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Die Entstehung der anti-racistischen Ideologie (12)

Fanons erstes Buch reißt einen unüberbrückbaren Graben zwischen Schwarz und Weiß auf. Daran knüpft sein letztes und bekanntestes Werk, „Die Verdammten dieser Erde (1961)“* an. Kolonialherr und Kolonisierter samt deren Lebenswelten werden als vollkommene Gegensätze dargestellt [und diese racisch verstanden]. Fanon selbst gebraucht dazu das Subjekt Manichäismus und auch das Adjektiv manichäisch, „manichéisme“ und „manichéiste“,** und zwar in primär racischem Sinne, der danach auf die Kultur ausgedehnt wird. Die [weißen] Siedler seien solchem Manichäismus von Beginn an gefolgt, mit dem Aufstand jedoch sei er auch der Gegenseite bewußt geworden: „Le peuple, qui au début de la lutte avait adopté le manichéisme primitif du colon: les Blancs et les Noirs, les Arabes et les Roumis, …“*** Das [nicht-weiße] Volk, das zu Beginn des Kampfes den vom Siedler ursprünglich[ vertreten]en Manichäismus angenommen hat: die Weißen und die Schwarzen, die Araber und die Christen… – Das Christentum ist eine Religion ausschließlich der Weißen, also der Kolonialherren. Der Kontakt zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten besteht einzig in Gewalt (durch Polizei und Militär). Die überbordende Aggressivität und Kriminalität der Kolonisierten ist allein Folge der Kolonialisierung. Denn die Kolonisierung war immer ein gewaltsamer Vorgang, und so ist es die Dekolonialisierung ebenfalls; eigentlich schlußfolgert Fanon, daß die Kolonisierung ein gewaltsamer Vorgang gewesen ist, denn die Dekolonialisierung sei es ja schließlich auch, und sie müsse doch eine gleichförmige Reaktion auf das zuvor Geschehene sein. Statt Politik und damit in der Konsequenz auch den Krieg als Durchsetzung von Interessen zu begreifen, verstrickt sich Fanon in den Schlingen seines eigenen Ressentiments.

* „Les damnés de la terre (1961; dtsch. Die Verdammten dieser Erde, 1966)“

** passim – und zwar mit einer Ausnahme, s. die folgende Anm. – in [Chapitre] I des Buches; z.B.: „Le monde colonial est un monde manichéiste.“ Die Kolonial-Welt ist eine manichäische Welt.

*** der einzige Beleg für „manichéisme“ / „manichéiste“ in [Chapitre] II

Das von Haß strotzende Buch wurde von dem an Leukämie erkrankten Fanon sozusagen auf dem Sterbebett vollendet, und – der in „Schwarze Haut, weiße Masken“ häufig zitierte – Sartre*, der Fanon, inzwischen mit ihm befreundet, kurz vor dessen Tod noch in Rom besuchte und weinend von ihm Abschied nahm, schrieb das Vorwort dazu. Auch Sartre mochte nicht zurückstehen und stieß in dasselbe Horn des Hasses; dabei mochte er glauben, weiterexistieren zu dürfen, wenn er sich nur willig den künftigen Siegern andiene: „ … einen [weißen] Europäer abzuschießen, das heißt zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, [nämlich] zugleich einen Unterdrücker auszutilgen und einen Unterdrückten: es bleiben [danach] ein toter Mensch und ein freier Mensch übrig; …** Ja, wer einmal ein racistisches Haßpamphlet lesen möchte, dem seien „Die“ nicht lange nach ihrem Erscheinen in neunzehn Sprachen übersetzten „Verdammten dieser Erde“ wärmstens empfohlen.

* Jean-Paul Sartre; geb. 1905, gest. 1980

** „… abattre un Européen, c‘est faire d‘une pierre deux coups, supprimer en même temps un oppresseur et un opprimé: restent un homme mort et un homme libre; …“ – Der weiße Europäer Sartre schließt sich Fanon so treu an, daß er lediglich in der Schreibweise einmal abweicht, da er von „lumpenproletariat“ ohne Bindestrich und ohne Akzent schreibt, während bei Fanon von „lumpen-prolétariat“ die Rede ist.

Der Titel des Buches, „Les damnés de la terre“ ist der ersten Strophe der – ursprünglich auf französisch verfaßten – Internationale entnommen; sie beginnt: „Debout! Les damnés de la terre!“, „Wacht auf Verdammte dieser Erde…“ Die Internationale richtet sich an die [weißen] Proletarier als revolutionäres Subjekt, und auf eben dieses letztere zielt auch „Les damnés de la terre“, aber nicht mehr auf den [weißen] Proletarier, sondern auf den [nicht-weißen] Koloniebewohner. Durch Fanon wird das revolutionäre Subjekt – an den Marxismus anknüpfend und ihn dabei zugleich in entscheidender Weise verändernd – ausgetauscht: An die Stelle des Proletariers, des [weißen] Arbeiters, tritt der [nicht-weiße] Aufrührer der Dritten Welt, der ja in gewissem Sinne auch ein Arbeiter sei: „Pour le colonisé, cette violence représente la praxis absolue. Aussi le militant est-il celui qui travaille. … Travailler, c’est travailler à la mort du colon.“* Für den Kolonisierten stellt die(se) Gewalt die unbedingt[ notwendig]e Praxis dar. (Eben)so ist der Kämpfer derjenige, der arbeitet. … Arbeiten, das heißt, am Tod des Kolonialherren arbeiten.

* [Chapitre] I

In der Kolonie sind nicht sämtliche Nicht-Weißen in gleichem Maße revolutionär gesinnt. Die intellektuellen und unternehmerisch tätigen Eliten der Kolonisierten in den Städten stehen den Kolonialherren als koloniale Bourgeoisie am nächsten. Deren Angehörige streben keine radikale Umwälzung an, sondern verlangen nur nach Privilegien für sich selbst. Die koloniale Bourgeoisie wird repräsentiert durch die nationalistische Partei, und der treueste Unterstützer dieser Partei ist der koloniale Proletarier; er nimmt eine privilegierte Stellung ein, ganz anders als der weiße Proletarier in den industrialisierten Ländern. – Die Städte in der Kolonie, bewohnt von einheimischer Bourgeoisie samt Proletariern, neigen zur Zusammenarbeit mit den Kolonialherren, wenn ihnen nur einige Zugeständnisse gemacht werden. Die Befreiungskämpfer rekrutieren sich hingegen aus der Landbevölkerung, der Bauernschaft. Sie ist revolutionär gesinnt und will den totalen Umbruch.*

* Diese Gedanken Fanons knüpfen insofern an Mao Tse-tung bzw. Mao Zedong (geb. 1893, gest. 1976) an, als auch dieser von einer Basis des Befreiungskampfes auf dem Lande ausging, von dem aus er erfolgreich die einzelnen Städte (und befestigten Stützpunkte) des Feindes einzunehmen plante (s. Die gegenwärtige Lage und unsere Aufgaben, 25. Dez. 1947, hier: Nr. 2, vgl. 3. und 7. bis 8.), doch wäre Mao nie so weit gegangen, das einheimische Proletariat auf der Gegenseite zu verorten. Vielmehr sprach Mao von Volksmassen, worunter vor allem Arbeiterklasse samt Bauernschaft zu verstehen waren (vgl. Mao, Über den Widerspruch, 1937, hier: III.).

Zwischen diesen beiden Lagern der Kolonisierten, zwischen Stadt und Land, steht das Lumpenproletariat. Fanon charakterisiert es als „(cette) masse d‘affamés et de déclassés, (diese) Masse von Hungernden und Deklassierten.* Sie haust in den Slums, „bidonvilles“, (den Randzonen) der Städte. Auch die Kolonialmacht will das Lumpenproletariat für sich einsetzen, und so muß es der revolutionären Bewegung darauf ankommen, dieses stattdessen für sich zu gewinnen, um den Befreiungskampf in die Städte hineinzutragen.  – Außerdem weist der Lumpenproletarier als Kämpfer verschiedene Vorteile auf: Er ist mobil und zu spontaner Aktion fähig, während der bäuerliche Revolutionär traditionsverhaftet und standortgebunden agiert. Der Lumpenproletarier ist unberechenbarer für den Gegner und radikaler als der bäuerliche Revolutionär.

* [Chapitre] II

Es kommt darauf an, daß im Prozeß der gewaltsamen Dekolonisierung die wahrhaft revolutionären Kräften dominieren; wird kolonialer Bourgoisie und Proletariat das Feld überlassen, droht der Neokolonialismus das Ergebnis des Aufstandes in eine Farce der nationalen Unabhängigkeit, „farce de l’indépendance nationale“,* zu verkehren, bei dem die einheimische Boureoisie den Staatsapparat unter ihre Kontrolle bringt, um die Revolution im Einvernehmen mit den ehemaligen Kolonialherren zu ersticken.

* [Chapitre] I

Der Neokolonialismus benötigt die Länder der Dritten Welt nämlich nicht mehr wie früher als Rohstoffquellen. Inzwischen hat man in den industriellen Ländern so viel Kapital akkumuliert, daß es der dortigen Bourgeoisie nicht mehr in erster Linie darum geht, sich Rohstoffquellen anzueignen, sondern die produzierten Waren zu verkaufen, und so sind sie darauf aus, die ehemaligen Kolonien als Absatzmärkte von sich abhängig zu machen, wobei die ehemals koloniale Bourgeoisie ihnen als Verbündeter dienen soll; so brauchen sie auch ihr Militär nicht mehr in den Kolonien einzusetzen. – Um dem entgegenzuwirken, ist vor allem das Volk in den ehemaligen Kolonien zu politisieren und auf Dezentralisierung zu dringen; hinzu kommt die Gründung von Genossenschaften. Die Bauernschaft hat von einer neokolonialen Farce nationaler Unabhängigkeit nichts für sich zu erhoffen. Daher ist sie der natürliche Gegner der nationalen Boureoisie, der das Bündnis mit dem Lumpenproletariat aus kleinen Handwerkern und Arbeitslosen* zu suchen hat. Auch die ehemals koloniale Boureoisie will das Lumpenproletariat für sich gewinnen, und dies ist zu verhindern. – Die Dekolonialisierung muß zu einer Umwälzung werden, die alle Bereiche des Daseins der bis dahin Koloniserten erfaßt, damit ein neuer Mensch entsteht, damit der zuvor Kolonisierte sich selbst neu erschafft: Das Buch endet auch mit dem Ausblick auf den neuen Menschen; der Weiße wird nur so weit einbezogen, wie er sich unter dem – gewalttätigen – Einfluß des Farbigen umformen läßt.

* Bei Fanons Lumpenproletariat scheint es sich um eine Widerspiegelung von nationaler Bourgeoisie samt Proletariat auf sozial niedrigerer Ebene zu handeln.

Wie die koloniale Bourgeoisie den Kolonialherren des Westens korrespondiert, so der bäuerliche Revolutionär dem Ostblock, der ihn mit Waffen versorgt. – Fanon befürwortet ein Bündnis mit dem Lager des real existierenden Sozialismus, doch er will sich keineswegs der Alten Linken anschließen. Vielmehr geht er davon aus, daß die Dekolonisierten eigene Lebensformen entwickeln. Wenn sie sich dabei für den Sozialismus entscheiden bzw. sich mit dem Ostblock verbünden, dann hilft ihnen dies weiter, aber es ist nicht der Zweck selbst, sondern ein Mittel dazu.

Die gewaltsame Dekolonisierung ist so zu betreiben, daß sie zur Verarmung des Westens führt, wodurch dort revolutionäre Prozesse ausgelöst werden.* [Damit wird der Farbige – indirekt – zum universalen, zum wahren revolutionären Subjekt, das bewirkt, was der Ostblock nur unvollständig zu Stande bringen konnte und was das weiße Proletariat des Westens gar nicht zu erreichen vermochte.] Auch wenn Fanon bestreitet, daß es ihm darum geht, einen Kreuzzug des Hungers gegen Europa zu organisieren,** so setzt er doch längerfristig den Eintritt einer dort stattfindenden Katastrophe voraus*** bzw. sehnt eine solche herbei.

* Fanon führt zur Rechtfertigung dafür an, daß der europäische Reichtum allein aus der Ausbeutung der Kolonien stamme. Die jetzt zu betreibende Verarmung des Westens zusammen mit einer Bereicherung der befreiten Kolonien stelle nur eine Art Entschädigung dar. – Dagegen wäre darauf hinzuweisen, daß beispielsweise für Deutschlands industriellen Aufstieg seine wenigen und erst spät erlangten Kolonien so gut wie keine Rolle spielten. Doch historische Sachverhalte sind für Fanon kaum von entscheidender Bedeutung.

** „…organiser une immense croisade de la faim contre toute l’Europe.“ [Chapitre] I

*** „La situation est à long terme catastrophique.“ [Chapitre] I

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