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Sozialindustrie 4

John Locke gehört von seiner Lebenszeit her fast gänzlich dem 17. Jahrhundert an, doch seine philosophischen Schriften sind der Aufklärung des 18. Jahrhunderts zuzuordnen.* Locke wurde 1632 als Sohn eines Rechtsgelehrten im südwestlichen England geboren; die Eltern waren Puritaner, englische Calvinisten, und der Vater focht im Englischen Bürgerkrieg (1642 – 1649) auf der Seite Cromwells**. Während dessen Herrschaft studierte John Locke – nach dem Besuch der Londoner Westminster School – im Christchurch College zu Oxford; an der dortigen Universität lehrten bereits auch Gegner der nominalistischen Scholastik, und es hielten sich am Orte auch Privatgelehrte wie der Chemiker Sir Robert Boyle*** auf, den Locke ebenso kennenlernte wie dessen Freund, den Arzt Thomas Sydenham****. Sie regten Locke zu naturwissenschaftlichen Experimenten an und weckten das Interesse an der Medizin in ihm.

* Wie aktuell Lockes Positionen tw. noch immer sind soll ein Beispiel andeuten: So forderte er religiöse Toleranz, die Mohammedaner, Juden und Heiden einschließen sollte, nur Katholiken und Atheisten nicht; noch heute verabscheut die veröffentlichte Meinung alles, was auch nur einen Anflug von Treue zur katholischen Religion aufweist, während man den Islam – gegen die tagtägliche Erfahrung – als integrierbaren Teil der liberalen Gesellschaft vorzustellen sucht, vom Judentum ganz zu schweigen. („Ob Jude, Christ, ob Hottentot, wir glauben all‘ an einen Gott.“ Erich Kästner)

** Oliver Cromwell; geb. 1599, gest. 1658

*** geb. 1627, gest. 1692

**** geb. 1624, gest. 1689

Als Gegner der 1660 wiederhergestellt Königsherrschaft der Stuarts zog Locke einen Aufenthalt in Frankreich und den Niederlanden England vor (1675 – 1679 und 1683 – 1689), und er kehrte erst zurück, als durch durch die Glorious Revolution (1688) und die Bill of Rights (1689) eine konstitutionelle Monarchie in England hergestellt worden war. Locke verbrachte dort die restlichen Jahre seines Lebens, meist in ländlicher Umgebung, zufrieden und zurückgezogen; er starb 1704.

Lockes bedeutendstes philosophisches Werk, an dem er von 1670/1671 bis 1687 gearbeitet hatte, „An Essay concerning human understanding“, Ein Versuch betreffend das menschliche Verstehen, erschien noch in den Niederlanden (1690). Darin vertritt Locke die These, daß alle Erkenntnis erst während des Lebens mittels Erfahrung zu Stande kommt; meist wird Locke deswegen als Vertreter des Sensualismus bezeichnet, doch beruft er sich gar nicht allein auf sinnliche Wahrnehmung, sondern ebenso auf die Selbstwahrnehmung im eigenen Inneren. Daran aber ist ihm gelegen, daß der Mensch als ein ursprüngliches „white paper“, weißes [bzw. unbeschriebenes] Papier, aufgefaßt wird, also als tabula rasa, wonach sämtliche Ideen des Menschen auf Erfahrung beruhen. – Mit „tabula rasa“ wurde seit Aegidius Romanus* Aristoteles‘** Aussage in De anima III, 4 429 b – 430 a wiedergegeben, wonach das vernunftgemäße Erkennen zu Beginn einer Schreibtafel gleiche, auf der noch nichts geschrieben steht. Dies nahm die Stoa auf, und durch sie verbreitete sich diese Vorstellung, doch steht sie in der Stoa in ganz anderem Zusammenhang als bei Locke, denn nach der Stoa bleibt vom Menschen im Tode nichts als der Logos, der Anteil an der Vernunft, der wiedereingeht in den göttlichen Logos, während der Körper mit seinen Sinnesorganen samt der Seele zerfällt. Es gibt also keine bleibende menschliche Natur o.ä. Anders bei Locke, der zwar in bezug auf das Erkennen von einem weißen [Blatt] Papier spricht, doch sei neben der Fähigkeit zur Erkenntnis bereits zu Beginn im Menschen ein Verlangen nach Glück und die Ablehnung von Unglück vorhanden, [der Wille]; so prägte Locke die Wendung „pursuit of happiness“, Streben nach Glück, die in die us-amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) aufgenommen wurde.

* geb. vor der Mitte des 13. Jahrhunderts, gest. 1316

** geb. 384, gest. 322 v. Chr.

Auch wenn Locke in bezug auf die Erkenntnis davon ausgeht, daß alle Inhalte erworben sind, daß nichts angeboren ist, so meint er doch, aus der Erfahrungswelt des Menschen ohne weiteres auf die Existenz Gottes schließen zu können, und auch die christliche Offenbarung lehnt er nicht ab. Wie er behende zur Metaphysik gelangt, so auch vom ganz durch seine Erfahrung bestimmten Menschen zu einer ihm vorgegebenen Natur, die offenbar nicht mit dem Körper zu Grunde geht, da sie allen Menschen, wie verschieden sie auch sein mögen, gemeinsam ist, so daß sie nach Glück streben; es muß sich demnach um eine immaterielle Natur handeln, die allen Menschen gemeinsam ist.

Nach Locke sollte der Mensch in all seinen Ideen durch Erfahrung bestimmt sein: Wenn man dies politisch begriff, dann vermochte man den Menschen als ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse zu verstehen, unter denen er herangewachsen war. Diese Sichtweise birgt keinerlei kritisches Potential, sondern erklärt nur, warum die Menschen sind, wie sie sind. – Aber Locke ist eben ein wenig rigider Denker, und wie er vom Physischen leicht zum Metaphysischen gelangt, so vom Sensualismus zur immateriellen Natur des Menschen. Aber damit eröffnet Locke die Möglichkeit, den Menschen einerseits als ein Produkt der Gesellschaft zu verstehen und ihm andererseits eine Natur zu unterstellen, die im Widerspruch zur Gesellschaft steht. Dies erscheint zwar fragwürdig, denn warum hätte der Mensch Gemeinwesen schaffen sollen, die seiner Natur entgegen stehen, doch trotzdem wurde diese Locke‘sche Konzeption aufgegriffen, und zwar vor durch die französische Aufklärung.

Das kritische Potential ergibt sich aus der Konstruktion eines Widerspruches zwischen der Natur des Menschen und der Gesellschaft, in der er lebt, so als hätte ihn eine fremde Macht in sie hineinversetzt. – Die beiden französischen Aufklärer de Condillac* und Helvetius** entwickelten den Gedanken einer natürlichen Gleichheit der Menschen, die beeinträchtigt wird durch das Leben in einer Gesellschaft, die die Unterschiede zwischen den Menschen hervorbringt. – Rousseau*** bestritt in seinem „Discours sur l‘origine et les fondements de l‘inégalité parmi les hommes (1755)“ zwar die Gleichheit der Menschen in gewisser Weise und betonte mehr deren ursprüngliche Freiheit, doch fand er den Weg zur Wiederherstellung der natürlichen Beschaffenheit des Menschen gegen den ihr widrigen Einfluß der Gesellschaft: die Erziehung. Sie legt die Natur des Menschen frei, die von der gesellschaftlichen Prägung überdeckt wird.

* Étienne Bonnot de Condillac; geb. 1714, gest. 1780; hier: „Traité des sensations (1754)“

** Claude Adrien Helvétius; geb. 1715, gest. 1771; hier: „De l‘homme, de ses facultés intellectuelles et de son éducation (1773)“

*** Jean-Jacques Rousseau; geb. 1712, gest. 1778; hier: „Émile ou de l‘éducation (1762)“

Den Gedanken der Erziehung zur Wiederherstellung der menschlichen Natur vermochten sowohl Anhänger der Gleichheit wie der Freiheit aufzunehmen. – Dieser Erziehungsgedanke ließ sich vielfältig anwenden. So konnte man die Zucht- und Arbeitshäuser in Anstalten zur Resozialisierung verwandeln; dies eröffnete eine neue, moderne Perspektive des Rechtsverständnisses. Allerdings entstand auf diese Weise auch der Gedanke der Umerziehung, die den Menschen zu sich selbst bringen soll, doch von jeder Ideologie, die eine bestimmte mit den gesellschaftlichen Verhältnisse inkompatible Natur des Menschen postuliert, in ihren Umerziehungslagern angewendet werden kann. Außerdem gesellte sich zum Gedanken der Erziehung sogleich der des Umsturzes, damit nicht nur der einzelne wieder zu seiner natürlichen Beschaffenheit finde, sondern auch die Gesamtheit; zugleich ließ sich damit eine künftige Fehlentwicklung der Gesellschaft ausschließen. Die Gedanken von (Um)erziehung und Umsturz mündeten in die 1789 ausbrechende Revolution, mit der das 18. Jahrhundert zu Ende ging und die Moderne anhob.

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