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Ist die Idee des Nationalstaats überholt?

Für die Ausgabe des Merkur Heft/2011/01 übersetzte Siegfried Kohlhammer einen Essay von Dr. Yoram Hazony, Gründer und Leiter des Jerusalemer Shalem Center. Der Essay Hazonys steht auch bei Klett-Cotta als PDF-Datei zur Verfügung . [1] Ist die Idee des Nationalstaats überholt? Israel aus europäischer Sicht.

Kernthema des Essay ist der europäische Paradigmenwechsel, lt. dem der souveräne Nationalstaat nicht länger Grundlage für das Wohl der Menschheit ist, sondern Quelle allen Übels. Diesen Paradigmenwechsel, seine Wurzeln und – vor allem – seine Auswirkungen auf andere, noch existierende, Nationalstaaten, entwickelt Hazony vor den Augen seiner Leser. Hazonys Fokus liegt dabei auf Israel, doch geht sein Essay weit darüber hinaus. Hier deshalb der Teil , der für die Deutschen besonders interessant ist.

Die Wurzeln dieses Paradigmenwechsel weisen zurück bis Kant, der die Institution des nationalen Staates einer immanenten Unmoral bezichtigte und in der Gründung eines Universalstaates den „einzig möglichen Richtspruch der Vernunft“ proklamierte. Ein Universalstaat, der „zuletzt alle Völker der Erde“ umfassen würde [Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf].

Erst mit Ende des Zweiten Weltkrieges wurde dieser Gedanke wirklich machtvoll. Zusammen mit der linken Deutung, nach der die beiden Weltkriege mehr oder weniger die hässliche logische Konsequenz des Nationalstaates seien, der sein schlimmstes Gesicht im Nationalsozialismus zeigte, flossen Kants Ideen nun in den Paradigmenwechsel ein – weg vom Nationalstaat hin zu supranationalen Konstrukten – und trieben ihn entscheidend voran. Dr. Hazony hält aber gerade die linke Argumentation, die auf Hitler rekurriert, für eine eklatante Geschichtsklitterung:

Im Zentrum der Idee des Nationalstaates steht die politische Selbstbestimmung der Völker. Der Nationalstaat ist eine Regierungsform, die ihre politischen Ambitionen auf die Herrschaft einer Nation beschränkt und die Schaffung der Freiheit für diese Nation. Der Nazistaat aber war das genaue Gegenteil davon: Hitler lehnte die Idee des Nationalstaates als einen Ausdruck westlicher Dekadenz ab. Seiner Ansicht nach sollte das politische Schicksal aller Nationen von dem neu entstehenden deutschen Reich entschieden werden: Hitler sah ja in seinem Dritten Reich eine verbesserte Version des von ihm so genannten Ersten Reiches, das nichts anderes war als das Heilige Römische Reich. Das Ziel der Nazis war also dem der westlichen Nationalstaaten diametral entgegengesetzt. Hitlers Traum bestand eben darin, sein Reich auf deren Untergang zu gründen.

Heißt: Die Nationalsozialisten wollten die Nationalstaaten beseitigen und träumten nicht weniger als Kant von einem Universalstaat – unter deutscher Herrschaft.

Europäische Eliten, und allen voran deutsche Linke, teilen Hazonys Sichtweise auf Hitlers Politik nicht und gründeten mit der Europäische Union und der stetigen Vorantreibung der europäischen Zentralisierung das sichtbare Zeichen des Paradigmenwechsels: Ein multinationales Imperium. Folgt man der Sichtweise Hazonys in Bezug auf die Hitlerischen Pläne, ähnelt eine von Deutschland dominierte EU, überspitzt formuliert, eher den Expansionsplänen der Nationalsozialisten – mit anderen Mitteln.

Doch zurück zu Hazonys Essay. Diese europäische postnationale Sicht fand nun überall in Europa aber auch darüber hinaus bis in die USA Anhänger, schreibt er, und sieht darin den Grund für die ständige Kritik gegen Staaten wie Israel, aber auch die USA und Serbien. Sie würden als europäische bzw. als Staaten mit europäischen Wurzeln wahrgenommen, die sich der endgültigen moralische Reife des neuen Paradigmas verweigerten und statt dessen weiter auf dem rückständigen Paradigma nationalstaatlicher Souveränität beharrten. Hazony:

Wenn Deutschland und Frankreich kein Existenzrecht als unabhängige Staaten haben, warum sollte dann Israel dieses Recht haben? Und wenn niemand bereit ist, auch nur eine Träne zu vergießen an dem Tag, an dem das Vereinigte Königreich und die Niederlande endgültig der Vergangenheit angehören, warum sollte irgendjemand sich im Fall Israels anders verhalten? Im Gegenteil – während die Juden und ihre Freunde weiterhin angsterfüllt von der »Vernichtung Israels« sprechen, flößt diese Formulierung den Vertretern der verschiedenen Richtungen des neuen Paradigmas keine Angst mehr ein, manche von ihnen gestatten sich bereits, öffentlich von den politischen Maßnahmen zu träumen, die dem jüdischen Staat das Ende seiner Existenz ermöglichen werden.

Doch wenn das Paradigma übernationaler, zentralistisch regierter Konstrukte als höchste Stufe menschlicher Vernunft so vehement vetreten und vorangetrieben wird, warum unterstützt dann die EU die Entstehung unabhängiger Nationalstaaten wie z.B. im Nahen Osten, aber auch in Europa, Afrika und Asien? Und wieso beurteilt die EU die Gewaltanwendung durch andere Nationalstaaten wie Nordkorea, den Iran, die Türkei und die arabischen Regime und viele andere Länder der Dritten Welt durch eine vergleichsweise milde Brille ?

Dr. Hazony sieht darin eine Form von Rassismus europäischer Eliten: Diese Staaten würden von ihnen als primitive Staaten angesehen, die der Unzivilisiertheit erst noch entkommen und echte Nationalstaaten unter der innerstaatlichen Herrschaft des Rechts und der Demokratie bilden müssten. Sobald sie diese Stufe erreicht hätten, begännen auch sie zu verstehen, wie erstrebenswert es sei, über ihre Nationalstaaten hinauszuwachsen und unter einer internationalen Regierung moralische Reife zu erlangen – sprich, jene turmhoch überlegene moralische Reife, die sich die Vertreter des neuen Paradigmas selbst konzedieren.

Daniel Pipes, Direktor des Middle East Forums, schreibt in seiner WELT Online Kolumne „Brennpunkt Nahost“, Hazonys Aufsatz biete keine politischen Antworten, skizziere aber drei anzugehende Bereiche: den Aufbau eines Bewusstseins für die Existenz des neuen Paradigmas; Anomalien zu finden, die sie entkräften; und die Wiederbelebung des alten Paradigmas, um es auf den neuesten Stand zu bringen.

3 Kommentare zu „Ist die Idee des Nationalstaats überholt?“

  • Hazonys Aufsatz biete keine politischen Antworten
     

    Überrascht mich das?
    denke nicht.
    Weishaupt, Karl Marx, Coudenhoven und nicht zu vergessen die Allweisen der Frankfurter Schule gaben so viel zu lesen und hoffen auf Jünger.
    Oh, wie leicht diese gefunden wurden, besonders dort wo die Musen tanzten und Intelligenz dominiert. Denkt man.
    Aber es war immer ein Todestanz; schaut euch die heutigen Zombies an!
    Mir fällt Jesaja ein wo es u.a. heißt, dass es Menschen nicht gegeben ist selbst ihre eigenen Schritte zu lenken (erfolgreich ohne in Unpässlichkeiten zu gelangen usw. (Anmerkung))
    Irgendwie finden sich gewisse „Berater“ und „Richtungsgeber“ wie z.B. die Specter Dame in Schweden, Euro Danny(Cohn-Bandit) und Genossen alt und neu, immer wieder nach dem Motto:
    Erst kreiere ein Problem , dann offeriere eine Lösung….
    Uebrigens sehr eifersüchtig, „homegrown“ eigenstaatliche Wege sind absolut NoNo. Sowas kann Kriege hervor rufen.
    Staatliches Verhalten oder Unterwanderung?

    Jegliche Äusserungen aus  bestimmten Lagern sind mir suspekt, period!
    Ich rate mal Juri Lena zu lesen.
     
     

  • Mcp:

    Die Nazis wieder als mal Referenz um das Gute vom Bösen zu scheiden. Es langweilt. Wirklich.

    Was haben den die Nazis mit der Idee des Nationalstaates oder eines Reiches zu tun? Sie haben beide benutzt, so wie sie die deutsche Sprache benutzten, nur beigetragen zur Entwicklung dieser Ideen haben sie nichts. Wo bitte ist denn die genuin nationalsozialistische Staats- respektive Reichsidee? Bitte mit Literaturangabe, aber bitte nicht Moeller van den Bruck.

    Dass die Nazis den Staat gehasst haben sollen, ist mir wirklich neu. Das schiere Gegenteil war der Fall. Was die Braunen kritisiert haben, war die angelsächsische Entartung der Staatsidee, die parlamentarische Demokratie, die sie auch als Plutokratie bezeichneten.

    Aber selbst diese Kritik ist nicht auf ihren Mist gewachsen sondern war ein Konglomerat aus linken und konservativen Standpunkten zur staatlichen Wirklichkeit in der Weimarer Republik.

    Wer also die Nazis zum Maßstab für die Beurteilung von Ideen nimmt, der kann aus prinzipellen Gründen gar nicht zu objektiven Urteilen gelangen. Weder zum Staat, noch zum Reich.

    In der Abwägung von Staats- und Reichsidee gibt es nämlich durchaus gewichtige Gründe die für ein Reich und eben nicht für zentralistischen Nationalstaat französischer Prägung sprechen, der vermittelt durch eine Verfassung seinen omnipotenten Herrschaftsanspruch über „seine“ Bürger auslebt und in dem das alle Unterschiede platt walzende Gleichheitsedikt in der Endkonsequenz auch jede politische Freiheit erstickt, weil es alternative Lebensweisen nicht wirklich duldet. Gerade hier hat Europa mit dem Aufkommen der Staatsidee am Ausgang des Mittelalters eine ganz unheilige Tradition, die bis in die Jetztzeit hineinreicht.

    Ein Reich ist von Anfang an so angelegt, das unter seinem Dach viele Völker und Traditionen eine territoriale Heimstatt finden und in dem der politische Anspruch des Imperiums lediglich auf den Interessenausgleich ansonsten autonomer, gar autarker Regionen ruht.

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