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Der standhafte Zinnsoldat

Oftmals denke ich, daß die Menschen heute – in geistigem Sinne – vor vollen Tellern verhungern: Uns ist so vieles leicht zugänglich, worum sich Frühere bemühen mußten; wir könnten sogar für wenige Cent Bücher erwerben, für die unsere Eltern- oder Großeltern viel mehr gaben, da sie sie nicht ohne Gefahr lasen. Ich denke dabei an die christlichen Schriften Reinhold Schneiders, deren Verbreitung dem Autor 1945 eine Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat einbrachte. Doch wen interessiert dies heute noch? Dabei ist Reinhold Schneider eine überaus interessante Persönlichkeit, ein Mann, in dem sich das Schicksal des konfessionell und später auch politisch geteilten Deutschland gewissermaßen verkörpert.

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Der aus dem Badischen stammende Reinhold Schneider (geb. 1903, gest. 1958) kam im Jahre 1903 als zweites Kind eines konfessionsverschiedenen Ehepaares zur Welt. Gemäß der Zugehörigkeit der Mutter zur katholischen Kirche wurden auch die beiden Söhne nach ihrer Taufe in diesem Sinne erzogen. Doch spielte die Religion keine bedeutendere Rolle im Familienleben, das durch den Betrieb des von den Eltern gemeinsam geführten Hotels geprägt wurde und den Kindern wenig Geborgenheit bot. Reinhold Schneiders Großvater mütterlicherseits hatte das renommierte Hotel Messmer erbaut, in dem der Deutsche Kaiser Wilhelm I. (1871 – 1888) mit seiner Gemahlin (Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach, geb. 1811, gest. 1890) regelmäßig logierte, wenn er sich in der Stadt Baden (Seit 1931 Baden-Baden genannt, um sie von anderen Städten desselben Namens zu unterscheiden.) aufhielt. – Reinhold Schneider erhielt seinen Vornamen, da die Eltern den der Wilhelminischen Ära populären Bildhauer Reinhold Begas (geb. 1831, gest. 1911) überaus schätzten; eine Reproduktion der Büste Wilhelms II. (1888 – 1918) mit Flügelhelm schmückte den Speisesaal des Hotels.

Der Vater Reinhold Schneiders stammte aus dem sächsischen Erzgebirge, und nicht weit davon entfernt, in Dresden, absolvierte Reinhold Schneider eine Lehre als kaufmännischer Übersetzer (1921 – 1923), nachdem er die Abschlußprüfung der Oberrealschule bestanden hatte. Während der Zeit der beginnenden Hyperinflation, verursacht durch die Reparationsforderungen an das Deutsche Reich nach dem Versailler Vertrag (1919), im Jahre 1922, wurde das elterliche Hotel zwangsversteigert (1957 erfolgte der Abriß des Gebäudes). Die Mutter verließ die Familie, der zur Schwermut neigende Vater erschoß sich. Reinhold Schneider versuchte ebenfalls einen Selbstmord, verblutete aber nicht, wie er es beabsichtigt hatte. Er begriff den Selbstmord nicht als Sünde, da sein – ohnhin nur oberflächlicher Glaube – bereits in den Jugendjahren verdunstet war. Immerhin führte ihn die Frage nach dem Dasein zu Plato (griech. Platon; geb. 427, gest. 347 v. Chr.), und die Beschäftigung mit dessen Philosophie eröffnete ihm einen Einblick in die Welt des Geistes:: „Ich kaufte mir Dialoge Platos … [als Reclambändchen]; ich bin selten glücklicher gewesen als mit diesen Heften: die Unberührbarkeit der geistigen Welt, ihre Schicksallosigkeit, unter der sich das Schicksal des Sokrates ereignet, ging mir auf. Ich muß geahnt haben, daß die Wahrheit ohne Schicksal ist.“ („Verhüllter Tag (1954)“, Kap. Die Vorstadt) Doch leider folgte Schneider diesem Pfad nicht weiter.

Im Jahre 1923 suchte sich Reinhold Schneider eine neue Vermieterin in Dresden und lernte auf diese Weise Anna Maria Baumgarten (geb. 1881, gest. 1960) kennen, die zwei Jahre jünger war als seine Mutter und die „Gefährtin seines Lebens“ wurde und ihm später den Haushalt führte. – In den bis 1928 folgenden fünf Jahren war Reinhold Schneider für die Dresdner Kunstanstalt Stengel & Co. tätig, ein damals nicht unbedeutendes Unternehmen der Druckindustrie, das insbesondere für seine Lithographien bekannt war. Daneben befaßte er sich intensiv mit verschiedenen europäischen Sprachen: Englisch, Französisch, Italinisch, Spanisch und Portugiesisch.

Vom Jahre 1928 an wirkte Reinhold Schneider als freier Schriftsteller. Er wohnte bis 1932 in Loschwitz bei Dresden, danach in Potsdam. Reisen führten ihn in mehrere europäische Länder, und er verfaßte als überzeugter Monarchist vor allem Werke zur Geschichte, in denen sein „tragischer Nihilismus“ Ausdruck gewann, seine schwermütige Sicht der Geschichte.

1937 kehrte er in seine badische Heimat zurück und ließ sich im Jahr darauf in Freiburg nieder. 1938 wurde zum Schicksalsjahr für ihn, denn es trat mit einem heftigen Fieberanfall zum ersten Mal die Erkrankung der Verdauungsorgane in Erscheinung (wohl Colitis ulcerosa), die ihn die folgenden zwanzig Jahre bis zu seinem Tode belastete; schließlich vermochte der über zwei Meter große, magere Mann nur noch stehend zu arbeiten. In demselben Jahr 1938 fand Schneider zum katholischen Glauben – und blieb dabei doch der Nachkomme aus konfessionsverschiedener Ehe, denn sein negatives Bild des Menschen entsprach kaum dem katholischen, sondern viel eher dem protestantischen Bekenntnis. Schneider bekannte sich zum katholischen Glauben und vermochte es doch nicht, dem Protestantismus abzuschwören.

Im Jahre 1938 entstand Schneiders bekanntestes Werk, die Erzählung „Las Casas vor Karl V.“, mit der er sich in Form einer historischen Erzählung gegen die nationalsozialistische Verfolgung der Juden in Deutschland wandte. Im Mittelpunkt steht Bartholomé de las Casas (geb. wohl 1474, gest. 1566), ein Dominikaner, der als Anwalt der von den Spaniern in der Neuen Welt unterworfenen Indios auftrat; er scheint ein Vorläufer der Idealisierung farbiger Völkerschaften als „Edle Wilde“ gewesen zu sein. Jedenfalls gehörte Las Casas 1539 einer Junta, Kommission, an, auf deren Rat hin, Kaiser Karl V. (1519 – 1556, gest. 1558) drei Jahre später seine „Neuen Gesetze“ (span. Leyes Nuevas) erließ, die die Vererbbarkeit persönlicher Unfreiheit aufhob (1542), nachdem Papst Paul III. (1534 – 1549) 1537 die Versklavung der indianischen Ureinwohner und aller übrigen Menschen verboten hatte. Doch wegen des spanischen Widerstandes in der Neuen Welt mußten die wichtigsten Bestimmungen der Neuen Gesetze schon 1545 zurückgenommen werden; es erscheint tatsächlich problematisch, das Encomienda-System in der Neuen Welt zu verbieten, ohne die Leibeigenschaft im Abendland in Frage zu stellen. 1550 trat in Valladolid neuerlich eine Junta zusammen, die über die Behandlung der Indios disputierte; Las Casas nahm abermals daran teil. Schneider nun stellte in seiner Erzählung die Geschichte so dar, daß Las Casas mit seinem Auftreten in Valladolid 1550 den Anstoß zur Abfassung der „Neuen Gesetze“ gegeben habe, die danach in Kraft getreten seien und verhindert hätten, daß sich das Interesse des Staates über Gottes Gebote setzte.

Zu Beginn des 2. Weltkrieges unterhielt Schneider bereits Kontakt zu mehreren Widerstandsgruppen, und es gelang ihm trotz eines Publikationserbotes christliche Schriften drucken zu lassen, die anschließend illegal verbreitet wurden. In „Das Vaterunser (1941)“ fordert Schneider eine gesellschaftliche und politische Ordnung, die der himmlischen entspricht. In erzählerischer Form spricht auch „Der Gast“ davon, eine von zwei Geschichten über den hl. Ignatius von Loyola (geb. 1491, gest. 1556), die in dem Büchlein „Der Überwinder (1941)“ enthalten ist.

„Las Casas vor Karl V. (1938)“ durfte noch bis 1943 erscheinen. Doch wegen der ohne Genehmigung verbreiteten christlichen Schriften nahm die GeStaPo 1944 eine Hausdurchsuchung bei Reinhold Schneider und Anna Maria Baumgarten vor. 1945 erfolgte die Anklage wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Doch wurde Reinhold Schneider gerade operiert, so daß er nicht verhandlungsfähig war, und danach marschierten bereits die Franzosen in Freiburg ein.

In der Nachkriegszeit kehrte Schneiders pessimistische Sicht der Geschichte zurück, obwohl er dem Glauben treu blieb. Er schrieb: „Geschichtswelt ist Verdammnis. Uns bleibt kaum eine irdische Hoffnung: es bleibt die Notwendigkeit, das eherne Soll des kämpfenden Glaubens…“ („Verhüllter Tag (1954), Kap. Der Schlachtberg) Der in der BRD allgemein so freudig begrüßten Westbindung begegnete Schneider skeptisch, und die damit verbundene Wiederbewaffnung lehnte er ebenso wie die gesamte atomare Aufrüstung vehement ab; Schneider begriff, weder das Dasein unter us-amerikanischer noch das unter sowjetischer Vorherrschaft als erstrebenswert und setzte sich – nach wie vor Monarchist – für eine friedliche Wiedervereinigung Deutschlands ein. Wohl in Ermangelung von Gleichgesinnten aus dem konservativen Lager ließ er politische Aufsätze in kommunistisch ausgerichteten Zeitschriften erscheinen und geriet dadurch zu Beginn der fünfziger Jahre ins gesellschaftliche Abseits. Schneiders Suche nach Verbündeten beim Gegner wird letztlich auf dem konfessionellen Zwiespalt in seinem Inneren beruht haben, der in seinem Elternhaus gründete und ihn schon vor seiner Bekehrung philosophisch in der Irre führte, als er sich an Miguel de Unamuno (geb. 1864, gest. 1936) orientierte, einem der führenden Köpfe der „Gruppe 98“, des spanischen Vorbildes der „Gruppe 47“. – 1952 wurde Schneider auf Vorschlag des Bundespräsidenten Theodor Heuss (1949 – 1959) Träger des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Damit begann Schneiders Rehabilitierung, die auch in weiteren Auszeichnungen ihren Ausdruck fand.

Schneiders Spätwerk besteht vor allem aus Dramen und autobiographischer Prosa. Darunter ragt „Verhüllter Tag (1954)“ hervor, eine Erzählung, die den geistigen Lebensweg des Dichters nachzeichnet und insofern an die „Bekenntnisse“ (latein. Confessiones) des hl. Augustinus (geb. 354, gest. 430) erinnert, doch der „Verhüllte Tag“, dessen Titel auf Breughels Gemälde „Der düstere Tag (1565)“ anspielt, ist nicht wie die „Bekenntnisse“ als Gebet gestaltet ist, sondern als ein Monolog, der sich allerdings des allgegenwärtigen Christus bewußt ist.

Auf dem Weg zur Feier der Osternacht stürzte Reinhold Schneider 1958 sehr unglücklich, und am Morgen des Ostersonntags jenes Jahres, nachdem er die Ärzte im Krankenhaus darum gebeten hatte, ihn sterben zu lassen, verschied er an Gehirnblutungen. Anna Maria Baumgarten, seine Alleinerbin, übergab den literarischen Nachlaß Reinhold Schneiders 1959 der Badischen Landesbibliothek; ein Jahr darauf verstarb auch sie.



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