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Sozialindustrie 2

von virOblationis

Der europäische Kulturraum weist zwei Hälften auf, den – ursprünglich griechischsprachigen – von der sog. Orthodoxie geprägten Osten und den – ursprünglich lateinischen – Westen, das Abendland. Das Römische Reich, das beide Teile umfaßte, zerbrach endgültig 395, und die kulturelle Einheit endete 1054, als der Osten mit dem Patriarchen von Konstantinopel an der Spitze mit Rom, dem Papst, brach. – Wenn man die Vorgeschichte der Sozialindustrie betrachtet, um deren Gegenwart zu verstehen, dann ist es wichtig zu bedenken, daß es sich um eine abendländische Entwicklung bestimmter Teile der Gesellschaft handelt, die für andere Kulturräumen nicht einfach ebenso vorausgesetzt werden kann.

Für die Krankenpflege und die Bildung war bis in die Spätantike hauptsächlich die Familie zuständig. Natürlich kam es vor, daß ein begabter Schüler einen nicht verwandten Förderer fand, oder daß ein Großgrundbesitzer für die medizinische Versorgung seiner Sklaven sorgte, doch dies war nicht unbedingt die Regel. Obwohl also die Gesellschaft bereits recht komplex war, überließ man Krankenpflege und die Bildung der Zuständigkeit des Einzelnen, der sich auf seine Angehörigen stützte. Wenn er aber als Reisender unterwegs erkrankte, vermochten ihm die Seinen nicht zu helfen, und wenn kein Maecen eine Bibliothek stiftete, blieb eine ganze Gegend u.U. ohne den Zugang zu Büchern.

Dieser Zustand änderte sich erst mit dem Christentum, und zwar anfangs im griechischen Osten, zumindest hinsichtlich der Krankenpflege. Der hl. Basilius d. Gr.* entstammte einem sehr wohlhabenden Haus. Auf dem elterlichen Grundbesitz im kleinasiatischen Kappadokien gründete er nach seinen Studienjahren in Konstantinopel und Athen ein Kloster (358). Die Regel dafür, die er zusammen mit seinem Freund, dem hl. Gregor von Nazianz** verfaßte, bildet im orthodoxen Bereich bis heute die Ordnung mönchischen Gemeinschaftslebens. Als Bischof amtierte Basilius ab 370, nachdem er 365 bereits zum Stellvertreter seines Vorgängers erhoben worden war. Bereits in jener Zeit, also 365/370, wird Basilius das nachmals berühmte Pilgerhospiz vor den Toren Caesareas*** gegründet haben, das als Herberge diente, sich auch Erkrankter [unter den Reisenden] annahm und wahrscheinlich einem Kloster angegliedert war; Ärzte wurden in der Einrichtung tätig, und dadurch wird dort bald auch eine Ausbildungsstätte für Mediziner entstanden sein. Außerdem versorgte man dort Bedürftige, und die ortsansässigen Kranken wird man ebenfalls kaum abgewiesen haben. Die finanzielle Grundlage der Einrichtung bildeten Ländereien in der Umgebung Caesareas, die Kaiser Valens**** der Kirche zu diesem Zwecke geschenkt hatte.

* geb. ca. 330, gest. 379

** geb. 329/330, gest. 389/390

*** Hier ist das kappadokische Caesarea gemeint, das heutige Kayseri.

**** 364 – 378

Im lateinischen Westen wurde während des Frühmittelalters, also etwa vom 6. bis zum 11. Jahrhundert, die benediktinische Mönchsregel allmählich zur alleinigen. Der hl. Benedikt von Nursia* hatte sie verfaßt, und der hl. Papst Gregor d. Gr.** sorgte für ihre Verbreitung. So wurde das Benediktinerkloster von Salerno in Süditalien zum Zentrum der medizinischen Ausbildung im Frühmittelalter. Für die Mitte des 9. Jahrhunderts sind dort erstmals Ärzte bezeugt, bei denen es sich anfangs wohl um Kleriker der Umgebung gehandelt haben wird, denn die Ärzteschaft des Frühmittelalters wurde vor allem von Geistlichen gebildet. Erst während des Hochmittelalters, im 12. und 13. Jahrhundert, vollzog sich eine Saecularisierung des ärztlichen Standes; vor allem die chirurgische Tätigkeit wurde den Geistlichen untersagt,*** um zu verhindern, daß eventuell Patienten nach einer Operation durch einen Priester versterben. Doch standen selbst im Spätmittelalter, im 14. und 15. Jahrhundert, noch nicht überall Laienärzte in ausreichender Zahl zur Verfügung, so daß auch weiterhin Kleriker als Mediziner tätig blieben. – Zumindest jede etwa fünftausend Einwohner zählende Stadt des Spätmittelalters wies ein Hospital auf, in dem Ärzte und angelernte Krankenpfleger tätig waren; ein Beispiel für letztere aus dem 16. Jahrhundert bildet der hl. Camillus von Lellis****, der zu Rom im Jakobus-Spital erst als Patient Aufnahme fand und dann als Krankenpfleger tätig war, später im Santo-Spiritu-Spital derselben Stadt, gegründet im 8. Jahrhundert als Pilgerhospiz durch den angelsächsischen König Ine von Wessex*****.

* geb. ca. 480, gest. 547

** 590 – 604

*** Grundsatz: „Ecclesia abhorret a sanguine“, die Kirche hält sich frei vom Blut[vergießen].

**** geb. 1550, gest. 1614

***** 688 – 726, gest. 728 [als Pilger in Rom]

Im Hoch- und Spätmittelalter bildeten sich zahlreiche Laienbrudervereinigungen, die sich der Krankenpflege widmeten. So hatte sich seit der Kreuzfahrerzeit (1096 – 1291) die Lepra im Abendland verbreitet, und es entstanden zahlreiche Einrichtungen, in denen die daran Erkrankten bis zu ihrem Tode betreut wurden; man vermag sich unschwer vorzustellen, daß auch die Pfleger irgendwann an derselben Infektionskrankheit zu leiden begannen wie ihre Patienten und deren Schicksal teilten. – In Frankreich z.B. existierten während des 13. Jahrhunderts mehr als zweitausend Leprosorien außerhalb der Ortschaften.

HerzJesuAls Beispiel für eine deutsche Bruderschaft solcher todgeweihten Krankenpfleger sei das Wappen einer solchen angeführt, das Lucas Cranach d.Ä.*, später der Maler der Reformation schlechthin, 1505 in einem Holzschnitt dargestellt hat. Man sieht vier Heilige, die – außerhalb einer Ortschaft knieend – das Herz Jesu verehren, und zwar Maria und Johannes den Evangelisten, umgeben von zwei Pestpatronen, und zwar den hl. Sebastian und den hl. Rochus, erkenntlich an den Pfeilen und dem vorgezeigten Knie; die Muttergottes und der Lieblingsjünger harrten unter dem Kreuz aus, so daß sie dem Heiland, dessen Herz am Ende durchbohrt wurde, bis zuletzt besonders nahestanden und von dem Sterbenden noch einander anvertraut wurden. Die beiden Pestpatrone auf dem Wappen weisen darauf hin, daß es sich bei der Bruderschaft, die den Holzschnitt in Auftrag gab, um eine Vereinigung gehandelt haben wird, die sich der Pflege von Menschen widmete, die von einer tödlichen Infektionskrankheit befallen waren. – Auch solche Bruderschaften dürfte der Vernichtungssturm der Reformation hinweggefegt haben wie so viele Formen der Frömmigkeit. Pilgerhospize verschwanden. Die Krankenpflege fiel im Bereich des Protestantismus offenbar wieder auf den Stand der heidnischen Antike zurück.

* geb. 1472, gest. 1553

Für die Bewahrung der Reste antiker Bildung sorgten die Benediktinerklöster des Frühmittelalters. Sie kopierten, was an lateinischen Handschriften erhalten geblieben war und vermittelten die darauf gegründete Bildung in ihren Klosterschulen. – Knaben und Mädchen, die die Lehrstätten von Mönchen oder Nonnen besuchten, lebten wie in einem Internat, da Benediktinerklöster gewöhnlich auf dem Lande lagen, denn Grundbesitz bildete ihre finanzielle Grundlage. Erst mit dem Wiederaufleben der Stadtkultur im Hochmittelalter übertrafen manche Dom- bzw. Kathedralschulen die klösterlichen an Bedeutung.

Schulen am Sitz eines Bischofs existierten freilich schon viel länger; so hatte die unter dem Vorsitz des hl. Isidor von Sevilla* tagende vierte nationale Synode von Toledo im iberischen Westgotenreich bereits 633 beschlossen, daß in sämtlichen Bischofsstädten Schulen einzurichten seien. – Ab dem 13. Jahrhundert entwickelten sich Universitäten, ursprünglich Einrichtungen päpstlichen Rechts, zu den bedeutendsten Bildungseinrichtungen des Abendlandes. Am Beginn der Entwicklung stand die Universität von Paris, die Gemeinschaft von Lehrern und Scholaren,** die Gregor IX. 1231 mit dem Recht zur Selbstverwaltung unter päpstlichem Schutz privilegierte, wodurch sie dem Zugriff von Seiten des Bischofs sowie weltlicher Behörden entzogen wurde.***

* geb. ca. 560, gest. 636

** universitas magistrorum et scholarium, Gesamtheit der Magister und Scholaren

*** Bulle „Parens scientiarum“

Universitäten bestanden nach der Reformation weiter; neue kamen hinzu. Kathedralschulen für Knaben ließen sich saecularisieren und als Lateinschulen weiterführen. Doch die klösterlichen Ausbildungsstätten der Mädchen, wie die, in der beispielsweise die hl. Hildegard* ihre Bildung erhalten hatte, fielen im protestantischen Bereich anscheinend einfach weg. Mochten Nonnenklöster also in Damenstifte umgewandelt weiterbestehen, doch Unterricht scheint dort nicht mehr erteilt worden zu sein.

* geb. 1098, gest. 1179

 

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