Inhaltsverzeichnis

Wurde Vergangenheit je bewältigt?

Kann sie überhaupt bewältigt werden?  Und wenn ja, wie?  Auslöser meiner Frage war u.a. VirOblationis Essay „unbewältigte Vergangenheit“.  Also habe ich nach Antworten gesucht. Die eindeutigste  fand ich bei Peter Hofstätter , der 1963 in  Bewältigte Vergangenheit?  zu dem Schluss kommt, eine Bewältigung der Vergangenheit sei aus drei Gründen unmöglich:

Erstens, weil die Vergangenheit der Gegenwart stets auf dem Fuß folgt – was wir heute tun, ist in ein paar Jahren bereits selbst Vergangenheit. Zweitens, weil die Vergangenheit nach rückwärts offen und daher nicht auszuloten ist und drittens, weil die Vergangenheit, die uns jetzt bewußt wird, nur eine Auswahl der tatsächlichen Ereignisse darstellt. Die Auswahl aber wird vom Jetzt bestimmt. Sie spiegelt die gegenwärtigen Wünsche und Ängste wider. Eine Selektion, die dem Zeitgeist und der Befindlichkeit der Gegenwart gehorcht.  Hofstätters Fazit:

….denn es gibt auf der ganzen Erde kein Volk, das seine Vergangenheit je bewältigt hätte. Man kann sich von ihr bloß sachte distanzieren bis zu jenem Punkt, wo die Affekte von damals den blutleeren Schatten ähnlich werden, mit denen Odysseus am Tor des Hades für kurze Zeit Zwiesprache hielt. Es erscheint mir unklug, wenn wir uns eine prinzipiell unlösbare Aufgabe stellen…

und  meint , man solle nicht Utopien nachjagen, man solle die Vergangenheitsbewältigung besser das nennen, was sie sei: Eine staatsbürgerliche Erziehung. Der BRD-Kundige weiß bereits an diesem Punkt, was  folgte. Das Fanal zur medialen Hexenjagd gab Kunstpädagoge und Publizist Arie Goral, die Presse folgte. Mohler schreibt  in Der Nasenring:  „Das war ein Signal, das die westdeutsche Professorenschaft verstanden hat. Seither hat sich kein Ordinarius mehr in der selben Offenheit kritisch mit der VB auseinandergesetzt“.

Der Aufsatz Hofstätters  erschien am 14.06.1963 in der Zeit : Bewältigte Vergangenheit? Rudolf Walter Leonhardt verteidigte Hofstätter und kritisierte  am 06.09.1963 – ebenfalle in der Zeit – Goral habe einer Hysterie Vorschub geleistet, die sich nicht mehr an Tatsachen orientiere  [Der Fall Hofstätter]. Allein die Zeitspanne, die zwischen der Veröffentlichung Hofstätters und der Replik Leohnhardts liegt, zeigt,  mit welcher Wucht die Skandalisierung betrieben worden sein muss.

Ich besitze nicht den Intellekt eines Hofstätter und Mohler , nicht die Sprachkraft der beiden. Mir fehlt auch das Gespür für diese frühe Nachkriegszeit, weil ich noch lange nicht geboren war. Aber eines weiß ich: Trauer, Scham, Liebe, auch Schuld, sind Gefühle. Gefühle kann man nicht herbeibefehlen. Nicht im Anderen und nicht in sich selbst. Trauer, Liebe, braucht ein Ich und ein Du; Schuld, Scham eine konkrete Tat. Jede Forderung, die das negiert, wird nicht nur scheitern – auf Dauer angelegt, wird sie unweigerlich Abwehr provozieren.

8 Kommentare zu „Wurde Vergangenheit je bewältigt?“

  • Freidenker:

    Immerhin wurde mitten in Berlin, gerade mal einen Steinwurf vom Reichstag entfernt, für zig Millionen ein Holodenkmal hingestellt, was in der Welt seinesgleichen sucht.
    Für mich sieht es eher aus wie die Konkursmasse einer Betonfirma, aber über Geschmack lässt sich ja bekanntlich nicht streiten.
    Trotzdem, für so etwas hätte sich nicht einmal der Oberantifaschist Honecker hergegeben, und dessen „Lampenladen“ war auch nicht gerade eine Perle der Architektur.
    Angenommen der Schickelgruber hätte so ein Ding zu Ehren der Kriegstoten mitten in Berlin platziert, wie würde heute wohl das Urteil der BRD-Historiker und Architekten darüber ausfallen ?

    Sogar in Washington gibt es ein Holo Memorial, ich bin durch Zufall darauf gestossen, als ich auf der vergeblichen Suche nach einer Gedenkstätte der Indianer und Sklaven war.
    Ein Schelm, wer Böses dabei denkt…

  • Wahr-Sager:

    In einer Folge der Reihe „Entweder Broder“ mit Henryk M. Broder hat dieser sich als wandelnde Holo-Stele verkleidet, um damit provozieren zu wollen. Er bezeichnete die alljährlichen Veranstaltungen am (hässlichen) HC-Mahnmal als Mainstream-Event. Nun, da Broder selbst Jude ist, erregte er damit nicht so viel Aufsehen.
    Und wer war zum 5. Jubiläum der Gedenkstätte zugegen? Unser tapferer Widerstandskämpfer Wolfgang Thierse!

  • virOblationis:

    Hofstätter überzeugt mich nicht. Zwar geht die Gegenwart natürlich stets aus der Vergangenheit hervor, doch die Vergangenheit besteht aus nahezu unendlich vielen Ereignissen, die die Gegenwart aber keineswegs alle in derselben Intensität bestimmen; manche „überleben“ nur als Fußnoten spezialisierter Untersuchungen, andere – und das dürften die allermeisten sein – werden vergessen, schon weil sie durchweg ganz alltäglich sind. Die Auswahl dessen, was unter den Ereignissen der Vergangenheit wichtig erscheint, wird auch nicht etwa allein von gegenwärtigen Affekten bestimmt, sondern mindestens ebenso von bewußten Zukunftsentwürfen – und dabei stellt sich eben die Frage, welche der Ereignisse und Konzepte der Vergangenheit prägend bleiben bzw. erneuert werden sollen.
    Ereignisse, die die Gegenwart – und damit die Zukunftsentwürfe – nicht mehr zu bestimmen vermögen, die, so meine ich, darf man als bewältigt bezeichnen. Dabei wird das Wort „bewältigt“ gewählt, wenn ein Zusammenhang mit Schuldfragen hergestellt wird, sonst würde man eher von abgegolten sprechen.
    [Eine zusätzliche Anmerkung: Hofstätters Pessimismus, der die Möglichkeit der Feststellung persönlicher Schuld betrifft und zu der damals (und wie erst heute!) skandalösen Forderung nach Verzicht auf Bestrafung von Kriegsverbrechern führte, vermag ich nicht nachzuvollziehen, denn sie stellt m.E. letztlich die gesamte Strafjustiz in Frage.]

  • virOblationis:

     
    Die von Judith im obigen Artikel angebundenen Quellen werfen an Hand eines Beispieles Licht auf die „wissenschaftliche“ Arbeitsweise des Hamburger Instituts für Sozialforschung:
     
    Goral warf Hofstätter offenbar vor, er habe – in der öffentlichen Diskussion am 19. Juli 1963 (nicht in seinem Essay in der „Zeit“) gesagt, Hitler habe den Juden gewissermaßen den Krieg erklärt, und die Verbrechen an ihnen seien deshalb als Kriegshandlungen entschuldbar.
     
    Leonhardt schreibt daraufhin am 6. September in der „Zeit“: „[Hofstätter] kann nicht gesagt haben, Hitler habe halt ‚eine quasi Kriegserklärung‘ (‚einen solchen Ausdruck brächte ich gar nicht über die Zunge‘, erklärte Hofstätter) an die Juden gerichtet, also sei der Mord als Kriegshandlung zu begreifen und [damit] zu entschuldigen.“
     
    Aus der unbewiesenene Behauptung wird in der Goral-Biographie des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung eine unkommentierte Tatsache, die auch noch verdreht wird. „1963: Der ‚Fall Hofstätter‘, Psychologieprofessor und Direktor des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg, entsteht durch die Anzeige Gorals wegen Verunglimpfung der Opfer des Nationalsozialismus, da Hofstätter sich gegen eine Verfolgung der während des Krieges vom NS-Regime befohlenen Massenmorde ausgesprochen hatte, weil diese ‚als Kriegshandlungen‘ anzusehen seien. Hofstätter – ehemaliger Heerespsychologe, wie Goral enthüllt – führt zur Begründung an, daß die Juden Hitler und seinem Regime ‚den Krieg erklärt‘ hätten.“
     

  • @Vir

    Aus deinem Post oben:

    Aus der unbewiesenene Behauptung wird in der Goral-Biographie des Archivs des Hamburger Instituts für Sozialforschung eine unkommentierte Tatsache, die auch noch verdreht wird

    Das überrascht mich weniger – es ist das, was ich aus den heutigen Gepflogenheiten kenne, siehe die Fälle Hohmann, Herman u.ä.

    Mich überraschte, dass 1961, also sehr viel früher, Journalisten wie Leonhardt im Fall Goral Paroli boten, weil das heute, ein halbes Jahrhundert später, in dieser Form undenkbar ist. Und diese Tatsache sagt mir mehr über Art und  Ziel der Vergangenheitsbewältigung aus, als die offiziellen, nebulösen Rhetorikschleifen es können.

  • Ich möchte noch ein Beispiel anführen, das verdeutlichen soll was ich meine – es ist eine Replik, die Rudolf Augstein als Reaktion auf Menachem Begins Ausfälle gegen den damals amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt und die Deutschen schrieb. Ein kleiner Auszug:

    Mitgemacht? Was hätte ein durch Überzeugung, Zufall oder Familie, was hätte ein Nicht-Nazi denn tun können? Er hätte als ein Held und Heiliger das tun können, was die Opfer selbst auch nicht getan haben, die Helden und Heiligen immer ausgenommen.

    Er hätte sich für seinen biblisch Nächsten opfern können, mit seinem Leben. Das haben die Deutschen, das haben die Juden nicht getan. Kein moralischer Unterschied also zwischen der schweigenden Mehrheit der Deutschen und der schweigenden Mehrheit der Juden.

    Kein Unterschied übrigens zwischen jenen palästinensischen Terroristen, die in München aktiv waren, und jenen Israel-Kombattanten, die 1946 das Hotel „King David“ in Jerusalem in die Luft gesprengt und 1948 den Uno-Vermittler Graf Folke Bernadotte erschossen haben. Frauen und Kinder wurden nicht geschont, als 1948 das Dorf Deir Jassin vernichtet wurde, ohne jeden Grund. War Begin da etwa abseits?

    So ist zwar nicht taktvoll, aber wahr, was „PPP“, jener der SPD nahestehende „Parlamentarisch-Politische Pressedienst“, jetzt schreibt: Begin sei „ein Politiker mit Bombenleger-Vergangenheit“, ein Politiker, der dem Verbrecher Somoza in Nicaragua bereitwillig Waffen geliefert habe. Irgendwo muß mit der doppelten Moral einmal Schluß sein.

    Der Artikel steht auf Spon noch Online zur freien Einsicht. Augstein: Keinen zweiten Holocaust, bitte. Das war 1981, also vor 30 Jahren – ebenfalls heute undenkbar.

  • virOblationis:

    Die Grenzlinie zwischen dem früher Möglichen und heute Unmöglichen wird wohl durch die Rede von Weizsäckers vom 8. Mai 1985 markiert; von ihr war ja schon des Öfteren die Rede, und in „unbewältigte Vergangenheit“ habe ich noch einmal zu einem Artikel von Thorsten Hinz darüber verwiesen.

  • Paul:

    Der Begin/Schmidt/Konflikt war im Vergleich zu dem, was 2006 herauskam, ein Sandkastenspiel.  Menachem Begin war Auftraggeber des Attentats auf Konrad Adenauer 1952.

    Menachem Begin, der spätere israelische Ministerpräsident war Auftraggeber, Organisator und Geldbeschaffer eines Anschlags auf Bundeskanzler Konrad Adenauer im Jahr 1952. Die Attentäter handelten im Auftrag prominenter Mitglieder von Begins Partei „Cheruth“, die aus dem „Irgun“ hervorgegangen war. Diese Erkenntnisse stammen aus dem Bericht des Attentäters Elieser Sudit. In stiller Verehrung nennt Sudit darin den Drahtzieher des Attentats: Menachem Begin.
    http://www.faz.net/s/RubFC06D389EE76479E9E76425072B196C3/Doc~E35BBCD5A37DA47809AD4F6A865C6332B~ATpl~Ecommon~Scontent.html

    Im Auftrag des Gewissens
    Am 27. März 1952 explodierte im Münchner Polizeipräsidium eine Paketbombe. Sie war an Bundeskanzler Adenauer adressiert. Die Ermittler kamen den Tätern schnell auf die Spur. Einer der fünf Israelis nannte später auch den Namen des Auftraggebers, Organisators und Geldbeschaffers: Menachem Begin.

    http://www.faz.net/s/RubBF7CD2794CEC4B87B47C719A68C59339/Doc~E7D3C7A84488B4C66AFBE321BD95611FB~ATpl~Ecommon~Scontent.html

    2006. Das nennt man dann wohl Vergangenheitsbewältigung der anderen Art.

Kommentieren