Inhaltsverzeichnis

Gedankensplitter (5. Nov.)

1954 lief der Film „Witness to murder“ in den US-Kinos an, der noch in demselben Jahr synchronisiert unter dem Titel „Zeugin des Mordes“ in die bundesdeutschen Lichtspielhäuser gelangte; eine West-Berliner Firma übernahm die Bearbeitung. Dabei kam es zu einer interessanten „Umbesetzung“. Den Part des Mörders übernimmt im us-amerikanischen Original nämlich ein von Nazi-Ideologie geprägter Deutscher namens Albert Richter. Dies mochte man dem BRD-Publikum 1954 noch nicht zumuten, und so wurde aus dem Deutschen ein Mann mit dem ungarisch klingenden Namen Gabor Rethy. – Das Wasser, in welchem der bundesdeutsche Frosch saß, wurde nicht rasch, sondern ganz allmählich erhitzt, so daß er nicht hinaussprang, sondern sich kochen ließ.

Inzwischen würde man wohl umgekehrt verfahren und nach Schuld begierig einem ungarischen Unhold bei der Synchronisierung einen deutschen Namen verpassen. – Bezeichnend für die momentane geistige Situation ist der Wandel in der Haltung des Schriftstellers Walser zur deutschen Kollektivschuld. 2011 wies ich noch in einem Beitrag unter dem Titel „Deutsche Kollektivschuld in der Sicht von Weizsäckers bis Walsers I – II“ darauf hin, daß Walser in seiner Rede anläßlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in der Frankfurter Paulskirche 1998 zur Beendigung der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung alter Schule wesentlich beitrug. Allerdings bildete dies den Auftakt zur Bildung einer Synthese aus BRD-Vergangenheitsbewältigung und DDR-Antifaschismus, die bereits im Jahre 2000 ihren Ausdruck in dem von Kanzler Schröder (1998 – 2005) ausgerufenen „Aufstand der Anständigen“ fand. Diese Synthese wurde im Zuge der fortlaufenden Preisgabe nationaler Zuständigkeiten aufgehoben in die internationale Ideologie des Anti-Racismus; der Holocaust bldet darin nur einen Aspekt in einem weiteren Zusammenhang. Dies hat zur Folge, daß die Elite der Berliner Republik nun im Kampfe an der Seite des übrigen Westens steht. So mochte auch Walser, der 1998 noch in national begrenztem Raume wider den Stachel zu löcken gewagt hatte, sich einer solchen Einheitsfront offenbar nicht mehr entgegenstellen und gab seine frühere Position mit dem Essay „Shmekendike blumen (2014)“ preis, in dem er sich nunmehr rückhaltlos zur deutschen Kollektivschuld bekennt: „Das Ausmaß unserer Schuld ist schwer vorstellbar. Von Sühne zu sprechen ist grotesk. Mir ist im Lauf der Jahrzehnte seit dem Auschwitzprozess [in den sechziger Jahren] bis heute immer deutlicher geworden, dass wir, die Deutschen, die Schuldner der Juden bleiben. Bedingungslos.“

 

2 Kommentare zu „Gedankensplitter (5. Nov.)“

Kommentieren