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Ernst Jüngers Marmorklippen

„Wir lebten in Zeiten, in denen der Autor zur Einsamkeit verurteilt ist.“ (Kap. 16)

Gastbeitrag  von vir Oblationis: Eine subjektive Einschätzung

Die Sprache in Ernst Jüngers Erzählung „Auf den Marmorklippen (1939)“ habe ich mit Wonne gelesen; ja in diesem Falle benutze ich den altertümlichen Ausdruck einmal. Diese Sprache aufzunehmen, tat dem Herzen gut, obwohl das Erzählte sehr ernst ist. Auch inhaltlich halte ich die „Marmorklippen“ für mehr, als irgendein bemerkenswertes Buch. Sie weisen nicht nur eine geistige Tiefe auf, die sonst wohl selten erreicht wird, sie bilden auch eine zeitgemäße Adaption des Stoffes der für unser Volk so schicksalhaften Nibelungensage vom Untergang in der Feuersbrunst.

Die Handlung der Erzählung

In 30 kurzen Kapiteln wird von der Hauptperson selbst erzählt, wie eine an einem Binnengewässer gelegene Kultur untergeht. Das landschaftliche Vorbild dafür ist der alemannische Raum um den Bodensee, wo allerdings ein mediterranies Klima herrscht. Südlich davon, also etwa in der deutschsprachigen Schweiz, leben die freien Stämme Alta Planas, nördlich der Städte am See, der von Jünger „Große Marina“ genannt wird, erstreckt sich die Campagna, in der Viehzüchter als Großgrundbesitzer sowie Hirten leben. Im Gegensatz zu der städtischen Kultur am See herrscht dort nicht das Christentum vor, sondern heidnischer Kult und Blutrache, aber auch Gastfreundschaft. Jenseits von See und Campagna, vielleicht etwa im Bereich des Schwarzwaldes liegt das Reich des Oberförsters, wo Willkür und rohe Triebe regieren. – Da an einer Stelle von einem Galeerenhafen auf Rhodos die Rede ist (Kap. 16) – Rhodos fiel 1522 an die Osmanen – und andererseits Linnaeus (Carl von Linée; geb. 1707, gest. 1778) als bekannt vorausgesetzt wird (Kap. 4 u.ö.), spielt die Handlung in unbestimmter Zeit.

Der Erzähler bewohnt ein in die Marmorklippen hineingebautes Haus. Diese Felsen bilden die Grenze zwischen dem Hirtenland und dem Gebiet der See-Kultur. Der Erzähler gehört letzterer an. Er hat sich nach einem nur widerwillig übernommenen Kriegsdienst gegen die freien Völker Alta Planas südlich des Sees (Kap. 13) zusammen mit seinem Bruder Otho zurückgezogen, um nur noch Pflanzen zu studieren; der Feldzug war unangemessen hart geführt worden, scheiterte und hat der See-Kultur die innere Kraft entzogen. So steht sie wehrlos dem Oberförster gegenüber, der seine Barbarenmacht über die Campagna und das Seegebiet auszudehnen bemüht ist, was ihm auch gelingt. Zuletzt läßt Feuer alles in Trümmer sinken. Der Erzähler entkommt zusammen mit seinem Bruder nach Alta Plana.

Politische Deutung

Immer wieder ist die Erzählung „Auf den Marmorklippen“ als ein Buch des Widerstandes gegen den NS-Staat verstanden worden. Doch es handelt sich keineswegs um eine billige Parabel, bei der man lediglich Hitler an die Stelle des Oberförsters zu setzen hätte etc. Jünger selbst weist in seinen später hinzugesetzten Adnoten darauf hin, „daß ‚dieser Schuh auf verschiedene Füße paßt‘.“ So läßt sich die Erzählung ohne Zwang auch auf unsere Zeit beziehen, in der die Kulturlosigkeit „von oben befördert“ immer weiter um sich greift. Doch wenn man eine zeitgenössische Auslegung vornehmen will, so ist m.E. mit der Gestalt Hitlers eher der Rassist Braquemart vergleichbar, der die geborenen Herren wieder von den Knechten sondern will, doch vom Oberförster getötet wird (Kap. 25). Dieser strebt nach der Inbesitznahme eines Landes, indem er soziale Unruhen dort schürt und seine Leute zur Beseitigung derselben anpreist, um auf diese Weise in den Besitz von Machtpositionen innerhalb des zu erobernden Staates zu gelangen (Kap. 11). Außerdem kämpfen seine Mordbrenner mit unehrenhaften Waffen und führen eine Meute roter Doggen mit sich (Kap. 24). Die Standarte des Oberförsters zeigt einen roten Eberkopf (Kap. 29).

Der „ein wenig radikal“ wirkende Oberförster, ein  „Alter Herr der Mauretania“, einer Art militärischer Loge, einem „Herrschaftssitz“ des „freie[n] Geist[es]“, dessen „Luft … von Grund auf böse war“ (Kap. 7), ähnelt aus meiner Sicht am ehesten noch Stalin, und eine solche Deutung scheint um so mehr berechtigt, als Ernst Jünger selbst ihr keineswegs widersprochen hat.

Der philosophisch-theologische Aspekt

Während wir Heutigen immer mehr daran gewöhnt werden, alles nur mehr von einer materialistischen Sicht her zu betrachten, lenkt Jünger zurück zur Metaphysik: Nach Platon verkörpern sich in den einzelnen, sinnlich wahrnehmbaren, vergänglichen Dingen rein geistige Ideen, und diese Lehre wurde so weiterentwickelt, daß man Gott als Quelle der Weltvernunft verstand, die das Reich der Ideen in sich birgt, das dann in die materielle Sphäre eingehend die uns vertraute Lebenswirklichkeit hervorbringt. Während der Weg des Seins vom Geist zur Materie hinabführt, geht der Weg der Mystik geht umgekehrt von der Sinnenwelt hinauf ins rein Geistige.

So spricht der Erzähler von der Ordnung, die „die Wirren dieser Erde“ zu scheinbaren machen; es gibt „Maß und Regel“, „in den Elementen [eine] Ordnung“ (Kap. 7). Hinter der Vergänglichkeit, die er „Trug“ nennt, „im Schreine der Erscheinung eingeschlossen“ ist das, was „unveränderlich“ ist. In den „flüchtig bunten Zeichen [der Blumen ruht] das Unveränderliche … die den Uhren gleichen, auf denen stets die rechte Stunde zu lesen ist.“ (Kap. 13) Auch Worte haben an der Geistigkeit teil und wirken gegen die Kulturfeinde darum wie eine „Zauberklinge“ (Kap. 15). Die vergeistigte Form eines Breitwegerichblattes (Kap. 14) entdeckt der Erzähler wieder in der Fensterrosette einer Kirche (Kap. 28).

In der Konsequenz führt diese neuplatonische Sicht des Seins zu einer „Lust zu leben“ (Kap. 14): „Denn die Erde ist schön.“(Kap. 16). Zugleich ist da die Lust „zu sterben“ (Kap. 14), da – wie man sinngemäß ergänzen kann – dies ja nur die irdische Hülle des Werdens und Vergehens betrifft, die das Geistige verschleiert, das sich wie der (in Kap. 16 erwähnte) Phönix verjüngt wieder verkörpern wird. Daher verzichtet die Hauptperson der Erzählung bewußt auf gewalttätigen Widerstand, sondern will die Vernichtung der See-Kultur zulassen, um – wiederum sinngemäß ergänzt – ihr ein Emporsteigen zu höherer Geistigkeit zu ermöglichen. Damit seine jahrelange Arbeit an diesem Aufstieg in die Geistigkeit teilnehme, will er mittels einer Art von Brennglas, welches das Sonnenlicht sammelt und bei Bedarf wieder hergibt, alles durch Feuer vernichten, wenn das Ende der See-Kultur gekommen ist (Kap. 16). Am Ende brennt sein Bruder tatsächlich ihre Arbeitsstätte nieder (Kap. 26), und so vernichtet er scheinbar sein und des Erzählers Lebenswerk (Kap. 28). Tatsächlich wird es dadurch in eine höhere Wirklichkeit überführt.

In dieser eher weltflüchtigen Stimmung läßt die Erzählung den Leser allerdings nicht zurück, denn es bleibt ein Unterpfand der Hoffnung auf ein besseres Wiederauferstehen der See-Kultur: Der Erzähler hat nämlich einen Knaben namens Erio gezeugt, der bei seiner Großmutter aufwächst, die als Schaffnerin im Haus auf den Marmorklippen tätig ist. Erio nun hat die wunderbare Gabe, mit den giftigsten Schlangen vertraut umgehen zu können (Kap. 3). Dies erinnert an Jesajas Prophezeiung paradiesischer Zustände in Jes. 11, 6 – 9: In 11, 8 ist die Rede vom kleinen Knaben, der am Schlupfloch der Giftschlange spielt und seine Hand hineinstreckt, ohne daß ihm etwas geschieht. Unmittelbar vor der Schilderung paradiesischer Zustände spricht der Prophet vom Retterkönig, (Jes. 11, 1 – 5), der gemäß 11, 4 Gewalttäter und Frevler mit dem Hauch seiner Lippen und mit dem Stab seines Mundes tötet, also mit der Zunge, mit seinem Wort. Ganz ähnlich ruft Erio die Schlangen herbei, als die ins Haus eingedrungene Rotte des Oberförsters seinen Vater töten will, und mit dem Biß ihres Mundes vertilgen die Schlangen die Feinde. Als dann der Erzähler und sein Bruder aus dem Lande fliehen, bleibt Erio im Haus auf den Marmorklippen zurück. (Kap. 27) Solcher messianischer Hoffnung entsprechend singen Gläubige bereits wieder in den Ruinen einer Kapelle (Kap. 29).

4 Kommentare zu „Ernst Jüngers Marmorklippen“

  • virOblationis:

    Als Tip:
    Wenn man die „Marmorklippen“ gern lesen möchte und nicht allzu großen Wert auf das Äußere des Buches legt, dann findet man sehr günstige Gebrauchtausgaben unter den geläufigen Adressen im Netz.

  • Sir Toby:

    „Ganz ähnlich ruft Erio die Schlangen herbei, als die ins Haus eingedrungene Rotte des Oberförsters seinen Vater töten will, und mit dem Biß ihres Mundes vertilgen die Schlangen die Feinde.“

    Soll das verstanden werden ‚… mit (ihren) Worten vertilgen sie die Feinde‘?

  • virOblationis:

    Nein: „mit dem (Biß ihres) Mund(es)“,
    analog zu „[Jes.] 11, 4, [wo] Gewalttäter und Frevler mit dem Hauch“ der „Lippen und … dem Wort“ getötet werden, also auch mit dem Mund.

  • virOblationis:

    Daß Ernst Jünger tatsächlich biblische Bezüge bei der Beschreibung eines wunderbar ungefärdeten Umgangs mit giftigen Tieren vor Augen standen, zeigt sein Zitat einer lateinischen Wendung in Kap. 26. Dort spricht er nämlich von der „vis calcandi supra scorpiones“, der Fähigkeit, [unbeschadet] auf Skorpione zu treten, die zu den Wunderzeichen des Reiches Gottes gehört und in Luk. 10, 19 – entsprechend der griechischen alttestamentlichen Vorlage der Verheißung in Ps. 91, 13 („Giftschlangen und Basilisken [bzw. Skorpione]“) – auch Giftschlangen einschließt. Ausschließlich letztere nennt Mark. 16, 18, wozu man die Erzählung vom hl. Paulus und der Giftschlange, die ihm nicht zu schaden vermochte, in Apg. 28, 3 – 6 vergleiche.

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