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"unbewältigte Vergangenheit"

Zwar ist schon viel über die sog. Vergangenheitsbewältigung geschrieben worden. Es fehlt aber noch an einer historischen Übersicht über den Verlauf dieses Abschnittes unserer Geschichte. Der Grund dafür ist natürlich vor allem in der Unabgeschlossenheit des Prozesses zu suchen. Dennoch läßt sich vielleicht schon etwas Näheres aussagen. Denn:

Alles, was nicht zeitlos ist, hat einen Beginn und ein Ende. Lebewesen weisen eine Phase des Heranwachsens, eine der Blüte und eine des Verfalls auf. So wird dieses Schema auch häufig auf geschichtliche Phänomene angewandt, ist doch die Geschichte ein von Menschen, also Lebewesen, gestalteter Prozeß.

Wendet man das genannte Dreier-Schema auf den Verlauf der Vergangenheitsbewältigung an, lassen sich folgende m.E. drei Phasen erkennnen:

Erste Phase (Heranwachsen) 1945 – 1959

Nach dem Sieg der Alliierten setzte die Umerziehung ein. Sie mußte, um verinnerlicht zu werden, in irgendeiner Weise mit den Erfahrungen der Deutschen vermittelt werden. Es entstanden Kompromißlösungen, die z.B. in den Filmen der fünfziger Jahre dazu führten, daß Wehrmachtssoldaten noch als tapfer und integer dargestellt wurden, ihre Führung aber als verbrecherisch und gewissenlos.

Zweite Phase (Blüte) 1959 – 1989

Die zweite Phase begann Ende 1959 mit Hakenkreuzschmierereine an einer Kölner Synagoge; dabei zog die Stasi im Hintergrund die Fäden. Die zweite Phase erreichte mit den „Achtundsechzigern“ einen vorläufigen Höhepunkt, da sich nun die Nachgeborenen gegen die Tätergeneration wandten; die extreme Variante dieser Haltung bildete die RAF (Baader-Meinhof-Bande).

Den endgültigen Höhepunkt erreichte die zweite Phase nach Ausstrahlung des vierteiligen us-amerikanischen TV-Filmes Holocaust (1978), der 1979 erstmals im wetdeutschen Fernsehen gezeigt wurde. Von da an verschwand der Gegensatz von Tätergeneration und den durch späte Geburt Begnadeten. Das Tätervolk trat an seine Stelle, sozusagen amtlich beglaubigt durch die Rede (JF 1/2010, S. 12) des Bundespräsidenten von Weizsäcker am 8. Mai 1985.

Dritte Phase (Verfall) ab 1989

Als die innerdeutsche Grenze fiel, änderte sich die Lage schlagartig, denn die Mitteldeutschen hatten nicht die westliche Umerziehung genossen, sondern die östliche. Deswegen kannten sie sich nicht als Angehörige eines Tätervolkes, sondern lokalisierten alte und neue Nazis – und damit die Schuldigen – allenfalls in Westdeutschland.

Hinzu kam, daß eine Enkelgeneration von Deutschen heranwuchs, die der behaupteten Zugehörigkeit zu einem Tätervolk wegen der ihnen als ferne Vergangenheit erscheinenden Ereignisse bis 1945 zunehmend ratlos gegenüberstand. Gleichwohl verhinderte u.a. die fortlaufende Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen eine freie Diskussion über dieses Thema, so daß ein bedrückendes, unbestimmtes Gefühl übrig blieb.

12 Kommentare zu „"unbewältigte Vergangenheit"“

  • Karl Eduard:

    Ja. Die DDR – Bürger gehörten zu den Siegern des WK II.

  • @ Karl Eduard

    Man muss schon ziemlich blöde oder schlicht bösartig sein, wenn man Virs Artikel so interpretiert.

    Sei’s drum.

  • @vir Oblationis

    Dein Überblick über die einzelnen Phasen ist klasse – ich sähe den Artikel gerne auf unserem WordPress-Dokumentationsblog Vaterland

  • Freidenker:

    Ein weitere Phase oder Zwischenstufe ist die Verfügbarkeit des unzensierten Internets.
    Ob sich das im Endefekt positiv oder negativ auswirkt vermag ich nicht zu beurteilen, aber wer Fragen hat und Informationen sucht kommt relativ leicht daran.
    Das war nicht immer so, auch in der BRD nicht.
    Die Bibelübersetzung in Kombination mit der Erfindung des Buchdrucks legten damals den Grundstein zum 30Jährigen Krieg.
    Das frei verfügbare Internet stellt für mich einen vergleichbaren historischen Wendepunkt dar, in dessen Windschatten die Überrreste der Umerziehung hinweggefegt werden könnten. (diesmal hoffentlich ohne Krieg)
    Stuttgart 21, Wikileaks, Piratenpartei, und der immer lauter werdende Ruf nach mehr Volksabstimmungen sehe ich als Vorboten dieser Wende. Auch wenn mich mit der Piratenpartei und den Stuttgart 21-Demos nichts verbindet.

  • Karl Eduard:

    @3 Judith
    Beides.
    Fakt ist aber nun einmal, daß die DDR – Geschichtsschreibung alles vom Standpunkt der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch – leninistischen Partei interpretierte. Infolgedessen versammelten sich im Westen Deutschlands die Nazis, während im demokratischeren Deutschland die Antifaschisten verblieben, die im Zuchthaus, KZ, in der Illegalität, als Partisanen in den verschiedensten Ländern oder in den Reihen der Roten Armee den Hitlerfaschismus bekämpften, wie es so schön hiess. Die DDR – Bürger gehörten also zu den Siegern und die Sowjetarmee zu den Waffenbrüdern, während die Westalliierten erst in Europa landeten, als abzusehen war, die Sowjetarmee würde es auch ohne sie schaffen. Schrieb man. Das ist auch heute noch in den Köpfen.
    Erst seit 1990 gehören auch die DDR – Bürger zu den Verlierern des II. WK und können es gar nicht fassen, was zum Beispiel für ein Tam Tam um den Holocaust veranstaltet wird, denn sich zusammenzutreiben und zur Schlachtbank führen zu lassen, ist keines Tam Tams würdig.
    Die westdeutsche Geschichtsschreibung ist derart kriecherisch, man mag es gar nicht fassen, die Männer des 20. Juli müssen bald fürchten, vor das Kriegsverbrechertribunal zu kommen und das bischen Sophie Scholl – eine Bürgerliche gar!
    Die DDR hat sich immerhin rausgepickt, worauf die Leute stolz sein konnten, hatte Helden geschaffen, vom legalen und illegalen Widerstand und Fernsehserien darüber gedreht. Das habe ich mit Sieger der Geschichte gemeint.

  • @ Karl Eduard

    Ah. So wird der erste Kommentar verständlicher. Buchen wir es unter Ost-West-Konflikt ab.

  • Was mich beschäftigt, sind diese Worthülsen, die wie Automatismen die Sprache beherrschen, wenn es um den Massenmord an den Juden geht. Nehmen wir nur mal das Wort „Bewältigen“.

    Darunter versteht man entweder
    a. die Bewältigung schwieriger Aufgaben, im Sinne von erfolgreich lösen [Sport, Mathe, Wissenschaft, Versuchsreihe etc.pp.], oder

    b. die Bewältigung von Problemen, schlimmen Erfahrungen uswusf. im Sinne von „geistig verarbeiten“, bis sie einen nicht mehr belasten im Sinn von „negativ beeinträchtigen“.

    Was konkret fordern also die, die ständig die „Vergangenheitsbewältigung“ anmahnen?

  • hutlos:

    „Als die innerdeutsche Grenze fiel, änderte sich die Lage schlagartig…“
     
    seit 1989 befindet sich die vergangenheitsbewältigung also im verfall? so ein unsinn. der verfasser wollte wohl die ganze sache in ein schema quetschen und hat prokrustes beliebte methode angewandt.
     
    die politische klasse der brd hat 1989 ihr lieblingskind verloren – den sozialismus. als ersatz(religion/ideologie) dafür hat sie sich den antifaschismus und die vergangenheitsbewältigung ausgesucht. seit 1989 sind diese beiden nicht im verfall begriffen, sondern wurden stärker als je zuvor.
     

  • Karl Eduard:

    @7 Judith
     
    Ja, heute wird zum Jahresende nur geknuddelt. Erfolgreiches 2011.

  • Georg Mogel:

    Selbstzerstörung
     
    Allem Anschein nach akzeptierte ein wichtiger Teil der deutschen Bevölkerung die Konzeption der Vernichtung des deutschen Geschichtsbewußtseins, d.h. seiner Reduzierung auf das Bewußtsein einer erst wenige Dezennien alten Schuld. Als ein junger amerikanischer Politologe ein Buch schrieb, das im Ausgang von schrecklichen, aber in der Weltgeschichte keineswegs einzigartigen Greueltaten in Polen eingesetzter Polizeibataillone und indirekt der „Einsatzgruppen“ der SS dem Sinn nach das ganze deutsche Volk (letzten Endes aber auch das christliche Europa insgesamt) mit eklatanter Begriffsverwirrung des „eliminatorischen“ Antisemitismus schuldig sprach, da wurde dieses Buch, auch in der deutschen Übersetzung zum „Bestseller“ und in den im Fernsehen in jedes Haus übertragenen Diskussionen mit deutschen Historikern und Publizisten, die durchweg nur eine zaghafte Kritik an der unerlaubten Generalisierung vorbrachten, nahm ein tausendköpfiges Publikum auf unverkennbare Weise Partei für den Mann, der die Väter und Großväter (und auch die Mütter und Großmütter) dieses Publikums für ein Volk von lustvollen Mördern erklärt hatte.
    Dies war ein einzigartiger Vorgang. Zwar waren seit der Zeit des Kyros immer wieder Ratschläge und Empfehlungen zu verzeichnen, wie man die Besiegten physisch weiterleben lassen, aber geistig vernichten könne, doch einen so von innen her erfolgreichen Versuch dieser Art hatte es in der ganzen Weltgeschichte bis dahin nicht gegeben.
    Im Jahre 1966 sahen die Dinge noch anders aus. Wenn irgendein einflußreicher Deutscher für sich in Anspruch nehmen konnte, eine kritische Überprüfung und insofern eine Schwächung des überlieferten deutschen Nationalbewußtseins für unumgänglich zu halten, dann war es Konrad Adenauer. Aber als er 1966 einen Besuch in Israel machte und an einem von dem Ministerpräsidenten Eschkol zu seinen Ehren gegebenen Empfang teilnahm, brachte Eschkol wie selbstverständlich und ohne feindselige Absicht ganz ähnliches zum Ausdruck, wie es der Denkmalplan in Berlin und das Buch von Daniel J. Goldhagen taten, denn er artikulierte am Ende die Überzeugung, daß das deutsche Volk unter Adenauers weiser Führung den Weg zurück in die Familie der Kulturnationen finden werde. Da erhob sich Adenauer und sagte: „Ich fliege gleich zurück, Sie haben das deutsche Volk beleidigt.“
    Adenauer war offenbar der Meinung, daß das deutsche Volk auch unter dem Nationalsozialismus und vermutlich sogar unter Einschluß zahlreicher Mitglieder der NSDAP eine „Kulturnation“ geblieben sei. Der erschrockene Eschkol entschuldigte sich förmlich und die Angelegenheit war bereinigt.
    Schwächung, kritische, ja schmerzliche Überprüfung des überlieferten Geschichtsbewußtseins, aber nicht dessen Vernichtung war nach Adenauers Meinung das zu erstrebende, der Sache adäquate Ziel.
    Vgl. Ernst Nolte „Historische Existenz“

  • […] bewältigt werden?  Und wenn ja, wie?  Auslöser meiner Frage war u.a. VirOblationis Essay “unbewältigte Vergangenheit”.  Also habe ich nach Antworten gesucht. Die eindeutigste  fand ich bei Peter Hofstätter , der […]

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