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Kurzer Rückblick auf den hiesigen Maoismus (2)

Nun endlich die Fortsetzung des ersten Teiles. – In der bundesdeutschen Studentenbewegung – vor allem des Jahres 1967 – waren noch alle später auseinanderdriftenden Strömungen vereint; 1968 begann deren Aufspaltung in die Anhänger der Alten Linken, die maoistischen K-Gruppen und die undogmatische Linke sowie unpolitische Aussteiger. – Im gesamten Westen gab es während der zweiten Hälfte der sechziger Jahre Demonstrationen von Studenten gegen den us-amerikanischen Vietnamkrieg (1964 – 1973) und daneben die Forderung nach sexueller Freizügigkeit sowie Abwendung von aller überlieferten Kultur; dahinter standen als Theoretiker vor allem Fanon* und – als Repräsentant der Frankfurter Schule – Marcuse**, wobei Fanon die sich befreienden Kolonialvölker, ins Besondere das dortige „lumpen-prolétariat“, zum revolutionären Subjekt erklärte, während Marcuse – offenbar daran anknüpfend – das heimische Lumpenproletariat, alle Arbeitslosen, Arbeitsunfähigen sowie die Angehörigen [nicht-weißer] Völkerschaften im Lande, als revolutionäres Subjekt verstand, dem nur noch [von Studenten] das richtige Bewußtsein zu vermitteln war, auf daß es das bestehende System von innen her zerstöre und eine repressionsfreie Gesellschaft ermögliche.

* Frantz Fanon; geb. 1925, gest. 1961

** Herbert Marcuse; geb. 1898, gest. 1979

Nirgends erreichten die studentischen Unruhen ein solches Ausmaß wie in dem durch die verlorenen Kolonialkriege* gesellschaftlich erschütterten Frankreich. Am Beginn des Aufruhrs im Frühjahr 1968 standen Auseinandersetzungen um die Hausordnung der Universität von Nanterre, einer Dependance der Pariser Sorbonne. Der Dekan von Nanterre ordnete nach Besetzung der literarischen Fakultät am 2. Mai deren Schließung für einen Monat an; die Studenten der Sorbonne solidarisierten sich mit den Ausgesperrten, und vor allem: Die Gewerkschaften einschließlich der kommunistischen CGT riefen angesichts der massiven Polizeieinsätze gegen die Studenten und wegen der harten Bestrafung von Besetzern zum eintägigen Generalstreik für den 13. Mai auf; im Hintergrund dessen stand allerdings die wachsende Unzufriedenheit vieler Werktätiger angesichts steigender Arbeitslosenzahlen, und so mag man diesen Aufruf als Versuch ansehen, sich an die Spitze einer sich abzeichnenden Protestbewegung zu setzen, die im Westen Frankreichs bereits am 8. Mai zu einer massenhaften Arbeitsniederlegung führte. – Das erste sachte Wehen der später immer heftiger stürmenden Globalisierung könnte sich damals bereits geregt haben. Um die Mitte der sechziger Jahre wurden erste wichtige Schritte zur Absicherung des internationalen Investments unternommen: 1966 trat der ICSID-Vertrag in Kraft, der Investitionen in aller Welt absichern sollte. Dazu richtete man eine Schiedsspruchstelle in Washington ein, das International Centre for Settlement of Investment Disputes, dessen Kürzel ICSID dem Vertrag seinen Namen gab.** Bemerkenswerter Weise rief der us-amerikanische Präsident Johnson*** etwa um dieselbe Zeit, nämlich 1964, einen Krieg gegen die Armut, War on poverty, ins Leben. Die seit den sechziger Jahren entstehende Neue Linke aber beförderte die Globalisierung auf ihre Art, indem sie dazu beitrug, u.U. hinderliche gesellschaftliche Institutionen im Westen – man denke nur an die Universität – zu zersetzen; das Individuum sollte überhaupt von allen Bindungen an die eigene Religion, das Vaterland und die Muttersprache gelöst werden.

* Indochina (1946 – 1954) und Algerien (1954 – 1962)

** Man vergleiche dazu auch den gleichzeitigen Zustrom von Menschen aus den sich von der Kolonialherrschaft befreienden Ländern nach Westeuropa (Großbritannien, Frankreich) und die Anwerbung von ausländischen Gastarbeitern in der BRD.

*** Lyndon B.[aines] Johnson; 1963 – 1969

Trotz der Freilassung festgenommener Studenten rissen die Proteste in Frankreich nicht ab. Daneben weitete sich die Streikwelle während der zweiten Maihälfte noch aus, so daß man tatsächlich von einem Generalstreik sprechen konnte; zahlreiche Betriebsbesetzungen kamen hinzu. Während letztere samt den Studentenprotesten von der sozialistischen Gewerkschaft CFDT* begrüßt wurden, zeigte sich die dem Ostblock verbundene Alte Linke in Gestalt der Gewerkschaft CGT** und der KP Frankreichs, die bei Wahlen im Jahr zuvor mehr als 22% der Stimmen erhalten hatte, nicht mehr nur skeptisch, sondern ablehnend gegenüber der Studentenbewegung. Vor allem die CGT drang auf eine Erhöhung der Löhne, und die Regierung gab nach; zugleich kündigte sie Neuwahlen für den Sommer des Jahres an. Damit gaben sich die inzwischen zum großen Teil im Streik befindlichen Werktätigen Frankreichs zufrieden, und so fand der Mai ‘68 sein Ende.

* Confédération francaise démocratique du travail

** Confédération générale du travail

Den Studenten in Frankreich wie anderswo im Westen ging es um die Abwendung von der überlieferten Kultur und die Forderung einer uneingeschränkten Triebbefriedigung. Dies zeigt exemplarisch der Auftritt des jüdischen-deutschen, aber in Frankreich geborenen und in Nanterre studierenden Daniel Cohn-Bendit*, der bereits zu Beginn des Jahres 1968 die Öffentlichkeit erstmals auf sich aufmerksam machte, als er während einer Diskussion mit dem Minister für Sport und Jugend anläßlich der Einweihung eines Schwimmbades beklagte, daß der anwesende Vertreter des Staates sich nicht für [seine] sexuelle[n] Probleme [und die] der [übrigen] jungen Leute interessiere. Als einer der Studentenführer von Nanterre war Cohn-Bendit für die Aufhebung der Geschlechtertrennung im Studentenwohnheim eingetreten. Er wurde im März 1968 als Unruhestifter des Landes verwiesen, hielt sich aber weiter dort auf; 2015 erhielt er die französische Staatsbürgerschaft zusätzlich zur deutschen. – Typische Slogans der rebellierenden Studenten von 1968 lauteten: „Dessous les pavés c’est la plage.“ „Il est interdit d’interdire.“ „Le rêve est réalité.“ Drunten unter den Pflasterungen ist der Strand [zu finden]. Es ist verboten zu verbieten. Der Wunschtraum ist [die] Wirklichkeit. Man will sich nicht von der Realität beherrschen lassen, um den Trieben keine Fesseln anlegen zu müssen. Alles soll erlaubt sein. Unter dem Pflaster liegt der Strand, unter den gesellschaftlichen Konventionen liegt das Wunderland der Triebe, wohin man gelangt, wenn man sich von der überlieferten Kultur freimacht.

* geb. 1945

Der Mai 1968 mit den Unruhen in Frankreich schien – bei oberflächlicher Betrachtung – die Hoffnung auf ein Zusammenwirken der heranwachsenden kritischen Intelligenz mit den Werktätigen hinzudeuten, das neulinke Aufbegehren mit der Alten Linken zu verschmelzen, mit der Arbeiterbewegung, repräsentiert auch durch KPF und CGT, die jedoch ihre skeptische bis ablehnende Haltung nicht aufgaben. Tatsächlich nämlich deutete sich im studentischen Aufruhr die künftige Neue Linke an, die mit der Alten Linken nicht vereinbar war und mit der Auflösung des Ostblocks schließlich triumphierte, da sich die beiden Strömungen der Alten Linken, die sozialdemokratische und die kommunistische, endgültig zu neulinken Parteien transformierten, die sich von ihrer in der Produktion beschäftigten Klientel ab- und der inzwischen aufblühenden Sozialindustrie zuwandten.

 

3 Kommentare zu „Kurzer Rückblick auf den hiesigen Maoismus (2)“

  • Das mit der „Repressionsfreiheit“ und der „uneingeschränkten Triebbefriedigung“ stimmt für die maoistische Fraktion so nicht! Kaum einer war so konservativ in Sexualität, Ästhetik und Stil wie die Maoisten unter den 68ern. Würd mich wundern, wenn der Cohn-Bendit wirklich Maoist war.
    Ich glaube vielmehr, daß die für uns heute völlig unverständliche Attraktion des Maoismus vor allem in folgenden Faktoren lag:
    * der eminenten Rolle der Intellektuellen in der Bewußtseinsbildung der Massen. Es ist doch ein geiles Gefühl, den Lauf der Geschichte durchschaut zu haben, und denen, die diesen Lauf der Geschichte erst möglich machen, genau das zu eröffnen!
    * Umerziehung – wer hatte das nicht am eigenen Leibe erlebt als Generation der zwischen 1939 und ’45 Geborenen in der BRD? Und zwar positiv, als Befreiung vom Fluch des Faschismus. Dem Volke also Umerziehung angedeihen zu lassen – nichts leichter und notwendiger als das!
    * es gibt eine Schrift von Mao „Gegen den Liberalismus“ (1937) – worin u.v.a vom „modrigen spießbürgerlichen Verhalten“ der Liberalen die Rede ist, dieser Antiliberalismus ging gut ceteris paribus mit dem „Muff von tausend Jahren“
    * gerade die latente Angst vor den Massen machte diese für die Studenten enorm anziehend – repulsion and attraction …

    Ansonsten – kennen Sie das hier? Die Suche nach dem „Handorakel“ führte eben zur Mao-Bibel und erst viel zu spät zum Gracián.
    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/helmuth-lethen-suche-nach-dem-handorakel-dr-huellen-hatte-die-linke-voll-im-blick-11974558.html

  • virOblationis:

    @ Caroline

    Der Maoismus wird im Titel wird genannt, weil ins Besondere seine Erscheinung ein wenig weiter ergründet werden soll. Doch vor 1968 sind die vier Strömungen, die im obigen Artikel genannt werden, noch miteinander vermengt, so daß der Maoismus nicht klar hervortritt. – Welcher Richtung „Dany le Rouge“ m.E. zuzuordnen ist, werde ich voraussichtlich im nachfolgenden Teil begründen. – Die Freiheit von Repression gehört, wie im Artikel erwähnt, zu Marcuse, der kein Maoist, aber ein bedeutender Vorläufer der Neuen Linken war und deshalb – zusammen mit Fanon – in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist. Marcuse ist auch als Protagonist der uneingeschränkten Triebbefriedigung genannt, die für die Programmatik des sich ab 1968 parteipolitisch manifestierenden Maoismus freilich nicht wesentlich war.

    Man mag ja glauben, den Gang der Geschichte durchschaut zu haben; es gibt da die phantastischsten Entwürfe. Darauf allein läßt sich keine wirksame politische Bewegung gründen.

    Auf den Aspekt der Übereinstimmung mit der Reeducation wurde im ersten Teil im Zusammenhang mit dem „Vatermord“ hingewiesen. – Inwiefern die Umerziehung „positiv“ war, sei dahingestellt; solche Wendungen wie „Fluch des Faschismus“ scheinen mir der Ergründung der Dinge eher abträglich, weil sie gesondert zu reflektieren wären, was aber nicht geschieht, wenn man sie nur einstreut.

    Die Attraktivität einzelner Aspekte des Maoismus wurde im ersten Teil angesprochen. Dabei ging es nicht um das Wesen des Maoismus, sondern um seine Umsetzung in China, zuletzt in der Kulturrevolution (1966 – 1976), die ihn ganz anders gelagerten Interessen im Westen interessant erscheinen ließ.

    Für den einen mag dieser Weg, für den nächsten ein anderer zum Studium der „Mao-Bibel“ geführt haben: Mir geht es darum, an Hand des Besonderen das Allgemeine zu erkennen, um daraus letztlich Schlußfolgerungen für zu das künftig zu bewältigende je Besondere zu ziehen und die Leser ebenfalls dazu anzuregen.

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