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Die Entstehung der anti-racistischen Ideologie (3)

Einer der bedeutendsten Prediger des Second Great Awakening in den USA war Lyman Beecher, dessen Erweckung sich 1803 während einer Predigt Timothy Dwights in Yale vollzog. Lyman Beecher war zu dieser Zeit bereits Geistlicher, nachdem er sein Theologiestudium in Yale 1797 abgeschlossen hatte. – Er entstammte einer Handwerkerfamilie: Lyman Beechers Vater war Grobschmied in New Haven (Connecticut), und der scheint seinen Geburtsort bis zum Tode nicht verlassen zu haben. Dort kam also auch sein Sohn Lyman 1775 als zweitjüngstes von fünf Kindern zur Welt; die Kinder entstammten vier verschiedenen Ehen, und zu guter Letzt heiratete der offenbar immer wieder verwitwete Samuel Beecher* noch ein fünftes Mal; insofern entstammte Lyman Beecher einer doch eher bunt zusammengewürfelten Familie, und wenn man dann noch bedenkt, daß Lyman Beecher während des Unabhängigkeitskrieges (1775 – 1783) aufwuchs, dann darf man wohl sagen, daß er wenig sicheren – und gewiß auch wenig wohlhabenden – Verhältnissen entstammte. Dennoch gelang es ihm, Theologie in Yale zu studieren;** sein dortiger Förderer war Timothy Dwight, der Präsident der Hochschule, dessen begeisterter Anhänger Lyman Beecher nach seiner Erweckung 1803 wurde.

* geb. 1738, gest. 1805

** Die 1701 gegr. Hochschule war 1716 von Killingworth (Connecticut) nach New Haven (Connecticut) verlegt worden.

1799 hatte Lyman Beecher sein Amt als Geistlicher einer Presbyterianergemeinde auf Long Island angetreten und Roxana Ward* geheiratet, die Mutter von acht Kindern wurde, bevor sie 1816 verstarb. – Zu jener Zeit hatte Lyman Beecher bereits eine congregationalistische Gemeinde in Litchfield (Connecticut) übernommen; ihr stand er seit 1810 vor und predigte nunmehr als Vertreter der erweckten „New School“ gegen Katholizismus und aufgeklärten Rationalismus in Gestalt des Unitarismus sowie gegen den Alkoholgenuß; zugleich gehörte Lyman Beecher derjenigen theologischen Bewegung an, die sich mit der Unternehmerschaft vor allem des Nordens verbündet hatte in der Ablehnung der Sklaverei.

* geb. 1775, gest. 1816

Die Biographie seiner Tochter Harriet* läßt erkennen, daß Lyman Beecher durch den Tod der Ehefrau „den Boden unter seinen Füßen verlor“; ohne sie war er ganz hilflos. So erstaunt es nicht, daß er nach Ablauf eines Jahres erneut heiratete, und zwar eine gewisse Harriet Porter**, Tochter eines bekannten Arztes, der seit 1810 in Portland (Maine) wirkte.*** Sie scheint unerbittlich streng gewesen zu sein, und ihre Engherzigkeit wurde – nicht etwa durch ihren Ehemann Lyman Beecher, sondern – durch einen congregationalistischen Geistlichen abgemildert, bei dem es sich um den in Portland wirkenden Edward Payson**** gehandelt haben wird, der als Erweckungsprediger tausende von Hörern anzog und zu dem Harriet Beecher den Kontakt offenbar aufrecht erhalten hatte. – Harriet Beecher wurde Mutter von vier Kindern.

* geb. 1811, gest. 1896 – Charles Edward Stowe (geb. 1850, gest. 1934), „Life of Harriet Beecher Stowe. Compiled from her Letters and Journals (1889; dtsch. Harriet Beecher Stowe. Briefe und Tagebücher, 1892)“

** geb. 1790, gest. 1835

*** Es handelte sich um Aaron Porter (geb. 1752, gest. 1837), der zuvor seit 1773 in Biddeford (Maine) praktiziert hatte.

**** geb. 1783, gest. 1827

1826 wechselte Lyman Beecher auf eine Pfarrstelle in Boston, wo er mehr Geld verdiente als zuvor. – Die Höhe der Bezahlung bildete – zumindest in den Augen seiner Tochter Harriet – auch einen Gradmesser für die Beliebtheit eines Geistlichen; ein recht fremdartig anmutender Gedanke angesichts der Rede des Heilands vom Mietling*, doch ist dazu eben zu bedenken, daß der Wohlstand als in klingender Münze greifbar gewordener Erfolg im Calvinismus, soweit er die doppelte Praedestinationslehre vertritt, als Zeichen der Erwählung gedeutet worden ist.

* Joh. 10, 12

Lyman Beecher predigte zwar gegen den Alkohol, und 1827 wurden seine sechs Predigten über die Zügellosigkeit* veröffentlicht, doch war die Atmosphäre in seinem Hause nicht so unbedingt freudlos wie im Calvinismus der „Old School“. So untersagte Lyman Beecher zwar generell das Lesen von Romanen, doch machte er eine Ausnahme in bezug auf die Werke Scotts**, ins Besondere den „Ivanhoe (1820)“.

* Lyman Beecher, „Six Sermons on the nature, occasions, signs, evils und remedy of Intemperance (1827)“, Sechs Predigten über die Natur, Anlässe, Anzeichen, Übel und [das] Heilmittel der Zügellosigkeit

** Sir Walther Scott; geb. 1771, gest. 1832; geadelt 1820

Den Zenit erreichte Lyman Beechers Laufbahn 1832, da ihn die drei Jahre zuvor gegründete Theologische Hochschule Cincinnatis, das Lane Seminary, als Rektor mit der Leitung beauftragte. Daraufhin zog er mit seiner zweiten Ehefrau und den Kindern – soweit diese nicht bereits verheiratet oder sonstwie an einen anderen Ort gebunden waren – nach Cincinnati im Gebiet westlich von Pennsylvanien und nördlich des Ohio, das sich 1803 als Staat konstituiert hatte, der seinen Namen nach dem vorgenannten Fluß erhielt. Sogleich sorgte Lyman Beecher für die Einrichtung einer weiteren Professur, die der biblischen Theologie* gewidmet sein sollte. Sie wurde mit einem jüngeren Geistesverwandten Beechers besetzt (1833), einem ebenfalls der Erweckung anhangen Theologen: Calvin E. Stowe. – Stowes aus Massachusetts stammender Vater war Bäcker; doch verstarb er früh, so daß die Mutter mit Calvin und dessen jüngerem Bruder zu ihren Eltern zurückkehrte. Während seiner Papiermacherlehre begann der hochbegabte Calvin, sich selbst mit Hilfe eines ihm überlassenen Lehrbuches Latein beizubringen. Er fand einen protestantisch gesinnten Förderer, der ihm den Besuch einer höheren Schule ermöglichte. 1824 absolvierte Calvin Stowe seine Abschlußprüfung am Bowdoin College in Maine, wo er noch zwei Jahre lang als Bibilothekar arbeitete, bevor er ein theologisches Studium in der congregationalistisch ausgerichteten Hochschule von Andover in Massachusetts aufnahm. Dort lernte Calvin Stowe die Theologie der protestantisch-deutschen Erweckung kennen und wurde ein Anhänger des Hallenser Professors Tholuck***. Nach Abschluß seines Studiums (1829) gab Stowe eine religiöse Zeitschrift heraus, den „Boston Recorder“, bis er als Professor für Latein und Griechisch an das Dartmouth College in Hannover (New Hampshire) berufen wurde (1831). Er heiratete die Tochter des Rektors (1832) und nahm wenig später den Ruf nach Cincinnati an.

* Es werden „biblical studies“ und “biblical literature” genannt.

** Calvin Ellis Stowe; geb. 1802, gest. 1886

*** Friedrich-August Tholuck; geb. 1799, gest. 1877; Sohn eines Goldschmiedes, der sich nach seinem Erweckungserlebnis (1818) der Theologie zuwandte. Bekannt wurde Tholuck durch seinen urspr. anonym veröffentlichten Briefromen „Guido und Julius. Der Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder Die wahre Weihe des Zweiflers (1823)“. Ab 1826 war der hochgelehrte Tholuck, zugleich Vertreter einer aufdringlichen Empfindungstheologie, fünfzig Jahre lang als Professor in Halle tätig. Tholuck wandte sich als Supranaturalist unter Verteidigung von Wundern gegen den Rationalismus und als überkonfessionell ausgerichteter Protestant gegen den Katholizismus.

Doch bereits 1834 erschütterte ein Streit das Lane Seminary Cincinnatis. Zwei Richtungen des Abolitionismus standen einander gegenüber. Auf der einen Seite befanden sich die Gemäßigten wie Beecher* und Stowe, die bei der Abschaffung der Sklaverei an eine Heimführung der Schwarzen nach Afrika dachten; ab 1821 war eine dauerhaft besiedelte us-amerikanische Kolonie an der afrikanischen Westküste entstanden, die seit 1824 Liberia genannt wurde.** Der Plan einer Ansiedlung freigelassener Schwarzer in Afrika war auch von den US-Präsidenten Jefferson (1801 – 1809) und Madison (1809 – 1817) unterstützt worden. Doch inzwischen waren die radikaleren Abolitionisten erstarkt, die objektiv die Interessen der Unternehmerschaft vertraten: Sie wollten die Schwarzen keineswegs ziehen lassen, sondern innerhalb der USA emanzipieren bzw. sie als billige Arbeitskräfte im Lande halten. Diesem Flügel der Abolitionisten gehörte auch eine Gruppe von Studenten des Lane Seminary um Professor John Morgan*** an, die mit den Gemäßigten öffentlich stritten. – Die studentische Verbindung der radikalen Abolitionisten wurde aufgelöst und John Morgan ohne Beechers Einwilligung entlassen. Morgan verließ zusammen mit den rebellierenden Studenten Cincinnati und fand ebenso wie sie Aufnahme im 1833 gegründeten Oberlin Collegiate Institute in Ohio.

* Obwohl Beecher zu den Gegnern des US-Demokraten Andrew Jackson gehörte, zu den Whigs, aus deren Reihen später die Partei der US-Republikaner hervorging, und trotz seines Eintretens für den Abolitionismus scheint der anti-indianische Racismus Jacksons mit (weitgehender Vernichtung der Stämme und) Aussiedlung (der Reste) in das Gebiet westlich des Mississippi für Beecher kein ebensolches Problem dargestellt zu haben wie die Versklavung der Schwarzen.

** 1847 erklärte Liberia die Unabhängigkeit, die von den USA erst 1862 anerkannt wurde, weil die radikalen Abolitionisten die Abwanderung von Schwarzen dorthin befürchteten.

*** geb. 1802, gest. 1884

1835 wurde Lyman Beecher von einem Vertreter der calvinistischen „Old School“ der Irrlehre angeklagt, da Beechers Auffassung vom gefallenen Menschen nicht negativ genug sei: Es ging um die Lehre der Erbsünde und der geistlichen Wiedergeburt. Hinzu kam eine Anklage wegen übler Nachrede, „slander“, und Heuchelei, „hypocrisy“. Die Anzeige war durch den Geistlichen einer Presbyterianergemeinde Cincinnatis ergangen; die „Old School“ war vor allem im us-amerikanischen Presbyterianismus verwurzelt, die erweckte „New School“ im Congregationalismus. Die Verhandlung fand Juni 1835 vor dem Presbyterium Cincinnatis statt; zu diesem Zeitpunkt rang Beechers zweite Ehefrau bereits mit dem Tode.* Lyman Beecher bekannte sich zu dem, was ihm als Abweichung vom Bekenntnis vorgeworfen wurde, vertrat aber den Standpunkt, dies sei mit dem calvinistischen Bekenntnis vereinbar. Der Fall erweckte öffentliches Interesse; so berichtete der „New York Observer“ im September 1835 ausführlich darüber. – Lyman Beecher wurde vom Presbyterium in Cincinnati freigesprochen, der Fall jedoch einer presbyterianischen Generalsynode übergeben, die den Fall 1837 bis 1838 noch einmal verhandelte und Beecher ihrerseits ebenfalls freisprach.

* Sie verstarb am 7. Juli 1835.

Nach dem Tod seiner zweiten Ehefrau heiratete Lyman Beecher 1836 noch einmal, und zwar die Witwe Lydia Jackson* aus Boston. – In demselben Jahr vermählte sich seine Tochter Harriet mit Professor Stowe, der seit 1834 verwitwet war; seine erste Ehefrau war nach kinderloser Ehe an der Cholera verstorben. Nunmehr waren die gleichgesinnten Theologen Beecher und Stowe auch familiär miteinander verbunden.

* geb. 1789, gest. 1869

1850 erhielt Calvin Stowe, der sich inzwischen als Paedagoge einen Namen gemacht hatte, einen Ruf an das Bowdoin College in Brunswick, das er als Schüler selbst besucht hatte. Stowe nahm ihn an, und Beecher trat mit nunmehr fünfundsiebzig Jahren in den Ruhestand. Er verließ Ohio und zog mit seiner dritten Ehefrau zu seinem Sohn Henry Ward Beecher,* der seit 1847 als Geistlicher in Brooklyn tätig war und als Prediger enormen Zulauf hatte. – 1863 verstarb Lyman Beecher dort,** seine dritte Ehefrau sechs Jahre danach.

* geb. 1813, gest. 1887

** Beigesetzt wurde er an seinem Geburtsort, New Haven in Connecticut.

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