig ist, da mit der Beseitigung traditioneller Sozialstrukturen der Weg für Surrogate bereitet wird.
* Ab 1829 breitete sich die Abstinenzbewegung auch in Europa aus, zuerst in protestantischen Kreisen Irlands, dann in Schottland, England und Skandinavien sowie weiteren Ländern Kontinentaleuropas.
Schon Olympe de Gouges hatte neben den von ihr geforderten Bürgerrechten für Frauen eine Auflösung der überlieferten Moral propagiert, also eine Herrschaft der Leidenschaften, der Affekte, über die Ratio. An solchen Anfänge anknüpfend stieg die US-Amerikanerin Margaret Mead* im 20. Jahrhundert zu einer der Leitfiguren der Frauenbewegung auf, indem sie – gegründet auf vorgeblich wissenschaftliche Tätigkeit – weitgehende Freiheit für den Geschlechtstrieb propagierte. Mead veröffentlichte als junge Ethnologin 1928 „Coming of Age in Samoa. A Study of Adolescene and Sex in primitive societies (dtsch. Mündigwerden auf Samoa, 1970)“. Ihre Phantasien von sexueller Freizügigkeit, so meinte sie offenbar, seien in der Südsee verwirklicht worden; die mehrmals nacheinander verheiratete Mead kam zu der Überzeugung, das soziale Verhalten [der Geschlechter] sei [auch grundsätzlich] nicht durch die Natur, sondern die jeweilige kulturelle Herkunft bestimmt und deshalb [beliebig] veränderbar, womit sich die gedankliche Grundlage der am Ende des 20. Jahrhunderts aufgekommenen These vom Geschlecht als sozialem Konstrukt bereits abzeichnet. Dabei hielt sich Mead 1925 allein unter den Eingeborenen Amerikanisch-Samoas auf, deren Sprache sie kaum verstand, blieb nur einige Monate und schrieb anschließend keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern verarbeitete ihre Notizen zu so etwas wie einem Südsee-Roman. Gleichwohl war Meads Werk nicht nur äußerst einflußreich, sondern galt auch als wissenschaftlich: Sie amtierte seit 1973 als Präsidentin der „American Association for the Advancement of Science“, der [us-]amerikanischen Vereinigung zur Förderung der Wissenschaft, und erhielt im Laufe der Zeit auch achtundzwanzig Ehrendoktorhüte; seit 1979 kann man sogar einen „Margaret Mead Award“ der „American Anthropological Association“, der [us-]amerikanischen ethnologischen Vereinigung, erlangen. Mead war übrigens während des 2. Weltkrieges für das us-amerikanische Bureau für Kriegsinformation, „Office of War Information“, tätig wie Herbert Marcuse**, bevor er 1943 zum „Office of Strategic Services“, dem Bureau für strategische Dienste, wechselte.
* geb. 1901, gest. 1978
** geb. 1898, gest. 1976
In Zusammenhang mit Margaret Mead ist auch Alfred Kinsey* zu erwähnen, natürlich nicht als Vertreter der Frauenbewegung, aber als Anwalt einer Zerstörung der Moral mit dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit; wie Mead war auch Kinsey während des 20. Jahrhunderts in den USA tätig. Während Mead noch die Heterosexualität aus den Fesseln christlich geprägter Kultur zu „befreien“ suchte, ging es Kinsey um sexuelle Bedürfnisse beliebiger Art. Kinsey suchte – mit Hilfe überhaupt nicht repräsentativer Studien** – nachzuweisen, daß der Mensch schon im frühesten Alter ein sexuelles Wesen sei und später ein Großteil homo- oder bisexuelle Neigungen aufweise, wodurch die Homosexualität, schon auf Grund ihrer weiten Verbreitung, als ebenso normal erscheint wie die Heterosexualität. Darüber hinaus wären konsequenter Weise geschlechtliche Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern keineswegs grundsätzlich zu verwerfen; insofern ebnete Kinsey der Frühsexualisierung von Kindern und der Forderung nach Legalisierung der Paedophilie den Weg. Zur Erstellung der Studien hatte man, um zu den Untersuchungsergebnissen zu gelangen, mit den kleinen Kindern in einer Weise umzugehen, die schwerlich anders denn als Mißbrauch zu bezeichnen ist. – Das Kinsey-Institut verweist darauf, daß Kinsey selbst solche Manipulationen an Kindern (im Alter von 5 Monaten bis zu 14 Jahren) nicht vorgenommen und auch nicht in Auftrag gegeben, sondern nur, wenn sie ihm berichtet wurden, registriert habe; doch Kinseys Schlußfolgerungen in bezug auf die Sexualität des Menschen rechtfertigten solchen Umgang mit Kindern nachträglich, was das Kinsey-Institut verschweigt. Außerdem widerlegte die Darstellung des Institutes [ungewollt] einer von Kinseys Mitarbeitern, nämlich Clarence Arthur Tripp***, da er 1990 in einem Fernseh-Interview hinsichtlich der der Beobachtung des Verhaltens der Kinder von „trained observers“, ausgebildeten Beobachtern, sprach, wonach sich die Frage stellt, wer jene Beobachter in welcher Weise wozu ausgebildet hatte. Die Antwort liegt auf der Hand, und Kinseys Nachfolger in der Leitung des Institutes, Paul Gebhard****, bestätigte, was zu vermuten war, 1992 in einem Telephonat bei der Frage nach der Zeitmessung der kindlichen Körperreaktionen: „So, second hand or stopwatch.“ Also, [die] zweite Hand oder [eine] Stopuhr [benutzten sie dazu]. Demnach dürften die Beobachter die Kinder mit einer Hand stimuliert haben, während sie mit den Fingern der zweiten Sekunden zählten bzw. eine Stopuhr betätigten.
* geb. 1894, gest. 1956
** Paul Gebhard (geb. 1917), Leiter des ab 1947 existierenden Kinsey-Institutes nach dem Tod des Gründers (1956 – 1982), suchte die Ergebnisse der Studien nachträglich mit repräsentativen Daten abzusichern (1979).
*** geb. 1919, gest. 2003
**** s.o.
Kinseys Büchern „Sexual Behavior in the Human Male (1948; dtsch. Das sexuelle Verhalten des Mannes, 1955)“ und „Sexual Behavior in the Human Female (1953; dtsch. Das sexuelle Verhalten der Frau, 1954)“ wurde gleichwohl epochale Bedeutung zugeschrieben, und in den USA 2004 sogar noch ein gefälliger Film über Kinseys Lebensweg gedreht, der wohl tatsächlich kaum mehr war als ein auf Abwege geratener Biologe. Angemerkt sei, daß die Rockefeller Foundation im Rahmen der Förderung von Forschungen zur psychologischen Kriegführung Kinseys Projekt ermöglichte. Ein weiteres Motiv für die Rockefeller Foundation wird die in jenen Jahren auf Seiten der WASPs, White Anglo-Saxon Protestants, besorgt registrierte höhere Geburtenrate bei Afro-Amerikanern und Katholiken [mittelamerikanischer Herkunft] gewesen sein.
Wegen Margaret Meads großem Einfluß in der Öffentlichkeit, konnte erst einige Jahre nach ihrem Tode die Unwissenschaftlichkeit ihrer Tätigkeit von einem anderen Ethnologen publik gemacht werden,* der 1981 endlich Zugang zu den Archiven Amerikanisch-Samoas bekommen hatte. Im Falle Kinseys dauerte es sogar bis 1990; dann erst wurde ein Buch veröffentlicht, das seine Untersuchungen grundsätzlich in Frage stellte;** dessen Übersetzung ins Deutsche steht offenbar noch aus. – Auf Gestalten wie Mead und Kinsey berief sich die von den USA während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgehende „sexuelle Revolution“. Herbert Marcuse, der sich 1934 in den USA niedergelassen hatte, steuerte als Vertreter der Frankfurter Schule in den fünfziger Jahren eine philosophisch-psychologische Komponente bei, indem er unter Berufung auf Freud*** dem Menschen eine ursprünglich polymorph perverse Sexualität zuschrieb und den gesamten menschlichen Körper als Instrument zur Lustbefriedigung bezeichnete.****
* Derek Freeman, „Margaret Mead and Samoa. The Making and Unmaking of an Anthropological Myth (1983, dtsch. Liebe ohne Aggression. Margaret Meads Legende von der Friedfertigkeit der Naturvölker, 1983)“
** Judith Reisman, „Kinsey, Sex and Fraud: The Indoctrination of a People (1990)“, Kinsey, Sex und Betrug. Die Indoktrination eines Volkes
*** Sigmund Freud; geb. 1856, gest. 1939
**** Triebstruktur und Gesellschaft, II. Der Ursprung des unterdrückten Individuums (Ontogenese); s. Die Frankfurter Schule 5: Marcuse
Während es schon früher Zeiten des Verfalls der Moral gegeben hatte, sollte diese nun vollkommen vernichtet und durch Beliebigkeit ersetzt werden. Die puritanische Absage an Genuß jeglicher Art schlug ins Gegenteil um; man fiel von einem Extrem ins andere, und um das Ablegen vertrauter Verhaltensweisen zu erleichtern, um die eigene Persönlichkeit zu verändern, kam der Konsum von Rauschdrogen in Mode, die sinnliche Wahrnehmung und Denken verzerrten, vorzugsweise Haschisch und LSD, die man in den sechziger Jahren gern als psychedelisch bezeichnete, was man mit bewußtseinserweiternd wiedergab,* auch wenn die eine oder andere Psychose dadurch ausgelöst wurde. – Aber der allzu bald stattdessen einsetzende massenhafte Konsum von Heroin ließ die Hippieträume zerplatzen und kündigte die Selbstzerstörung der Gesellschaft durch die „sexuelle Revolution“ an: „I have made the big decision / I‘m gonna try to nullify my life…“**
* wörtl. Seelen-klar bzw. -einleuchtend; Haschisch ist eine aus der Hanfpflanze gewonnene Droge, LSD, Lysergsäurediäthylamid, ein aus Mutterkorn, einem parasitär lebenden Pilz, 1938 erstmals hergestelltes Praeparat.
** „Ich habe die große Entscheidung getroffen / Ich bin bei dem Versuch, mein Leben zu Nichte zu machen“, so der jüdisch-us-amerikanische Guitarrist Lou(is) Reed (geb. 1942, gest. 2013) in „Heroin (1964)“ – Heroin, Diacetylmorphin, wird aus Morphium hergestellt, einem Alkaloid des aus Schlafmohn gewonnenen Opiums.
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In einem Anhang soll nun neben dem manichäischen Denken ein weiterer Aspekt des Puritanismus betrachtet werden: Max Weber hat in seinem zweiteiligen Aufsatz „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“* die calvinistische Werkfrömmigkeit beschrieben, die – ebenso wie das manichäische Denken – als Konsequenz aus der Lehre einer doppelten Praedestination hervorgeht. Letztere hatte Calvin selbst zwar bereits vertreten, legte aber nicht allzu viel Gewicht darauf; die Konsequenzen der Lehre von der doppelen Praedestination sollten jedoch in der calvinistischen Theologie bald deutlich werden. – Nach Calvin hat alles in der Welt der Selbstverherrlichung Gottes zu dienen, woran der Auserwählte teilhabe, indem er als gläubiger Frommer freiwillig die Gebote erfüllt, und selbst die Verworfenen werden durch die Kirchenzucht des calvinistischen Gemeinwesens sowie sein Strafrecht dazu genötigt, daß auch sie mit ihrem Tun und Lassen Gott die Ehre geben.
* Max Weber (geb. 1864, gest. 1920), Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik XX, 1 / XXI, 1 (1904 / 1905)
Calvins Theologie warf die Frage auf, woran man denn erkennen könne, ob man zu den Auserwählten gehöre. Sie verbreitete sich bis in das katholische Lager hinein. So sah sich auch der junge Franz von Sales* als Student zu Paris von dieser Frage angefochten. Der hl. Franz von Sales fand darauf die Antwort: Er wolle im Falle einer Verwerfung durch Gott diesem zumindest während seines vergänglichen Lebens dienen; so trug die Liebe zu Gott den Sieg davon. Die heitere, sanftmütige Frömmigkeit des hl. Franz von Sales, ab 1599 Fürstbischof Genfs, der wegen der calvinistischen Herrschaft über die Stadt zu Annecy residierte, wurde zum Gegenbild des düster-freudlosen Calvinismus. – Ganz anders fiel natürlich dessen Antwort auf dieselbe Frage aus. Sie ist bereits bei Calvins Genfer Nachfolger Theodorus Beza** zu finden: Er verweist auf die guten Werke als Heiligung, von der aus der Fromme zum Glauben emporsteige, aus dem wiederum die Wirksamkeit der Berufung zum Heil gefolgert wird. M.a.W. die Werkfrömmigkeit dient zur Vergewisserung der Auserwählung, wobei den Werken keinerlei Verdienstlichkeit zuerkannt wird, weil sie allein zur Verherrlichung Gottes dienen. Auf solcher theologischen Grundlage entstand eine Seelsorge, die es den Gläubigen als Gebot auferlegte, an der eigenen Erwählung nicht zu zweifeln, sondern sie „fest zu machen“;*** der fromme Calvinist pflegt nicht die Hoffnung, spes, auf Erlösung als christliche Tugend, sondern strebt nach Heilsgewißheit, certitudo salutis. Um ihr eine tragfähige Grundlage zu verleihen, bedurfte es rastloser Werktätigkeit; das Feld dafür bot die Arbeitswelt.
* geb. 1567, gest. 1622
** franz. Théodore de Bèze, geb. 1519, gest. 1605
*** vgl. 2. Petr. 1, 10
Max Weber verweist in diesem Zusammenhang auf Calvins Überzeugung, daß das Begrenzte nicht empfänglich sei für das Unbegrenzte, „finitum non capax est infiniti“. – Tatsächlich hat Calvin das im Anschluß an Aristoteles‘ Physik III, 5 formulierte „finitum non capax est infiniti“ nicht gebraucht;* der Sache nach vertrat er es freilich, und dies brachte Calvin hinsichtlich der Abendmahlslehre in einen theologischen Gegensatz zum Luthertum, das an der Realpräsenz Christi unter Brot und Wein festhielt. In Calvins Unterrichtung in der christlichen Religion, der „Institutio Christianae Religionis“ von 1559, heißt es in II, 13, 4, es sei eine Frechheit zu behaupten, durch die Menschwerdung sei die unermeßliche Wesenheit des Wortes Gottes in das enge Zwangsarbeitergefängnis (ergastulum)** des irdischen Körpers eingesperrt worden. Calvin fährt an derselben Stelle fort: „Mirabiliter enim e caelo descendit Filius Dei, ut caelum tamen non relinqueret: mirabiliter in utero virginis gestari, in terris versari et in cruce pendere voluit, ut semper mundum impleret, sicut ab initio.“ Wunderbar nämlich stieg der Sohn Gottes aus dem Himmel herab, so daß er den Himmel dennoch nicht verließ; wunderbar wollte er in der Gebärmutter einer Jungfrau ausgetragen werden, auf Erden sich aufhalten und am Kreuze hangen, so daß er immer die Welt erfüllte gleichwie am Anbeginn [und seither immerfort].
* Wenn die – von Calvin noch nicht gebrauchte – Formulierung „finitum non capax est infiniti“ mit Hinblick auf das dritte Buch der aristotelischen Physik entstand, dann mutet dies recht befremdlich an, denn danach wäre [Gottes] Unendlichkeit körperhaft gedacht worden, geht es in Phys. III, 5 doch um die Frage des Unbegrenzten in bezug auf das (begrenzte) Körperhafte; nach traditionellem Verständnis ist die menschliche Natur aber ebenso immateriell wie die göttliche.
** Ergastulum wurde zur Bezeichnung des ursprünglich vom Protestantismus eingerichteten Arbeitshauses, das dafür zu sorgen hatte, daß niemand unproduktiv sein Leben verbrachte; das erste entstand aus einem 1555 im Londoner Schloß Bridewell eingerichteten Gefängnis, und es folgte 1595 die Eröffnung des Amsterdamer Zuchthauses.
Man vermag kaum zu erkennen, daß nach Calvin eine Menschwerdung Gottes überhaupt wahrhaft stattgefunden hat. Offenbar hat Calvin sich eine solche kaum vorzustellen vermocht, weil er davon ausgegangen ist, daß das Irdische das Göttliche dazu hätte aufnehmen müssen. Calvin spricht in Inst. II, 13, 4 von einer nicht möglichen Einschließung, „inclusio“, des Göttlichen durch das Menschliche, doch die traditionelle Sichtweise sieht dies umgekehrt. Nach Thomas* verbindet sich die immaterielle menschliche Natur stets mit einem materiellen Leib zu einer konkreten menschlichen Person. Als Form bzw. Allgemeines ist die menschliche Natur zwar nicht wie Gott schlechthin (simpliciter) unendlich, aber immerhin in gewisser Hinsicht (secundum quid), weil sie mit verschiedenster Materie zusammengefügt werden kann (s. S. Th. I q 7 a 1), woraus dann im Falle der menschlichen Natur all die individuellen bzw. besonderen Menschen als Personen auf der Erde hervorgehen. Wie sämtliche übrigen (intelligiblen) Formen bildet die menschliche Natur einen Aspekt des göttlichen Seins (s. S. Th. I q 14 a 5), welches aber deshalb nicht etwa zusammengesetzt zu denken ist, sondern völlig einfach (simplex; s. S. Th. I q 3 a 7). Während Formen wie die menschliche Natur am Sein teilhaben, ist Gott das Sein selbst: Das Sein geschaffener Dinge ist die Wirkung seines Tuns; sie entstehen durch ihn, und sie werden durch ihn im Dasein erhalten (S. Th. I q 8 a 1). Warum also sollte sich nicht Gott mit der menschlichen Natur samt daran gefügtem Leib zu einer Person verbinden (s. S. Th. III q 2 a 1f.), die dann freilich mit der zweiten Hypostase Gottes identisch ist, der die menschliche Natur samt Leib enhypostasiert worden ist (s. S. Th. III q 2 a 3 – 5). – Die Einung (henosis) geschah durch die Hypostase (kath‘ hypostasin), den Herrn Jesus Christus, der einer der heiligen Dreifaltigkeit (heis tes hagias triados) ist; so lehrt es ein für alle Mal verbindlich das zweite Allgemeine Konzil zu Konstantinopel im Jahre 553 (coll. 8, hier: can. 4), auf das Thomas auch verweist (S. Th. III q 2 a 3).
* hl. Thomas von Aquin; geb. ca. 1225, gest. 1274
Wenn man bei Calvin von der Menschwerdung Gottes im eigentlichen Sinne einerseits kaum sprechen kann, so wähnt sich der calvinistische Fromme andererseits nie wirklich mit Gott verbunden; beide Naturen, die göttliche und die menschliche, bleiben einander fremd. Dies hat u.a. zur Folge, daß sich der fromme Calvinist von dem Menschen Christus nur graduell verschieden glaubt, denn Christi menschliche Natur wird von ihm nur durch den Heiligen Geist mit der (zweiten Hypostase der) Gottheit verbunden gedacht; man vergleiche dazu die unter Calvinisten verbreitete Lehre, durch die Menschwerdung Christi sei die Natur aller Menschen mit derjenigen Gottes vereint worden.* – Der Calvinist sieht sich als Persönlichkeit auch unter dem Aspekt der Erlösung nie mit dem göttlichen Sein im Sinne einer Unio mystica geeint. Deshalb, so Max Weber, erscheine dem frommen Calvinisten nur eine einzige Möglichkeit der Verbindung mit Gott denkbar, nach der er sich nämlich als dessen Werkzeug verstehe; der Glaube bedeute für den Calvinisten demnach Gehorsam. Dieser erweist sich in einer allem Genuß absagenden, also asketischen, aber dabei nie verdienstlich gedachten Werktätigkeit. Hinzuzufügen wäre, daß die Trennung von Göttlichem und Menschlichem den calvinistischen Frommen gedanklich in die Nähe des Atheismus versetzt, so daß dessen Verleugnung des Göttlichen die menschliche Sphäre aus seiner Sicht nicht beeinträchtigt.
* Diese Auffassung findet sich bereits bei Wolfgang Müslin, latein. Musculus, geb. 1497, gest. 1563.
Max Webers Gedankengang ist durch den folgenden zu vervollständigen: Wenn die Werktätigkeit die Grundlage der Heilsgewißheit bildet, die Werke jedoch nicht als verdienstlich angesehen werden, sondern als gottwohlgefällig wegen der Auserwählung des sie Vollbringenden, dann bleibt nur ein einziges mögliches Merkmal, um sie als gottwohlgefällig zu erkennen, so daß sie die Heilsgewißheit zu begründen vermögen, nämlich ihr Erfolg. – Danach wird verständlich, wieso der Glaube an den Erfolg, z.B. durch positives Denken, in den USA so verbreitet ist: Im Hintergrund dessen steht die Auffassung, daß der Auserwählte, d.h. man selbst, erfolgreich sein wird: „Yes, we can!“, hieß daher das Motto der US-Demokraten im Präsidentschaftswahlkampf 2008.
Zur weiteren geistigen Entwicklung des Puritanismus verweist Max Weber ins Besondere auf die Werke des bedeutenden und viel gelesenen englischen Theologen Richard Baxter*. Der vertritt zwar die calvinistische Werkfrömmigkeit, nicht aber die Lehre einer doppelten Praedestination und plädiert vor allem für eine englische Nationalkirche. Insofern ist Baxter wenig geeignet, das zu belegen, wozu Weber ihn heranzieht; stattdessen macht das Beispiel Baxters jedoch deutlich, wie sich die calvinistische Werkfrömmigkeit verselbständigte, d.h. auch dort übernommen werden konnte, wo dem Glauben an die doppelte Praedestination keine zentrale Bedeutung mehr zukam.
* geb. 1615, gest. 1691
Max Weber rechnet neben den Calvinisten ebenso Wiedertäufer, Pietisten und Methodisten zu den Vertretern des puritanischen Geistes in Nordamerika. In bezug auf die Wiedertäufer im angelsächsischen Bereich ist dem ohne Einschränkung zuzustimmen: Sie entstanden in England nach der Eroberung der von den Wiedertäufern beherrschten Stadt Münster (1535) wohl als Gemeinden von deutschen sowie niederländischen Flüchtlingen. Die englischen Wiedertäufergemeinden schlossen sich den Independenten bzw. Congregationalisten als Befürwortern der Unabhängigkeit jeder einzelnen Kirchengemeinde an und übernahmen daneben die 1646 formulierte und im Jahre darauf gedruckte Westminster Confession, die sich zur doppelten Praedestination, der Unfreiheit des Willens sowie zur persönlichen Berufung, der nicht widerstanden werden kann, bekannte. So mündeten die Wiedertäufer in das Spektrum des Puritanismus ein und öffneten sich damit offenbar zugleich für die einheimische Bevölkerung. In Nordamerika stieg solcher Calvinismus mit Erwachsenentaufe unter der Bezeichnung „Baptist Churches“, Baptisten-Kirchen,* zu einer der größten protestantischen Denominationen der USA auf. – Die Pietisten sind gegen Weber nicht generell zum calvinistischen Lager zu rechnen: Es gibt auf das religiöse Erleben des Einzelnen gegründete Konventikel von Pietisten innerhalb des Calvinismus wie innerhalb des Luthertums, die etwa gleichzeitig entstanden. Die Wurzel dieser nicht-separatistischen Bewegung wird man im Spiritualismus des 16. Jahrhunderts vermuten dürfen. Der Methodismus wiederum entstand im 18. Jahrhundert aus dem Geist des Pietismus zusammen mit calvinistischer Werkfrömmigkeit, wobei der Lehre einer doppelten Praedestination keine entscheidende Bedeutung mehr zukam. Man kann also mit Weber zu den in Nordamerika aus dem Puritanismus hervorgegangenen und deren Werkfrömmigkeit pflegenden Strömungen neben den calvinistischen Presbyterianern und weit weniger zahlreichen Congregationalisten die Baptisten und Methodisten rechnen sowie die Pietisten innerhalb des calvinistischen Lagers.
* von griech. Anabaptisten, Wiedertäufer
Ein Beispiel soll zeigen, wie wenig starr die Grenzen zwischen den einzelnen Varianten des Puritanismus waren. In Boston entstanden 1630 und 1649 zwei Gemeinden von Independenten bzw. Congregationalisten, also von calvinistisch ausgerichteten Protestanten, die auf der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit jeder Einzelgemeinde bestanden, die First Church und die North Church. Unter dem Einfluß ihrer Geistlichen verwarfen sie 1669 jedoch die Kindertaufe, womit sie sich in das baptistische Lager begaben. Diejenigen Congregationalisten Bostons, die damit nicht einverstanden waren, gründeten eine dritte Gemeinde, die Old South Church, in der Benjamin Franklin*, einer der späteren Gründerväter der USA,** am Tage seiner Geburt die Taufe empfing. Doch auch die North Church kehrte unter dem Einfluß ihres Geistlichen, Increase Mather***, der seine Einstellung gegenüber der Kindertaufe änderte, zur früheren Praxis zurück. – Ein gutes Jahrhundert später berief die First Church einen Unitarier, also einen Antitrinitarier, als Geistlichen und wechselte damit erneut das Bekenntnis (1799). Drei Jahre später wurde auch die North Church unitarisch (1802). Die Old South Church hingegen blieb congregationalistisch.
* geb. 1706, gest. 1790
** Franklin war der einzige der Gründerväter, der die Unabhängigleitserklärung (1776), den Frieden mit dem Königreich Großbritannien (1783) und die US-Verfassung (1787) unterzeichnete.
*** geb. 1639, gest. 1723; Geistlicher der North Church von 1664 bis zu seinem Tode
Benjamin Franklins aus England stammender Vater*, angesehenes Gemeindeglied der Old South Church Bostons, ursprünglich ein Färber, 1682 ausgewandert und in der Neuen Welt als Seifensieder sowie Kerzenmacher tätig, besaß eines der zahlreichen Bücher des Bostoner Congregationalisten-Geistlichen Cotton Mather**, nämlich „Essais to Do Good (1710)“, Abhandlungen über das Tun des Guten, aus dem er oft zitierte und dem Benjamin Franklin später entscheidende Bedeutung für seine eigenen Auffassungen zuerkannte: Franklin fand vom calvinistischen Puritanismus congregationalistischer Provenienz zum Deismus, zu dem er sich in seiner Autobiographie von 1771 bekannte, nachdem bereits in seiner Schrift „Articles of Belief and Acts of Religion (1728)“ zentrale Punkte des christlichen Bekenntnisses wie die göttliche Natur des Heilands fehlten. An Benjamin Franklin wird beispielhaft deutlich, daß sich der puritanische Charakter erhalten konnte trotz der Ersetzung des protestantischen Bekenntnisses durch den – im geistigen Umfeld des englischen Antitrinitariertums bzw. Unitarismus sowie der Philosophie John Lockes*** um 1700 entstandenen – Deismus, der davon ausgeht, daß es zwar ein göttliches Urwesen gibt, welches aber die Welt mit den ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten lediglich erschaffen hat, um sich hernach jeglicher Eingriffe zu enthalten; verbreitet war der deistische Vergleich der Welt mit einem Uhrwerk, das einmal aufgezogen anschließend planmäßig ablaufe.
* Josiah Franklin, geb. 1657, gest. 1745
** geb. 1663, gest. 1728; Sohn des oben erwähnten Increase Mather sowie ab 1685 dessen Hilfsgeistlicher und späterer Amtsnachfolger
*** geb. 1632, gest. 1704
Benjamin Franklin veröffentlichte 1737 in „Poor Richard‘s Almanack“, dem Jahrbuch des Armen Richard*, „Necessary hints to those that would be rich“, Wichtige Hinweise für diejenigen, die [gern] reich sein würden. Danach ist der einzelne ethisch verpflichtet zur Vergrößerung seines Kapitals als einem Selbstzweck; Gelderwerb ist Ausdruck der Tüchtigkeit. – Dem Yankee erscheint letztlich das Geldverdienen als Tugend: Dem Verbot des Mammonsdienstes** entgeht er nur, indem er das Geld nicht für sich verwendet, sondern es benutzt, um noch mehr Geld zu verdienen.
* „Poor Richard“ ist die von Franklin im Zuge der Herausgabe des Jahrbücher (1733 bis 1758) erfundene Gestalt eines Philosophen, der seine Lehren nicht auf Studien, sondern die eigene Erfahrungen gründet. – Anzumerken bleibt, daß der Arme Richard (zusammen mit The Pennsylvania Gazette) Franklin reich machte.
** Matth. 6, 24 par.
Solches Verhalten aus subjektiver Überzeugung hat in der Aktiengesellschaft seine objektive Form gefunden. Die Motive für das Verhalten des einzelnen Unternehmers konnten in der Vergangenheit noch durch andere ersetzt werden; so heißt es bei Max Weber: „Der Betrieb etwa einer Bank, oder des Exportgroßhandels, oder auch eines größeren Detailsgeschäfts, oder endlich eines großen Verlages hausindustriell hergestellter Waren sind zwar sicherlich nur in der Form der kapitalistischen Unternehmung möglich. Gleichwohl können sie alle in streng traditionalistischem Geiste geführt werden…“* Dieser erlaubte es beispielsweise, das Unternehmen so zu leiten, daß es von nachfolgenden Generationen weiter betrieben werden konnte. Derartiges ist bei einer Aktiengesellschaft nicht mehr möglich, denn nur ein einziges Anliegen verbindet sämtliche über die Leitung ihres Unternehmens entscheidenden Aktionäre, nämlich daß es möglichst rasch möglichst viel Gewinn erbringe (shareholder value); der Gesetzmäßigkeit der Profitmehrungsmaschine vermag sich keine Unternehmensleitung einer AG zu entziehen. In der Aktiengesellschaft hat sich der calvinistische „Geist“ des Kapitalismus vergegenständlicht,** und auf der Seite der Lohnarbeit bildet der „Job“ das Gegenstück, eine beliebige, aber aus der Sicht des Werktätigen möglichst hoch und aus der Sicht der Aktiengesellschaft möglichst niedrig zu bezahlende Tätigkeit. – Die 1602 gegründete niederländische Ostindien-Compagnie war die erste Aktiengesellschaft. Demnach entstand dieser Typus eines kapitalistischen Unternehmens – wie zu erwarten – im Bereich des Calvinismus.
* Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, I. Das Problem, 2. Der „Geist“ des Kapitalismus
** Bloße Beteiligung am Gewinn als Belohnung für das Vorstrecken von Kapital macht noch kein Unternehmen zur Aktiengesellschaft. Es gehört notwendig dazu die Steuerung des Unternehmens gemäß dem (objektiven) Aktionärsinteresse, das Shareholder-Value-Management, also in diesem Sinne die Herrschaft der Aktionäre über das Unternehmen, gleich ob man sie Eigentümer nennen will oder nicht.
Der puritanische Geist des Kapitalismus beherrschte zusammen mit dem ihm verschwisterten und ebenfalls dem Calvinismus entstammenden manichäischen Denken die Neuenglandstaaten samt Pennsylvanien, seit deren Sieg im Sezessionskrieg aber die USA ins Gesamt. – Der Geist des Kapitalismus zusammen mit dem manichäischen Denken praefigurierte das Paar von Neoliberalismus und Neuer Linker.
Ich frage mich, ob wir nicht alle vom „Geist des Kapitalismus“ (oder besser gesagt durch Kategorien von Markt und Konkurrenz) geprägt sind und auch (über den Erdball hinweg) mehr oder weniger tief „manichäisch“ denken?
Ich vermute es. Aber wie zum Teufel kommt man dazu, daraus eine Ideologie zu machen?
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