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Notizen zur Utopie (1)

Verschiedentlich thematisiert Manfred Kleine-Hartlage in seinen Veröffentlichungen die Gründung linker Ideologien auf Utopien,  auf Voraussetzungen, die sich rational kaum plausibel machen lassen, sondern die als Grundannahmen gläubig anzunehmen sind, um von ihnen her die Wirklichkeit zu deuten, obwohl sie der alltäglichen Erfahrung widersprechen. – Diese Auffassung linker Ideologie steht im Kontrast zu deren Selbstverständnis, denn ins Besondere der Marxismus-Leninismus, versteht sich als Wissenschaft; doch setzt die Wissenschaftlichkeit eben erst ein, nachdem man die Grundannahmen akzeptiert hat. Ein von Manfred Kleine-Hartlage öfter gebrauchtes Bild veranschaulicht dieses Problem folgendermaßen: Erst wenn ich grundsätzlich akzeptiert habe, daß der Regen – entgegen meiner alltäglichen Erfahrung – nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben fällt, dann kann ich in einem zweiten Schritt daran gehen, dies wissenschaftlich zu begründen.

Woher stammt die Utopie, die in der Moderne – vor allem in Gestalt des Marxismus – so verheerende Folgen nach sich gezogen hat? – Niemand hat die Utopie auaführlicher behandelt als der wortreiche Bloch*, und er sieht sie im menschlichen Dasein begründet, obwohl er eine menschliche Natur leugnet; Bloch spricht vom Prinzip Hoffnung** und zielt auf die erfüllten Augenblicke im Leben, die vorwegnehmen, was einst die gesamte Wirklichkeit ausmachen soll. – Dieser Ansatz vermag nicht zu überzeugen, weil er die Frage nicht beantwortet, warum utopisches Denken in manchen Phasen der Geschichte vermehrt in Erscheinung tritt und zu anderen Zeiten gänzlich auszubleibt, soweit man nicht jedem irrationalen Wunsch eines Menschen utopische Qualität zuschreibt, was aber das Besondere des utopischen Denkens so verallgemeinern würde, daß es unkenntlich wird.

* Ernst Bloch; geb. 1885, gest. 1977

** Der Titel seines Hauptwerkes lautet „Das Prinzip Hoffnung (1954 – 1959)“.

Schon im Altertum hatte sich die Kirche mit dem Chiliasmus auseinanderzusetzen, mit einem allzu diesseitig gedachten tausendjährigen Reich Christi*.  Die Kirche verurteilte dies als vom Judentum inspirierten Irrglauben, und vom Ausgang der Antike bis zum Ende des Mittelalters verschwand der Chiliasmus weitgehend. Der Zisterzienserabt Joachim von Fiore** mit seiner Ankündigung eines nahenden Zeitalters des Geistes bleibt eine Ausnahmeerscheinung, bei der man überdies fragen muß, wie utopisch bzw. paradiesisch das dritte Zeitalter, das 1260 anbrechen sollte, gedacht ist; weist es – verstanden als Ideal eines von jeglicher kirchlichen Autorität freien Mönchtums – utopischeren Charakter auf als Platons Idealstaat? – Die Kirche jedenfalls hat Joachims Prophezeiungen, die auch Zahlenspekulationen enthalten, aber das dritte Reich als das des Geistes nicht ausdrücklich mit dem tausendjährigen der Geheimen Offenbarung identifizieren,*** noch vor dem Eintritt des Jahres 1260 als irrig verurteilt (1256).

* vgl. Apok. 20; zur Ausrichtung des Chiliasmus an jüdischer Eschatologie s. Origenes, De princ. 2, 11, 2

** geb. ca. 1132, gest. 1202

*** Wenn Joachims franziskanische Anhänger während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Kaiser Friedrich II. (1215 – 1250) den Antichristen sahen, der – als das Tier – zusammen mit dem Pseudopropheten vor dem Anbruch des tausendjährigen Reiches besiegt wird, (Apok. 19, 19 – 21) dann identifizierten sie das Zeitalters des Geistes allerdings mit dem tausendjährigen Reich (aus Apok. 20).

In dem 1066 von der Normandie aus eroberten England herrschte eine ganz besondere gesellschaftliche Konstellation, dort bildeten während des Hoch- und Spätmittelalters die Angelsachsen das Volk und der normannische Adel die Obrigkeit des Ersten und Zweiten Standes; zum sozialen Gegensatz zwischen Adel und Bauern samt Handwerkern trat hier ein ethnischer, so daß in der Zeit, als man vergaß, daß es bis 1066 eine angelsächsische Obrigkeit gegeben hatte, die Vorstellung entstehen konnte, man bräuchte lediglich die Normannen zu vertreiben und lebte danach von ihnen frei in einer egalitären Gesellschaft.* Der Bauernführer John Ball** brachte dies treffend zum Ausdruck: „When Adam dalf und Eve span, / Who was then the gentleman?“ Als Adam grub und Eva spann, / Wer war da der Edelmann? – So scheint England ein fruchtbarer Boden für die Vorstellung der Schaffung eines irdischen Paradieses gewesen zu sein. Der hl. Lordkanzler und Martyrer Thomas More*** veröffentlichte als Renaissancehumanist 1516 seine „Utopia“, in der er ein Ideal von Staat und Gesellschaft entwarf; im Titel ist die Rede vom besten Zustand des Staatswesens „(de) optimo reip.[ublicae] statu“, lokalisiert auf einer fernen Insel. Damit knüpft Thomas More an Platons**** Idealstaat an, der sich allerdings auf die Philosophenkönige und die ohne Familienleben und Besitz lebende Elite der Wächter konzentriert, nicht auf den Dritten Stand; Platons Polis gleicht insofern eher einem Kloster. Thomas More hingegen will die Abschaffung des Privateigentums in der gesamten Gesellschaft durchsetzen,***** um alle Güter gleichmäßig zu verteilen und so Gerechtigkeit herzustellen, jedoch keine vollkommene soziale Gleichstellung aller.

* vgl. die im Spätmittelalter auftauchenden Balladen von Robin Hood

** gest. 1381 (hingerichtet)

*** latein. Thomas Morus; geb. 1478, gest. 1535 (hingerichtet)

**** geb. 427, gest. 347 v. Chr.

***** s. Utopia, Erstes Buch, wo in diesem Zusammenhang auf Plato verwiesen wird

 

 

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