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Der Tambourmajor

Thomas Mann (geb. 1875, gest. 1955; Nobelpreis 1929) ging 1933 mit seiner Frau und den beiden jüngsten Kindern, Elisabeth (geb. 1918, gest. 2002) und Michael (geb. 1919, gest. 1977), ins Exil, zunächst in die Schweiz. 1938 reisten die Vier in die USA ein. Die beiden Kinder heiarteten dort im Jahr darauf. Thomas Mann und seine Frau Katia (geb. 1883, gest. 1980) zogen 1941 nach Californien, wo sie während des Krieges blieben. Drei Jahre später erhielten sie die us-amerikanische Staatsbürgerschaft. – Nach mehreren Europareisen ließen sich Thomas und Katia Mann dann 1952 wieder in der Schweiz nieder. Nach seinem Tode in der Bundesrepublik Deutschland hoch verehrt, benannte man dort sogar Schulen nach Thomas Mann, obwohl er das Katharineum in Lübeck seiner Zeit ohne Abschluß verlassen hatte.

In seinem offenen Brief „Warum ich nicht nach Deutschland zurückkehre (1945)“ vertrat Mann die Kollektivschuldthese; aus dem komfortablen Exil heraus verurteilte er selbstgerecht alle in Deutschland Verbliebenen, gleich ob sie persönlich schuldig geworden waren oder nicht. Schon angesichts eines verheerenden Luftangriffs auf Köln notierte er 1942: „Erschütternd, aber die Sühne beginnt.“ – Selbst der Kommunist Bertolt Brecht (geb. 1898, gest. 1956) urteilte im us-amerikanischen Exil realisitischer über die Bombardements: „Da sie nicht mit militärischen Operationen verknüpft sind, sieht man kein Ende des Krieges, nur ein Ende Deutschlands.“

Nach dem Luftangriff auf seine Heimatstadtr am Palmsonntag 1942, die keine militärische Anlagen betraf, sondern den historischen Kern seiner Heimatstadt zerstörte, äußerte sich Mann im britischen Rundfunk in dem Sinne, daß dies eine angemessene Vergeltung für den vorangegangen Angriff deutschen Luftwaffe auf Coventry (1940) gewesen sei, der allerdings gegen die inmitten der Stadt gelegene, militärisch bedeutende Triebwerksfertigung der Rolls-Royce-Werke gerichtet gewesen war.

Eine deutsche Stadt nach der anderen wurde vernichtet. Beispielsweise kostete die gegen Hamburg gerichtete „Operation Gomorrha“ im Hochsommer 1943 ungezählten Menschen das Leben; die sterblichen Überreste von mehr als 30.000 Menschen wurden geborgen, doch wieviele verbrannten in dem durch das Bombardemnt ausgelösten Feuersturm zu Asche? Mann notierte im californischen Exil: „… so befällt einen doch ein gelinder Schrecken.“ Doch im unverbindlichen Gespräch äußerte er sich weit radikaler: Er könne es nicht unbillig finden, wenn „die alliierten deutschland zehn oder zwanzig jahre lang“ züchtigten. „Ja, eine halbe Million muß getötet werden in Deutschland“, was Brecht mit den Worten „ganz und gar bestialisch“ kommentierte.

Auch im Exil blieb Mann seinem opportunistischen Charakter verhaftet. Als man ihn für eine Beteiligung in dem von deutschen Exilanten gegründeten „Free Germany Commitee“ gewinnen wollte, erkundigte sich Mann vorsorglich im State Departement nach der us-amerikanischen Haltung gegenüber dieser Vereinigung. Da man sich dort uninteressiert bis abratend zeigte, nahm Mann Abstand von jeglicher Mitarbeit. Brechts Briefe vermochten ihn nicht umzustimmen.

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So wie dreiundzwanzig Jahre nach seinem ersten großen Erfolg mit den „Buddenbrooks (1901)“ der „Zauberberg (1924)“ den Beginn einer liberalen Phase nach der konservativen anzeigte, so dokumentierte „Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde (1947)“ noch einmal dreiundzwanzig Jahre später Manns nunmehr anti-deutsche Einstellung. – Mann selbst glaubte an „gewisse Symmetrien und Zahlenentsprechungen in [seinem]…Leben“ („Die Entstehung des Doktor Faustus“, I).

Thomas Mann wandte sich mit „Doktor Faustus“ gegen die gesamte deutsche Geschichte und Kultur. – Hinsichtlich der Frage, aus welcher Position heraus Mann denn als anti-deutsch eingestellter Deutscher seine Auffassungen vorbrachte, sei auf seine Stellung zum Bürgertum zu verwiesen: Zwar war er in Mitten dessen herangewachsen, doch rechnete er sich als Künstler nicht dazu. In ähnlicher Weise blieb er ein deutschsprachiger Schriftsteller, obwohl er sich – in seiner Spätphase – nicht zur deutschen Kultur gehörig verstand.

Mann lieferte, insbesondere mit „Doktor Faustus“, ein prominentes Vorbild für deutsche Autoren mit anti-deutscher Gesinung, d.h. für Schriftsteller, die sich gegen die überlieferte deutsche Kultur stellten. Doch wie sie in zunehmendem Maße verschwand, wozu diese Autoren eben selbst beitrugen, verschwand auch der Stoff, an welchem sie sich abarbeiten konnten. Da sie nichts wirklich Eigenständiges neu hervorbrachten, verflachte die deutschsprachige Literatur entsprechend dem – durch die Angliederung des DDR (1989) mit ihrem „Sozialistischen Realismus“ noch beschleunigten – Schwinden der deutschen Kultur. Zum Beginn dieser Entwicklung ertönte als eine schrille Tambourfanfare Manns sprachlich gekonnt geschriebenes, doch im Aufbau, wie sich zeigen sein wird, mißlungenes Werk „Doktor Faustus“, an dem er während der Jahre von 1943 bis 1947 arbeitete und das 1947 in Stockholm erschien.

„Doktor Faustus“ ist in ansprechender Sprache geschrieben, gravitätisch, zu Beginn bisweilen etwas umständlich im Ausdruck. Es findet sich inhaltlich viel Zutreffendes, manch richtige Beobachtung. Doch dieser Aufwand an Schönem und Wahrem wird an eine widersprüchlich konstruierte Geschichte verschwendet, die einer anti-deutschen Stimmung Vorschub leisten soll. – Letzteres ist leider in überreichem Maße gelungen.

Im „Doktor Faustus“ wird der Lebenslauf des erdachten deutschen Komponisten Adrian Leverkühn geschildert, nicht von ihm selbst, sondern von seinem zwei Jahre älteren Freund Serenus Zeitblohm, der 1883 im fiktiven Kaisersaschern an der Saale zur Welt kommt. Die Aufzeichnung beginnt im Mai 1943 und endet zwei Jahre darauf, so daß Bemerkungen zu dieser Zeit in die Biographie einfließen.

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Als Künstler entspricht Thomas Mann dem Adrian Leverkühn; beide sind Zweitgeborene. Thomas Manns Mutter war musikalisch hoch begabt, und Adrian wurde offenbar durch seine Mutter Empfänger eines „unglaublichen Klangsinnes“ („Doktor Faustus“, IV). Manns Mutter war mütterlicherseits brasilianischer Herkunft; dem entsprechend weist die „brünette“ Mutter Adrians eine „Dunkelheit“ des „Teints“ auf, daß man sie „hätte…für eine Welsche halten können“ („Doktor Faustus“, IV).

Wie Thomas Mann 1894 zieht auch Adrian Leverkühn nach München, und zwar in die Rambergstraße in Schwabing (XXIII), in der Mann bis 1896 wohnte. Dort lebte Mann von Einkünften aus seinem väterlichen Erbe, und ähnlich scheint es sich auch mit Leverkühn zu verhalten, der stets über ausreichende finanzielle Mittel verfügt, offenbar ohne sie erst zuvor verdient zu haben.

„Warum müssen fast alle Dinge mir nur als ihre eigene Parodie erscheinen?“ („Doktor Faustus“, XV), fragt Adrian Leverkühn, und man meint, unmittelbar Thomas Mann zu hören, der sich selbst als so geistreich wie den anderen überlegen wähnte, daß er meinte, seine Ironie erstrecke sich – abgesehen, so ist hinzuzufügen, von der eigenen Person – zwar auf alles und jeden, aber durch den so hergestellten gleichen Abstand komme immerhin alles in gleichem Maße zu seinem Recht; dies entspreche „einer von keinem Moralismus getrübten Sachlichkeit“, wie Mann 1940 – die Begriffe verkehrend und gewiß nicht ohne unfreiwillige Ironie – in einem Vortrag über „Die Kunst des Romans“ sagte; die Ironie bildet für ihn den „Sinn der Kunst selbst, eine Allbejahung, die eben als solche auch eine Allverneinung ist“. Im „Doktor Faustus“ nennt er die „Parodie“ einen „aristokratischen Nihilismus.“ („Doktor Faustus“, XXV)

Adrian Leverkühn pflegt dem entsprechend einen „inneren Kosmopolitismus“ („Doktor Faustus“, XXI), auch als „scheuer Kosmopolitismus“ wird dasselbe bezeichnet („Doktor Faustus“, ebd.). – Die Kehrseite ist eine anti-deutsche Haltung. Adrian weist eine „Abneigung gegen das Deutschtum“ auf („Doktor Faustus“, XX). Mann nennt dies nicht anti-deutsch, sondern spricht davon als „deutscher Selbst-Antipathie“ („Doktor Faustus“, VI), und spöttelnd sagt er an anderer Stelle: „Die Deutschen sollten es den Juden überlassen, pro-deutsch zu sein.“ („Doktor Faustus“, XXXVII)

Für eine seiner Kompositionen verwendete Adrian Leverkühn die Gregorius-Legende aus den „Gesta Romanorum“ („Doktor Faustus“, XXXI), die tatsächlich später Thomas Mann als Vorlage für die Erzählung „Der Erwählte (1951)“ diente. – Adrian Leverkühns letzte Komposition, „Doctor Fausti Weheklag“ aus den Jahren 1929 bis 1930 („Doktor Faustus“, XLVI), bezieht ihre literarische Vorlage aus dem Volksbuch „Historia von D. Johann Fausten (ca. 1580; erstmals gedruckt Frankfurt 1587)“, und daher nimmt auch Manns Erzählung „Doktor Faustus“ von 1947 ihren Titel.

Serenus Zeitblohm, der Biograph, hat eigentlich gar keine eigene Biographie. Seine Eltern, seine Ehefrau und die eigenen Kinder erwähnt er lediglich, mehr nicht. Er soll katholisch sein, doch es findet sich nirgends spezifisch Katholisches bei ihm. Er gleicht durch seine Sympathien für Friedrich Schleiermacher (geb. 1768, gest. 1834) eher einem Protestanten liberaler Provenienz („Doktor Faustus“, XI), und so spricht Serenus Zeitblohm die lutherische Verdeutschung des hebräischen Namens übernehmend auch vom Propheten Hesekiel statt von Ezechiel („Doktor Faustus“, XXXIV).

Möglichst ständig hält Serenus sich bei Adrian auf. Er räumt ein, daß „dessen Sein, dessen Werden, dessen Lebenfrage mich im Grunde mehr interessierte als meine eigene.“ („Doktor Faustus“, XI) Mann nennt ihn „Adrians anderes Ich“ (XLII). Adrian und Serenus weisen schließlich beide dasselbe Phänomen eines „exzentrischen Merkmals“ auf, eine bestimmte Art, die „Augen zu [bewegen, sie zu] ‚rollen‘“ (XLVI).

Der angesichts einer fehlenden eigenen Biographie puppenhaft und unbelebt wirkende Zeitblohm entspricht ebenfalls Thomas Mann, wenn er wie dieser einen „Gegensatz von Künstlertum und Bürgerlichkeit“ („Doktor Faustus“, IV) empfindet, der sich als Künstler mit seinem literarischen Bekenntnis zur Homoerotik („Der Tod in Venedig (1912)“) vom Bürgertum löste, nachdem er in den „Buddenbrooks (1901)“ als Berichterstatter des Niederganges des Bürgertums noch den Eindruck erweckt hatte, er zähle sich selbst dazu. – Der bürgerliche Serenus Zeitblohm entspricht dem äußeren Eindruck, den Manns Lebensweise erweckte, seiner bürgerlichen Fassade. Doch Adrian Leverkühns „Leben…[gab dem Dasein Zeitblohms] seinen wesentlichen Inhalt“. („Doktor Faustus“, Nachschrift)

Für das Verhältnis von Serenus zu Adrian ist weiterhin aufschlußreich der Satz: „…und erführe selbst eine ‚unlautere‘ Steigerung meiner natürlichen Gaben“. Dies sagt Serenus Zeitblohm hinsichtlich der Gefahr für ihn selbst durch die Beschäftigung mit Leverkühns Genie („Doktor Faustus“, I). – Anfangs ist der Erzähler Serenus Zeitblohm distanziert und deutlich unterschieden von Adrian, später verliert sein zu Beginn gravitätischer Tonfall zunehmend an Gewicht, und auch von seiner Persönlichkeit her nähert sich der Erzähler Adrian immer weiter an. Deshalb erstaunt es um so weniger, daß er gesteht: „Der Ehrgeiz, den ich für ihn (sc. Adrian) hegte, war absolut…“ („Doktor Faustus“, X). Schließlich könnte man beide Personen geradezu verwechseln, wenn der so redlich-hausbackene Schulmann, obwohl doch sein „Altphilologentum…sonst eher danach angetan ist, gegen das Leben zu verdummen“ („Doktor Faustus“, XXXVIII), ganz unvermutet sich einen „antikischen Freimut im Verhalten zum Geschlechtlichen“ zuschreibt („Doktor Faustus“, XVII).

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Adrian Leverkühn, der bis dahin und auch später keinerlei intime Beziehungen zu einer Vertreterin des weiblichen Geschlechts unterhält, reist einer Prostituierten nach, die es nach Preßburg verschlagen hat, und er läßt sich mit ihr – trotz ihrer Warnung – ein. So zieht er sich (im Mai 1906) eine Infektionskrankheit zu („Doktor Faustus“, XIX), bei der es sich, wie sich später zeigt, um Syphilis handelt („Doktor Faustus“, XXV). Dieses Geschehen erinnert an den Fall des romantischen Komponisten Hugo Wolf (geb. 1860, gest. 1903), der sich bereits als Achtzehnjähriger in einem Wiener Bordell mit Syphilis infizierte. Die Symptome der Spätphase der Erkrankung, der Neurolues, zeigten sich ab 1897. Hugo Wolf wurde in eine Heilanstalt eingeliefert und verstarb nach langem Siechtum 1903. In Thomas Manns Roman verursacht die Erkrankung wunderbarer Weise nach anfänglichem Erscheinen keine weiteren Beschwerden mehr. Sie dient Adrian Leverkühn zur Veränderung seiner Natur um des künstlerischen Schaffens willen, bei dem es ihm um „die Emanzipation der Dissonanz von ihrer Auflösung“ geht („Doktor Faustus“, XXII). Dies wird in der Zwölftonmusik verwirklicht. Die „Dissonanz…[sei] Ausdruck alles Hohen, Ernsten, Frommen, Geistigen“ („Doktor Faustus“, XXXIV Schluß), heißt es. – Wenn die Syphiliserkrankung im „Doktor Faustus“ die Zwölftonmusik ermöglicht, so hat Thomas Mann damit jedenfalls etwas Richtiges getroffen, denn die Zwölftonmusik klingt krankhaft entartet.

Die Rechtfertigung der Häßlichkeit moderner Kunst wird durch folgende Gedanken vorbereitet: „…ob dies [und jedes schöne Kunst-]Werk…noch in irgendeiner legitimen Relation steht zu der völligen Unsicherheit, Problematik und Harmonielosigkeit unserer gesellschaftlichen Zustände, ob nicht aller Schein, auch der schönste, und gerade der schönste, heute zur Lüge geworden ist.“ („Doktor Faustus“, XXI) – Der Gedanke der Zwölftonreihe taucht bei Adrian Leverkühn im „Doktor Faustus“ 1910 auf („Doktor Faustus“, XXII), tatsächlich bei dem Komponisten Schönberg (geb. 1874, gest. 1951) 1921: Das Vorbild Adrian Leverkühns als Zwölftonmusiker ist Arnold Schönberg, und es nimmt nicht wunder, daß „Doktor Faustus“ zum bleibenden Zerwürfnis zwischen Mann und Schönberg, einem Komponisten jüdisch-österreichischer Herkunft, geführt hat.

Da Thomas Mann sich bei seinen Ausführungen zur Musik durch den ebenfalls im US-Exil lebenden Philosophen Theodor W. Adorno (1938 – 1949) instruieren ließ, beförderte Manns Ansehen gewiß auch dasjenige des bis dahin wenig bekannten Adorno (geb. 1903, gest. 1969; eigentlich Theodor Ludwig Wiesengrund; sein Vater war jüdisch-deutscher Herkunft, aber zum Protestantismus konvertiert, die katholische Mutter entstammte einem korsischen Adelsgeschlecht; Adorno empfing die Erstkommunion, ließ sich aber aber als Protestant konfirmieren und wandte sich nach dem 2. Weltkrieg dem Judentum zu), und dessen in der BRD aufsteigender Stern bescherte wiederum Manns „Doktor Faustus“ gewiß einigen zusätzlichen Glanz. – Mann ließ Adorno sogar in seinem „Doktor Faustus“ auftreten, allerdings wenig schmeichelhaft, nämlich als zweite Erscheinungsweise des Teufels, der Adrian Leverkühn in Italien aufsucht („Doktor Faustus“, XXV).

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Über die autobiographische Deutung hinaus verweist der Autor selbst auf eine zeitgeschichtliche, da er innerhalb des Romans die fiktive Aufzeichnung seiner Erinnerungen in die Jahre 1943 bis 1945 datiert und Bezüge zu damals aktuellen Geschehnissen herstellt.

Alle Verbrechen der Alliierten lastet er den Deutschen an, die Wind gesät und Sturm geerntet hätten („Doktor Faustus“, VI). Nach dieser Logik dürfte man jeden, der sich irgendetwas hat zu Schulden kommen lassen, anschließend gerechter Weise beliebig zu Tode quälen. „Unterdessen haben wir die Zerstörung unserer würdigen Städte aus der Luft erlebt, die zum Himmel schreien würde, wenn nicht wir Schuldbeladenen es wären, die es erleiden.“ („Doktor Faustus“, XXI) – Weil das ganze deutsche Volk – bis auf die Emigranten bzw. Exilanten – schuldig ist, trifft auch alle die Strafe: „…und es bedeutet tatsächlich, daß wir verloren sind, verloren unsere Sache und Seele, unser Glaube und unsere Geschichte.“ („Doktor Faustus“, XXI)

Worin besteht die Schuld? Das hernach so vertraute Element der Judenverfolgung, gar des „Holocaust“, spielt hier noch keine Rolle, obwohl in Konzentrationslagern verübte Verbrechen, die man von Seiten der USA allen Deutschen anlastet, erwähnt werden („Doktor Faustus“, XLVI). Angesichts von Vergehen gegen das „Menschenrecht“ ist zu fagen, „wie überhaupt noch in Zukunft ‚Deutschland‘ in irgendeiner seiner Erscheinungen…in menschlichen Angelegenheiten den Mund“ wird auftun dürfen („Doktor Faustus“, XLVI).

Die deutsche Kollektivschuld besteht eigentlich im „va banque“-Spiel („Doktor Faustus“, XXI), das mißlang. Mann spricht vom „Fehlschlagen unseres Welteroberungsunternehmens“ („Doktor Faustus“, ebd.). – Damit wird Deutschland derselbe Vorwurf gemacht, der es nach Mann schon angesichts des 1. Weltkriegs traf. Tatsächlich verfolgten – vom weltumspannenden britischen Kolonialreich, das schon bald verfiel, abgesehen – zwei der alliierten Siegermächte des 2. Weltkriegs Pläne zur Erlangung der Weltherrschaft, nämlich die Sowjetunion als Vorkämpferin der Weltrevolution und die USA als Führungsmacht dessen, was später Globalisierung genannt wurde. Dabei kämpfen die Angloamerikaner aus Sicht des – sonst sich doch als Agnostiker verstehenden – Autors Mann offenbar im Dienst höherer Mächte, als Vollstrecker des göttlichen Willens, denn es heißt von ihrem Bombardement der bayrischen Hauptstadt, daß „das Jüngste Gericht…München traf…“ („Doktor Faustus“, ebd.). Der Luftkrieg gleicht daher dem Schrecken von „Sodom und Gomorra“ („Doktor Faustus“, XXXIII).

Als Opportunist schlußfolgert Thomas Mann, daß Deutschlands „tausendjährige Geschichte(,) widerlegt, ad absurdum geführt, als unselig verfehlt, als Irrweg erwiesen [worden ist] durch dieses Ergebnis“, nämlich seinen „Bankerott“, d.h. durch die Niederlage und dieVerwüstung („Doktor Faustus“, XLIII). Damit gelangt Deutschland, dessen „Weg…heillos war überall“ („Doktor Faustus“, ebd.), das während seiner tausendjährigen Existenz anscheinend nichts weiter tat, als das kurzlebige NS-Regime vorzubereiten, an sein Ende. – Schon als sich die Niederlage abzeichnete, kommentierte Mann: „Es ist aus mit Deutschland, …ein unnennbarer Zusammenbruch…zeichnet sich ab…was droht, …ist die Verzweiflung, ist der Wahnsinn.“ („Doktor Faustus“, XXI) Somit endet Deutschland schließlich wie Adrian Leverkühn, im Wahnsinn.

Der NS-Staat war Deutschlands „letzter und äußerster Versuch, die selbsteigene politische Form zu finden“ („Doktor Faustus“, XLVI). Nach seiner desaströsen Niederlage hält Deutschland es nun wohl selbst „noch für das beste…, zur Kolonie fremder Mächte zu werden“ („Doktor Faustus“, ebd.). Sein Dasein wird dem der „Juden des Ghetto[s]“ gleichen („Doktor Faustus“, ebd.).

Leverkühn soll zwei Jahre vor Beginn der Aufzeichnungen, also 1941 gestorben sein („Doktor Faustus“, I), doch die „Nachschrift“ des Buches datiert sein Ableben in das Jahr 1940. Demnach fand Adrian Leverkühns psychischer Zusammenbruch im Mai 1930 elf bzw. zehn Jahre zuvor statt („Doktor Faustus“, XLVII). Die anschließende geistige Umnachtung („Doktor Faustus“, Nachschrift) erinnert an Nietzsche (geb. 1844, gest. 1900), Syphilitiker wie Adrian Leverkühn, der eine etwa eben so lange Zeit bis zu seinem Tod (1889 – 1900) in solchem Zustand verbrachte. Nietzsche gilt vielen als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus, was Leverkühn in unmittelbare Beziehung zum geschichtlichen Weg Deutschlands hin zum NS-Regime bringt und ihn damit als Verkörperung des Typus des Deutschen erscheinen läßt. – Auch stammte Adrian Leverkühn aus der Nähe von Weißenfels („Doktor Faustus“, III), also aus derselben Gegend wie Nietzsche, der in Röcken bei Lützen zur Welt kam; zur Schule ging Nietzsche in Naumburg, an dessen Stelle Mann das erdachte Kaisersaschern setzt, in dem Adrian Leverkühn das Gymnasium besuchte.

Schon in den „Betrachtungen eines Unpolitischen (1918)“, gerichtet gegen einen anonymen Zivilisationsliteraten, bei dem er an seinen Bruder Heinrich dachte, mit dem er sich erst 1922 mit seiner Hinwendung zum Liberalismus versöhnte, ging Mann von einem kulturellen Unterschied zwischen Deutschland und der westlicher Zivilisation aus, nur wandte er dies während des 2. Weltkrieges nicht mehr gegen den Westen, sondern gegen Deutschland. Den Westen sah er in der Tradion der Klassik und des Weströmischen Reiches, Deutschland hingegen nicht, obwohl die Könige gerade dieses Lande doch fast tausend Jahre lang sich als Nachfolger der römischen Kaiser im Westen verstanden. Man erkennt, wie Mann vom protestantisch-preußischen Standpunkt her die Deutschen in einem Gegensatz zu Rom, der Stadt der Päpste, sieht. Es handelt sich also bei dem Kampf gegen die Zivilisation des Westens um so etwas wie die Fortsetzung des Aufruhrs Martin Luthers (geb. 1483, gest. 1546) gegen Rom. Zwischen der lateinischen Zivilisation des Westens samt deren Demokratie im Gegensatz zum Volksstaat und der Kultur sah Mann einen Gegensatz, ebenso zwischen deren Literatur und schriftstellerischer Kunst. Deutschland bilde den letzten Hort der erhaltenden Kräfte, die dem Ansturm des modernen Liberalismus noch entgegen ständen. Als natürlichen Verbündeten sah Mann Rußland an. – Diese Ansichten vermochte Mann als Opportunist nach der Niederlage (1918) natürlich auf die Dauer nicht aufrechtzuerhalten.

Der Erzähler Serenus Zeitblohm im „Doktor Faustus“ steht für die katholischen Deutschen, der zur lutherischen Konfession gehörige Adrian Leverkühn für die protestantischen, die seit Mitte des 18. Jahrhunderts dominierten und endlich über die preußische Tradition hinweg im NS-Staat ganz Deutschland beherrschten; so dienen dem Führer auch die beiden Söhne Zeitblohms, und daher „ist der Zusammenhalt dieser jungen Männer mit dem stillen Elternheim nur locker zu nennen.“ („Doktor Faustus“, II)

Das Spätmittelalter hält Mann für Hort der Hysterie, ja des Wahns, für etwas „Finsteres und dem Geiste der Neuzeit ins Gesicht Schlagendes“ („Doktor Faustus“, VI), das in Deutschland bewahrt wurde, was sich bereits am Auftreten vieler Sonderlinge, aber auch in der Architektur der fiktiven Stadt Kaisersaschern zeigt („Doktor Faustus“, ebd.). Aus dem 15. Jahrhundert stammt die Schule, die Serenus und Adrian besuchten („Doktor Faustus“, II). Mann spricht vom „Rückständig-Bösen“ („Doktor Faustus“, VI). Schon das Deutsche als Sprache nennt er das „heimisch Verhaßte“ („Doktor Faustus“, XXV).

Die im Westen verwirklichte Neuzeit hingegen scheint in Manns Augen eine dem Geist verpflichtete Epoche zu sein, der gewissermaßen auch Serenus Zeitblohm angehört: Er ist katholisch und steht zugleich in humanistischer Tradition und damit in derjenigen der griechischen Antike, ohne daß beides einen Widerspruch bilden würde.

Der Autor sieht das Daemonische in besonderer Weise verbunden mit dem Geschlechtlichen („Doktor Faustus“, XII) bzw. allgemein mit den Trieben („Doktor Faustus“, XIV). – Adrian Leverkühn meint, die Natur entspringe dem Bösen („Doktor Faustus“, XXII); gemeint ist die Natur (mit ihrer Sinnlichkeit, „Doktor Faustus“, XXII) im Gegensatz zum Geist, denn Mann bezeichnete schon 1932 in seiner „Rede vor Arbeitern in Wien“ den Nationalsozialismus, „der die…lebensspendenden Kräfte des Unbewußten, Dynamischen, Dunkelschöpferischen auf den Schild“ hebe, als eine „Naturrevolution gegen das Geistige“, und eben diese Geistesferne ist nach Mann typisch deutsch, hervorgewachsen aus dem Spätmittelalter. Sie finde ihren Ausdruck insbesondere in der Musik, galten die Deutschen seit dem 19. Jahrhundert doch als Nation unvergleichlicher Musikkomponisten. – Geist steht bei Mann für „Wahrheit, Freiheit, Recht, Vernunft“, und all dies wurde von den Deutschen, insbesondere nach dem 1. Weltkrieg, „völlig entkräftet und verworfen“, so daß sich der Nationalsozialismus etablieren konnte, womit „theokratisch-mittelalterliche Zustände“ wiederkehrten („Doktor Faustus“, XXXIV Fortsetzung).

Den Teufel nennt Mann den „Herrn des Enthusiasmus“ („Doktor Faustus“, XXV), darauf Bezug nehmend, daß nach seiner Auffassung das Daemonische in der Freisetzung der Triebe besteht, die gegen den Geist rebellieren. Das „Dämonische“ entspricht dem „Widervernünftigen“ und steht im Gegensatz zum Humanismus („Doktor Faustus“, I). Die auf die Griechen zurückgehende Kultur integriert das Phänomen des „Nächtig-Ungeheuren“ („Doktor Faustus“, II), macht es unschädlich. Diese Kultur ist in der Neuzeit gegenwärtig im „bürgerlichen Humanismus“ („Doktor Faustus“, XXXIV) des Westens.

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Adrian Leverkühn soll seiner Herkunft stets verhaftet gebleiben sein, so auch in seiner Musik, die stets die „Musik von Kaisersaschern“ („Doktor Faustus“, X), des fiktiven geistigen Zentrums Deutschlands, geblieben sei. Dies paßt überhaupt nicht zur modernen Zwölftonmusik. Adrian ist ja der urbildhafte Vertreter des Deutschtums, das aus der Vergangenheit lebt, stets Kaisersaschern verhaftet bleibt. Wäre er genial über die Spätromantik hinausgelangt, wäre dies stimmiger erschienen. So aber komponiert er nicht etwa rauschhaft, dem Geiste im Sinne Thomas Manns entgegen und dem Daemonischen ausgesetzt, vielmehr ist seine Komposition das Ergebnis konzentriertester Reflexion.

Diesem Widerspruch zu Grunde liegt die literarische Komposition der Gestalt Adrian Leverkühns, denn er trägt – unvereinbar miteinander – einerseits autobiographische Züge Manns, die zum Zwölftonkomponisten passen, doch soll er andererseits den Typus des Deutschen verkörpern, doch war Mann eben kein typischer Deutscher. Adrian hätte entweder auf autobiographische Anteile Manns und die Zwölftonmusik verzichten müssen oder auf die Rolle als Verkörperung des Deutschen auf dem Weg zum NS-Regime und sein Verhaftetsein in der Tradition der Stadt Kaisersaschern. Beides zusammen konnte keine stimmige Geschichte ergeben.

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In dem vom Ende des 16. Jahrhunderts stammenden Volksbuch über Doctor Faustus, einer Sammlung volkstümlicher Geschichten, wird von einem Bündnis zwischen dem Protagonisten und dem Teufel erzählt: Dieser wird dem Faust vierundzwanzig Jahre zu Diensten sein und darf danach dessen Seele holen. Bei der geschichtlichen Persönlichkeit hinter der Sammlung wird es sich um den Astrologen und Wahrsager Georg aus Helmstadt östlich von Heidelberg (geb. wohl 1466, gest. ca. 1541; Nachname nicht bekannt), gehandelt haben, einen Magister der Freien Künste, der sich später Faustus, der Glückbringende, nannte.

Auf welche der beiden Seiten der widersprüchlichen Gestalt Adrian Leverkühns gehört nun der Teufelspakt, mag man fragen. Die Antwort lautet: Auf beide, sowohl auf die geschichtliche als auch auf die autobiographische. – Die Begegnung Leverkühns mit dem Teufel soll sich in Italien während des Sommers 1911 oder 1912 ereignet haben („Doktor Faustus“, XXV); es stellt sich dann heraus, daß sie fünf Jahre nach der Syphilisinfektion, also 1911, stattfand („Doktor Faustus“, ebd.).

Zur geschichtlichen Deutung gehört vor allem die Mitteilung, der Teufel spreche deutsch, „manchmal verteh[e er]…überhaupt nur deutsch.“ („Doktor Faustus“, XXV) Die spätmittelalterliche Zeit des Wahnes, die sich nach Mann in Deutschland gegen den Geist der Neuzeit erhalten hat, erwähnt auch der Adrian erscheinende Daemon. „Gute Zeit, verteufelt deutsche Zeit!“, nennt er sie („Doktor Faustus“, ebd.). Das Daemonische und damit der Teufelspakt wird so in eine Verbindung mit der deutschen Geschichte und Kultur gebracht. „Deutschland…[war nämlich – man höre und staune – während des 2. Weltkriegs] im Begriffe, die Welt zu gewinnen, kraft eines Vertrages, …den es mit seinem Blute gezeichnet hatte.“ („Doktor Faustus“, Nachschrift) – Das absolut Böse wird vergeschichtlicht. Damit ensteht der Widerspruch, wonach entweder Geschichtliches verabsolutiert oder das Böse relativiert wird.

Mann unterstellt dem Deutschland des beginnenden 20. Jahrhunderts das Bestreben, durch Krieg zur Weltmacht aufzusteigen. Zwar räumt er ein, daß Deutschland 1914 auch „zum Kriege gezwungen“ wurde, doch sei es „wohl vorbereitet“ gewesen („Doktor Faustus“, XXX), was aber nicht zutrifft, wie schon der damals bestehende Mangel an Schwefel für die Munitionsproduktion zeigt. Da Deutschland samt Österreich-Ungarn ringsum von Gegnern umgeben war, wäre es wirklich zur Weltmacht aufgestiegen, hätte es sie alle besiegen können. Wenn solche Gedanken in manchen Kreisen auch hoffnungsvoll geäußert wurden, so waren sie doch realitätsfern. Doch nach Mann begrüßten die Deutschen ganz allgemein den 1. Weltkrieg als Beginn einer neuen Epoche, in der nach „Spanien, Frankreich, England“ nun Deutschland „der Welt seinen Stempel“ aufdrücken würde durch seinen Aufstieg zur dominierenden Weltmacht („Doktor Faustus“, ebd.).

Der 2. Weltkrieg läßt sich zwar verstehen aus dem „Vorhaben, die deutsche Schmach zu rächen“ („Doktor Faustus“, XXXIX), doch der tiefere Grund für den Kriegsausbruch liegt im deutschen Wesen: Die „Durchbruchsbegierde aus der Gebundenheit und Versiegelung im Häßlichen…ist…die Definition des Deutschtums geradezu…“ („Doktor Faustus“, XXX), und um solchen Durchbruch herbeizuführen, wird Krieg geführt („Doktor Faustus“, ebd.).

Mit dem NS-Regime ist „Deutschland…das Deutschtum, alles Deutsche – der Welt unerträglich“ geworden („Doktor Faustus“, XXXIII). Dessen „Lust [ist es], das Geistige zu zertreten“ („Doktor Faustus“, ebd.), was der bolschewistischen „Pöbelherrschaft durchaus ferne“ liegt („Doktor Faustus“, ebd.). Die „Demokratie der Westländer“ schließlich liegt „auf der Linie des menschlichen Fortschritts, …der Überführung in lebensgerechtere Zustände…“ („Doktor Faustus“, ebd.).

In der Zeit spätmittelalterlichen Wahnes um 1500, die Deutschland so nachhaltig prägte, kam auch die Syphilis ins Land und verursachte grausige Symptome, inzwischen aber nur mehr weniger tödliche. Die Krankheit dient dem Teufel einerseits dazu, gewöhnliche Menschen zu quälen, andererseits aber auch, um besonders Begabten zur Steigerung ihrer Fähigkeiten zu dienen. Die Krankheitserreger wirken nicht schöpferisch, sondern „entbinden nur und setzen frei.“ („Doktor Faustus“, XXV) Dies tun sie eben im Dienste des Daemons. Auf diese Weise gewährt er Leverkühn vierundzwanzig Jahre währender musikalischer Genialität („Doktor Faustus“, ebd.), die mit der Syphilisinfizierung im Mai 1906 beginnt. Zu dieser Zeit wurde der Teufelspakt geschlossen, und die Erscheinung im Sommer 1911 dient lediglich der Bekräftigung, der „Konfirmation“ („Doktor Faustus“, ebd.). Dafür ist Leverkühn im Gegenzug alle „Liebe…verboten, insofern sie wärmt.“ („Doktor Faustus“, ebd.)

Adrian ist ohnehin allen Menschen seiner Umgebung gegenüber distanziert. Er merkt sich schon in jungen Jahren nicht einmal deren Namen („Doktor Faustus“, XXV). Wie kühl Thomas Mann war, das bekamen vor allem seine Kinder zu spüren; so erinnerte sich seine Tochter Monika (geb. 1910, gest. 1992) nicht, jemals ein Gespräch mit dem Vater geführt zu haben. Zwei Menschen gegenüber empfand er jedoch anders: Rudi Schwerdtfeger alias Paul Ehrenberg (geb. 1876, gest. 1949; Kunstmaler), Manns Münchner Schwarm (1899 – 1904), „bei dem ich“, wie Mann Adrian Leverkühn sagen läßt, „zum erstenmal in meinem Leben menschliche Wärme fand“ („Doktor Faustus“, XLI), und der in süßlichen Worten geschilderte Knabe Echo („Doktor Faustus“, XLIV) alias Frido, Manns Lieblingsenkel, mit dem Adrian Leverkühn „gern Hand in Hand…ins Feld spazierenging“ („Doktor Faustus“, XLIV); diese beiden ließ der Autor zumindest im „Doktor Faustus“ sterben („Doktor Faustus“, XLII und XLV). – Übrigens verwendete „Echo, das Kind, Adrians letzte Liebe“ („Doktor Faustus“, XLV), durch und durch deutsch, mittelhochdeutsche Ausdrücke („Doktor Faustus“, XLIV), die wiederum auf das Spätmittelalter verweisen sollen, und dieser Zeit nähert sich auch Adrian Leverkühns Ausdrucksweise an, als er endgültig dem Wahnsinn verfällt („Doktor Faustus“, XLVII).

Der Pakt mit dem Teufel besteht einerseits in der Enthemmung, die Deutschland nach fünfhundert Jahren mißlungener Annäherung an die Neuzeit in die Barbarei zurückführt, andererseits aber ist die Hölle für Adrian Leverkühn persönlich „nur das mehr oder weniger Gewohnte, und mit Stolz Gewohnte… Sie ist im Grunde nur die Fortsetzung des extravaganten Daseins.“ – Schon zuvor heißt es: „Je länger [du überlegst], je weniger wirst du fähig und willens sein, dich zur contritio [im Sinne der wirksamen Umkehr] herbeizulassen, sintemalen das extravagante Dasein, das du führen wirst, eine große Verwöhnung ist, aus der man nicht mir nichts dir nichts ins Mittelmäßig-Heilsame zurückfindet.“ („Doktor Faustus“, XXV)

Wer wollte bei diesen Worten nicht an Thomas Manns ausschließlich standesamtliche Eheschließung am 11. Februar 1905 denken, die ihm zu einem extravaganten Dasein verhalf? Der Homoerotiker hatte eloquent um die Hand Katia Pringsheims (geb. 1883, gest. 1980) angehalten, einer Tochter aus reichem Hause, und diese hattte seinen Antrag – warum auch immer – angenommen; später jedenfalls fungierte sie als „Chefin der Firma Thomas Mann“, so ihr Enkel Frido Mann (geb. 1940; eigentlich Fridolin) in einem Interview (2003). Zu Beginn des Jahres 1905 beendete Thomas Mann sein Junggesellenleben, indem er für die knapp zwei Wochen bis zur Trauung in eine Pension zog, die in derselben Straße lag wie die zukünftige Wohnung der Eheleute Mann, vom Schwiegervater neu und komfortabel eingerichtet, so daß Thomas Mann kaum Meubles aus seiner Junggesellenzeit dorthin mitnehmen durfte. – Bemerkenswerter Weise datiert Mann die Begegnung mit „Haetera Esmeralda“, die später die Syphilis auf Adrian Leverkühn überträgt und ihm damit den Teufelspakt ermöglicht, in beinahe dieselben Tage wie seine Trauung, nämlich auf den Beginn des Jahres 1905; Adrian Leverkühn berichtet davon – offenbar wenige Wochen später – in einem Brief, der als Datum den Freitag nach Lichtmeß nennt (XVI), der 1905 auf den 3. Februar fiel.

Ob Thomas Mann seine Ehefrau im „Doktor Faustus“ sogar verhöhnte? Es heißt von ihr, daß sie sich ihrem Mann zu Liebe die Brust verkleinern ließ. Mann erzählt von der zwiefach im Leben Adrian Leverkühns erscheinenden Stallmagd Hanne-Waltpurgis mit den mistigen Barfüßen und einem Schlotter- bzw. Waberbusen („Doktor Faustus“, IV). Durch die Stallmagd erlernte er das einfache Kanonsingen („Doktor Faustus“, ebd.), von der Mutter aber ererbte er seinen „unglaublichen Klangsinn(es)“ („Doktor Faustus“, ebd.).

6 Kommentare zu „Der Tambourmajor“

  • Meyer:

    Hervorragend.

  • Falkenstein:

    Gute Arbeit.
     
    Mann war ein Deutscher mit wenig Charakter

  • Meyer:

    Charakterlos? – Stimmt.
    Aber Deutscher? – Wie kommen Sie darauf?

  • Falkenstein:

    3 Meyeram 20 Aug 2010 um 15:19

    Charakterlos? – Stimmt.
    Aber Deutscher? – Wie kommen Sie darauf?

     
    Geboren in Deutschland, geboren als Deutscher und verehrt als Deutscher von Deutschen.
     

  • Meyer:

    Na und? Deswegen ist ja doch falsch.
    Geboren als Staatsangehöriger des Deutschen Reiches. – Hätte das einen Polen aus Westpreußen zu einem Deutschen gemacht? Wohl eher nicht.
    Und wenn dieser Pole dann später die Staatsangehörigkeit Polens auch noch erwirbt? – Schon gar nicht. Pole. Von der ersten Minute an.

    Und was sollte da bei einem Juden anders sein, der in Deutschland geboren wurde und später die Staatsbürgerschaft der U.S. annahm? Genau, nichts.

    Was viele Deutsche so denken, sagen und tun interessiert mich nicht. Das Handeln anderer ist doch kein Richtigkeitskriterium für einen selbständig denkenden Menschen.

  • virOblationis:

    Thomas Mann war kein Jude. Väterlicherseits war entstammte er einer alteingesessenen Lübecker Familie, mütterlicherseits hatte er – von einer brasilianischen Großmutter abgesehen – ebenfalls einen Lübecker Vorfahren: Sein Großvater war nach Südamerika ausgewandert, und dessen Tochter, Thomas Manns Mutter, lebte seit sie sechs Jahre alt war in Lübeck. Thomas Manns Ehefrau war hingegen väterlicherseits jüdischer Abstammung.
     

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