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Der rasch Vergessene

Heinrich Böll wurde während des 1. Weltkrieges (1914 – 1918) in Köln geboren. Der verwitwete Vater hatte seine Hauswirtschafterin geheiratet, und so kam Heinrich als ihr sechstes Kind zur Welt, hatte aber noch zwei ältere Halbbschwestern. Vorfahren des Vaters stammten aus England, das sie als Schiffszimmerleute verlassen hatten, um trotz der vom Thron angeordneten Reformation des 16. Jahrhunderts dem katholischen Glauben treu zu bleiben. Heinrich Bölls Mutter entstammte der niederrheinischen Landbevölkerung.

Der Vater brachte es als Schreinermeister und Holzbildhauer zu ansehnlichem Wohlstand, so daß ihm nach dem Weltkriege mehrere Mietshäuser in Köln gehörten, bis die Weltwirtschaftskrise 1929 ausbrach, während der auch er seinen auf die Anfertigung von Kircheninventar spezialisierten Handwerksbetrieb sowie seinen Grundbesitz verlor.

Heinrich Böll besuchte zuerst eine katholische Volksschule, dann das humanistische Kaiser-Wilhelm-Gymnasium. Der Vater war sehr fromm, wohnte täglich der hl. Messe bei, und dennoch duldete er es, daß sein Sohn Heinrich als Gymnasiat sich empört über die kirchliche Sakramentenlehre äußerte; vielleicht hatte die Mutter protestantisches Gedankengut in die Familie eingebracht, denn ihr Sohn beschrieb sie als geistig bewegliche und kritisch eingestellte Person. So meinte man in der Familie Böll anscheinend, zugleich fromm-katholisch und ablehnend gegenüber der Kirche als Institution sein zu können.

Heinrich Böll erreichte das Abitur (1937), nachdem er eine Klasse wiederholt hatte; seine Beurteilung im Deutschen war lediglich genügend. Gleichwohl fühlte er sich zum Schriftsteller berufen, las viel und begann auch, selbst zu schreiben. Er trat eine Lehre als Buchhändler an, brach die Ausbildung jedoch bald wieder ab. Dann wurde Heinrich Böll für ein halbes Jahr zum Reichsarbeitsdienst eingezogen (1938 – 1939) und begann anschließend Germanistik sowie Klassische Philologie in Köln zu studieren.

Kurz vor Beginn des 2. Weltkrieges (1939 – 1945) wurde Heinrich Böll zur Wehrmacht eingezogen. Er diente als Infanterist an verschiedenen Fronten, wurde mehrfach verwundet, begann aber auch, Krankheiten zu simulieren. – 1942 heiratete Heinrich Böll seine langjährige Freundin, die aus Pilsen stammende Annemarie Cech1, die in Köln aufgewachsen war, da ihre Mutter aus dem Rheinland stammte. Aus der Ehe gingen vier Söhne hervor, von denen nur zwei die Eltern überlebten.

Bei Kriegsende geriet Heinrich Böll in us-amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach der bald darauf erfolgten Entlassung immatrikulierte er sich erneut, ohne allerdings ernsthaft zu studieren, und begann wieder zu schreiben, während seine Ehefrau als Lehrerin tätig war; seit 1950 lebte Böll als freier Schriftsteller. Nach der Veröffentlichung von kurzen Erzählungen erschien 1949 ein erstes Buch Bölls, und 1951 folgte eine Einladung zur Tagung der „Gruppe 47“ in Bad Dürkheim, wo er sogleich mit dem Preis der „Gruppe“ ausgezeichnet wurde. Viele weitere Ehrungen folgten, bis er 1972 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Böll stieg auf zum Präsidenten des internationalen PEN-Clubs (1971 – 1974; Poets, Essayists, Novelists).

Böll schloß sich der politischen Linken an. Er setzte sich in den sechziger Jahren für die Anliegen der vor allem von Studenten des SDS2 getragenen ApO3 ein, sprach auf einer Bonner Großdemonstration gegen die Notstandsgesetzte (1968) und unterstützte die SPD bei der Bundestagswahlen 1969 sowie 1972.

Nachdem Willy Brandt als Kanzler zurückgetreten war (1974), wandelte sich Bölls politisches Engagement. Vom Sozialismus wechselte er zu einer Spielart des Liberalismus. Böll unterstützte nun Ostblock-Dissidenten, als ersten den russischen Schriftsteller Alexander Solschenizyn4, der 1974 aus der UdSSR ausgewiesen wurde: Solschenizyn war 1945 wegen kritischer Äußerungen über Stalin (geb. 1878, gest. 1953) zu acht Jahren Haft mit anschließender Verbannung verurteilt worden und veröffentlichte während der Tauwetterperiode (1955/1956 – 1958/1964) die Erzählung „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch (1962)“, in der er das sowjetische Lagersystem beschrieb; es folgte der Roman „Archipel Gulag5 (1973)“ mit derselben Thematik, der ohne Genehmigung in Paris erschien. – Bölls Bücher wurden in der UdSSR viel gelesen. Während einer seiner Reisen in die Sowjetunion lernte der deutsche Schriststeller Alexander Solschenizyn kennen, wodurch sich seine bis dahin recht positive Haltung gegenüber dem kommunistischen Staat wandelte. Böll freundete sich mit Solschenizyn an und schmuggelte dessen Manuskripte in den Westen. 1974 nahm er den Ausgewiesenen bei sich auf. In derselben Weise bemühte sich Böll 1981 um den Schriftsteller Lew Kopelew (geb. 1912, gest. 1997), der als Germanist zusammen mit seiner Ehefrau eine Reise nach Deutschland unternommen hatte und nicht in die UdSSR zurückkehren durfte.

Böll wandte sich der 1980 gegründeten Partei der Grünen zu und unterstützte die teils pazifistisch, teils sozialistisch ausgerichtete Friedensbewegung der achtziger Jahre; 1981 sprach er auf der Bonner Großdemonstartion gegen den NATO-Doppelbeschluß von 1979, der dem Ostblock Verhandlungen über dessen neustationierte Atomwaffen mittlerer Reichweite anbot und dies mit einer Option auf eigene Nachrüstung für den Fall des Scheiterns verknüpfte.

Zwei besondere Auszeichnungen wurden Heinrich Böll im Jahre 1982 noch zu Teil: Der SPD-Ministerpräsident des Landes Nordrhein-Westfalen, Johannes Rau (1978 – 1998), der spätere Bundespräsident (1999 – 2004), ernannte den Schriftsteller zum Professor, und Bölls Heimatstadt Köln zeichnete ihn mit der Ehrenbürgerwürde aus.

Böll, lange Zeit ein unmäßiger Raucher, erkrankte bereits 1967 schwer. Im Sommer 1985 wurde er nach einer Operation aus dem Krankenhaus entlassen und verstarb am folgenden Tag. An der Beisetzung nahm auch der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1984 – 1994) teil. – Nach seinem Tode wurde Böll rasch vergessen. Marcel Reich-Ranicki6, inzwischen vom Kritiker der „Gruppe 47“ zum deutschen Literaturpapst aufgestiegen, konstatierte 2010: „Er (sc. Böll) war kein Sprachkünstler, und viele seiner Geschichten und Figuren wirken sehr künstlich und mühsam konstruiert. Aber er hatte eine Nase für [aktuelle] Themen… Aber nun sind andere Themen aktuell…“7 M.a.W.: Der einst so Hochgelobte schuf weniger Werke der Literatur als politische Pamphlete von begrenzter Haltbarkeit. Dennoch trug er in seiner Zeit viel zu der verhängnisvollen geistigen Entwicklung in Deutschland bei, und seine Gedanken mögen vielleicht hier und da fortwirken, ohne daß man sich ihrer Herkunft noch bewußt ist.

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In seinen frühen Werken thematisierte Böll die unmittelbare Nachkriegszeit; man sprach von „Trümmerliteratur“. In „Haus ohne Hüter (1954)“8 werden zwei Kriegerwitwen einander gegenübergestellt, die in einer am Rhein gelegenen Stadt leben. Jede der beiden ist Mutter eines zwölfjährigen Sohnes, der seinen Vater nicht kennengelernt hat. Die Söhne besuchen dieselbe Schule. Beide Kriegerwitwen bleiben unverheiratet, doch die eine lebt im Wohlstand und die andere in Armut. Beide vernachlässigen sich, die eine ihr Haus, die andere ihre Zähne, und beide haben Verehrer, die sie nicht heiraten, die Reiche einen einzigen, die Arme mehrere nacheinander. – Eine solche Gegenüberstellung zweier Schicksale wirkt schon recht holzschnittartig.

Witwe Bach ist die Reiche, Witwe Brielach die Arme. Witwe Bach will ihr Leben allein führen und lehnt den Heiratsantrag des Witzzeichners Albert Muchow, eines Freund ihres verstorbenen Ehemannes, der wie einige weitere Personen in ihrem Hause lebt, ab; sie würde ihn nur als Geliebten akzeptieren, was er aber wiederum zurückweist. Witwe Brielach lebt mit verschiedenen Verehrern nacheinander zusammen; dabei handelt es sich um damals „Onkelehe“ genannte Verbindungen, in denen eine Eheschließung vermieden wurde, weil sie die Ansprüche aus der Hinterbliebenenrente zu Nichte gemacht hätte. So muß sich der zwölfjährige Heinrich Brielach mit „Onkeln“ an Stelle eines Vaters auseinanderzusetzen. Sein Freund Martin Bach nennt den Witzzeichner und Verehrer seiner Mutter in einem reinerem Sinne „Onkel Albert“ und ist mit ihm überaus vertraut. Die Lebensweise seiner verwitweten Mutter, zu der Albert Muchows sittliche Haltung entscheidend beiträgt, erscheint konsequent, geradezu vorbildlich; damit mögen sich konservative Leser beruhigt haben. Doch die dem gegenübergestellten „Onkelehen“ der Witwe Brielach werfen die Frage auf, ob man der katholischen Morallehre nicht nur dann zu genügen vermag, wenn man über ausreichenden Wohlstand verfügt: Wer arm ist, sieht sich anscheinend genötigt, andere Wege zu gehen.

Über die Thematisierung der unmittelbaren Nachkriegszeit hinaus weist Bölls Roman „Billard um halb zehn (1959)“.9 Er demonstriert am Beispiel einer Kölner Architektenfamilie, daß die Nachgeborenen nun herangewachsen sind. Die Generation ihrer Großeltern wird repräsentiert durch Heinrich Fähmel, der im September 1958 seinen achtzigsten Geburtstag begeht. Schon als Neunundzwanzigjähriger hatte er den Auftrag zur Errichtung einer Abtei erhalten, die das wichtigste Werk seines Berufslebens werden sollte; er erinnert sich daran, wenn er jeden Morgen in einem bestimmten Café frühstückt. Sein Sohn Robert, Inhaber eines Bureaus für Baustatistik, der stets vormittags von halb zehn bis elf Uhr Billard in einem Hotel zu spielen pflegt, mußte das Gebäude am Ende des 2. Weltkrieges (1939 – 1945) als Sprengmeister für die Wehrmacht zerstören. Der suizidgefärdete Enkel Joseph wiederum, ein angehender Architekt, der mit seinem Auto umherrast, soll am Wiederaufbau der Abtei St. Anton beteiligt werden; wie seine Schwester Ruth trägt er übrigens einen unter Juden verbreiteten Namen. – Angemerkt sei, daß eine Abtei als Gebäude, das auch als Sinnbild Deutschlands und seiner Geschichte im 20. Jahrhundert verstanden werden muß, schon bald nach Erscheinen dieses Romans nicht mehr denkbar gewesen wäre.

Die Gesellschaft in „Billard um halb zehn“ ist geteilt. Einerseits gibt es die selbständig Denkenden und Hilfsbereiten, die friedlichen Lämmer wie Robert Fähmels Freund Schrella, andererseits die selbstsüchtigen Opportunisten und Mächtigen, die gewaltliebenden Büffel. Diese sind sich trotz ihrer Verantwortlichkeit für die NS-Zeit keiner Schuld bewußt. – Es fehlt Böll nur noch ein Schritt, nämlich daß die Lämmer sich der Schuld sämtlicher Deutschen, die während des Krieges erwachsen waren, bewußt werden, d.h. der eigenen wie der der Büffel; dann wäre das Konstrukt „Tätergeneration“ perfekt. Doch dies wird verhindert durch die Zweiteilung in linke, liebe Lämmer und rechte, böse Büffel (samt Nazis), die Böll 1975 in einem Interview erläuterte, denn sie widerspricht der Unterstellung einer allen gemeinsamen Schuld. Es handelt sich bei Bölls Lämmern und Büffeln in „Billard um halb zehn“ um eine für die fünfziger Jahre charakteristische Kompromißlösung, die die Erfahrungen der Kriegsgeneration noch nicht auszublenden vermag und darum Schuld nur einer Gruppe, aber nicht pauschal allen zuweist.

Wie in „Haus ohne Hüter“ wendet man sich auch in „Billard um halb zehn“ rachedurstig gegen einen der Schuldigen unter den Angehörigen der Kriegsgeneration. In dem älteren Werk, „Haus ohne Hüter“, ist es die Großmutter, die den Tod ihres Sohnes nicht verschmerzt und ihre Familie zur Rache an dem in ihren Augen schuldigen Leutnant Gäseler aufstachelt, weil Gäseler ihren Sohn mit einem sinnlosen Auftrag an der Ostfront ausgesandt hat, von dem er nicht zurückgekehrt ist; die eigene Familie aber entspricht den großmütterlichen Rachegelüsten nicht. Nebenbei zeigt sich auch, daß Gäseler sich gar keiner Schuld bewußt ist. In dem jüngeren Werk, „Billard um halb zehn“, ist es wiederum eine Großmutter, die Rache will. Die Ehefrau Heinrich Fähmels kann es nicht verwinden, daß ihr Sohn Robert als politischer Gegner des NS-Regimes zeitweise nach Holland fliehen mußte. Die seit 1940 in einer Heilanstalt lebende Großmutter, die darauf bestanden hatte, mit den Juden am Güterbahnhof fortgebracht zu werden, bricht am achtzigsten Geburtstag ihres Ehemannes aus und schießt auf den Mann, der schuld war an der politischen Verfolgung ihres Sohnes, freilich ohne ihn tödlich zu verletzen.

Man erkennt Bölls beginnende Distanzierung von der schuldigen Tätergeneration, die aber, da die Nachgeborenen noch zu jung sind, mit Hilfe der Großelterngeneration hergestellt werden muß. „… die Summe des Leidens war zu groß für die wenigen, die eindeutig als schuldig zu erkennen waren; es blieb ein Rest, der bis heute nicht verteilt ist.“10 Dieser Rest wird schließlich eben denjenigen aufgeladen, die nicht „eindeutig als schuldig zu erkennen waren“; so ersteht eine schuldige Tätergeneration, der Böll selbst zu entkommen sucht, indem er sich an die Seite der Nachgeborenen stellt. Diese beginnen in den sechziger Jahren, die vermeintliche Tätergeneration anzugreifen, um sich als Unschuldige von ihr abzusetzen, was aber endlich fehlschlägt, da ab 1979 der Kollektivschuldvorwurf das gesamte Volk erfaßt, das deutsche Tätervolk mit seiner tausendjährigen Geschichte, die im Nationalsozialismus ihren endgültigen Ausdruck gefunden haben soll.

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Hans Schnier, der Ich-Erzähler des der Ehefrau Bölls gewidmeten Romans „Ansichten eines Clowns (1963)“11, ist ein Repräsentant der Generation der Nachgeborenen. Er ist noch keine dreißig Jahre alt.12 Der Roman spielt im März 1963 und erschien zwei Monate darauf.13 Schauplatz des Erzählten ist Bonn. Dort besitzt Hans Schnier eine Wohnung in einem mehrstöckigen Haus, die ihm sein Großvater geschenkt hat; doch statt dankbar zu sein, mokiert sich der Ich-Erzähler nur über den Wohlstand seiner Familie und beklagt, daß er die Wohnung nicht verkaufen dürfe.14

Hans Schnier (bzw. der sich um zwanzig Jahre verjüngende Böll) greift als einer der Nachgeborenen die Tätergeneration an: „Ich fürchte mich davor, von halbbetrunkenen Deutschen einer bestimmten Altersklasse angesprochen zu werden, sie reden immer vom Krieg, finden, daß es herrlich war, und wenn sie ganz betrunken sind, stellt sich heraus, daß sie Mörder sind und alles ‚halb so schlimm‘ finden.“15 Allerdings erkennt Schnier Ausnahmen an, Nazigegner wie den Ladeninhaber Martin Derkum, der in der Gefahr schwebte, wegen seiner Widersetzlichkeit in ein KZ eingewiesen zu werden.

Hans Schnier hat die Schule nach der Untersecunda, also nach der zehnten Klasse, verlassen. Ohne jegliche Ausbildung will er Clown werden, was ihm tatsächlich auch gelingt. Er führt den Zuschauern Szenen vor, die ihr gesellschaftliches Leben so darstellen, daß ihnen die Augen geöffnet werden. Dies zeigt sich besonders deutlich bei einem Aufenthalt in der DDR, wo Nummern wie „Der Parteitag wählt sein Präsidium“ von Kulturbeauftragten entrüstet abgelehnt werden. – Demnach scheint der Buchtitel „Ansichten eines Clowns“ auf den Anspruch des Autors hinzuweisen, die Leser zu tieferer Einsicht über sich selbst und ihr gesellschaftliches Leben zu führen.

Hans Schnier entstammt einem protestantischen Elternhaus, doch wegen einer modisch überkonfessionellen Einstellung der Eltern während der frühen Nachkriegzeit hat er ein katholisches Internat besucht. In der Zeit zwischen der Entlassung aus der Schule und dem Beginn seiner Laufbahn als Clown arbeitet Hans Schnier im Laden Martin Derkums. Dessen Tochter Marie ist zwar zwei Jahre jünger als Hans Schnier, der die Obersecunda nicht erreicht hat, dennoch steht Marie bereits kurz vor dem Abitur; Hans müßte also etwa vier Klassen wiederholt haben. Jedenfalls verführt er Marie, woraufhin sie die Schule abbricht und sich auf eine nicht-eheliche Verbindung mit dem Ich-Erzähler einläßt, der danach eine erfolgreiche Karriere als Clown beginnt.

Ab etwa 1959 jedoch wendet sich Marie, die mehrere Fehlgeburten erleidet und wohl auch eine Abtreibung vornehmen läßt, immer intensiver religiösen Fragen zu, obwohl sie von Hause nur nominell katholisch ist. Sie fordert von Hans Schnier den Gang zum Standesamt sowie die Zusicherung, daß ihre künftigen Kinder katholisch erzogen werden. Schnier weigert sich zuerst, stimmt dann aber widerwillig zu. Dennoch entfernt sich Marie zunehmend von ihm und verläßt ihn während des Katholikentages in Hannover, also im August 1962. Sie will ein religiös bzw. kirchlich geordnetes Leben führen und heiratet den engagierten Katholiken Heribert Züpfner, mit dem sie schon während ihrer Schulzeit ein wenig befreundet war.

Hans Schnier beginnt daraufhin zu trinken, weshalb er ab März 1963 keine Engagements mehr bekommt. Sein Agent stellt ihm lediglich in Aussicht, nach sechs Monaten Pause zur Bühne zurückzukehren, wenn er vom Alkohol abläßt. Hans Schnier aber meint, er sei gezwungen weiter zu trinken, da Marie Derkum ihn verlassen hat. Dadurch nämlich sei sein sexuelles Verlangen unbefriedigt, und nur Marie, keine andere Frau vermöge dieses Verlangen zu stillen; und ausschließlich weil Marie dies könne, verlange er nach ihr. Weil aber dieses Verlangen ungestillt bleibt, habe er zu trinken.

Schnier argumentiert mit der [menschlichen] Natur, die sein Verhalten legitimiere.16 Marie aber habe ihn verlassen, nachdem sie sich – so muß man ergänzen: von der Natur ab- und – der Religion zugewandt habe. Eben daran gibt Hans Schnier dem Prälaten Sommerwild die Schuld und hegt Mordgedanken. Schnier argumentiert damit, daß Marie eigentlich lieber bei ihm wäre und sich nur wegen der – seines Erachtens offenbar naturwidrigen – katholischen Religion von ihm abgewandt habe. Ob dies tatsächlich der Fall ist, bleibt fraglich. Marie jedenfalls folgt nicht dem, was Hans Schnier als Natur anpreist, und darum steht er allein dar mit seinen Forderungen.

Weil er also das Trinken nicht aufgeben und kein Geld mehr verdienen könne, möchte Hans Schnier, Eltern und Bruder anpumpen. Sein Vater sucht ihn auf und bietet ihm tatsächlich finanzielle Unterstützung an, verlangt aber, daß sein Sohn den Willen aufbringe, zur Bühne zurückkehren. Doch der besteht auf Versorgung „ohne die blöden Bedingungen“17. Nachdem der Vater ihn wieder verlassen hat, ruft Hans Schnier dessen Geliebte an. Nun soll sie den Vater wegen des Geldes angehen. Sie sagt: „Ich weiß nicht, ob es gelingen wird, die Sache so auszumalen, daß es ihn überzeugt. Ich habe nicht so viel Phantasie.“ Daraufhin denkt Hans Schnier: „Das hätte sie nicht zu sagen brauchen, ich fing [ohnehin] schon an, sie für das dümmste Weibsstück zu halten, mit dem ich es je zu tun gehabt hatte.“18 – Hans Schniers Bruder ist Konvertit; als Seminarist bereitet er sich nun auf die Priesterweihe vor. Er verfügt kaum über Geld, bringt aber eine kleine Summe zusammen, mit der er Hans am nächsten Morgen aufsuchen will, denn er hat am Abend keinen Ausgang mehr. Doch weil der Bruder nicht sofort erscheint, verzichtet Hans Schnier gänzlich auf dessen Besuch.19

Weil in der Familie kein Geld zu schnorren ist, will Hans Schnier sich von der Öffentlichkeit versorgen lassen. Obwohl er sich bewußt ist, daß ihn dies beruflich ruinieren wird, singt er in der Öffentlichkeit zur Guitarre und bettelt dabei auf der Treppe des Bonner Bahnhofs sitzend die Fahrgäste an. Mit dem ersten Groschen, der in seinen Hut fällt, endet der Roman.

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Ein Motiv aus den „Ansichten eines Clowns“ kehrt in veränderter Form wieder in der neun Jahre später erschienenen Erzählung „Die verlorene Ehre der Katharina Blum oder Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann (1974)“.20 Schnier, der Clown, zerfließt nicht nur in Selbstmitleid, sondern er gefällt sich auch in anmaßender Selbstgerechtigkeit. Das eigene Fehlverhalten nicht erkennend, gibt er einem anderen die Schuld an seinem elenden Zustand, um schließlich Mordgedankene gegen ihn zu hegen. Würde er dem, was er denkt, konsequent im Handeln folgen, hätte er sich also nicht nur ins gesellschaftliche Abseits zu begeben, sondern er müßte auch morden. Doch würde der Leser dies gutheißen? Kaum, denn Prälat Sommerwild ist immerhin noch eine mehr oder weniger sympathische Gestalt. „Um die Ermordung dessen, dem der Protagonist die Schuld an seinem Elend zuschreibt, gerechtfertigt erscheinen zu lassen, muß der zu Tötende uneingeschränkt negativ dargestellt werden“, mag Böll gedacht haben und erschuf den Erzschurken Tötges, einen ganz und gar skrupellosen Journalisten. Zugleich stellt Böll damit einen Bezug zur Zeit der Entstehung seiner Erzählung her, denn Tötges arbeitet u.a. für das Boulevardblatt „Zeitung“, und eben dieses, so verkündet Böll noch vor dem ersten Kapitel pathetisch, weise „Ähnlichkeiten [mit der „Bild“-Zeitung auf, die] weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unvermeidlich“ seien. Die „Bild“-Zeitung galt zu jener Zeit als schlimmstes Blatt der Springerpresse, und – der viel mehr liberale als echt konservative – Axel Springer21 wiederum war einer der von den Achtundsechzigern bzw. der Linken allgemein am heftigsten bekämpften Personen.

Böll wirbt also mit „Katharina Blum“ um die Sympathien der Linken, nicht etwa nur der sozialdemokratisch gemäßigten: 1972 verübte die sog. RAF22, die oft als „anarchistisch“ bezeichnete Baader-Meinhof-Bande, ein Bombenattentat auf das Hamburger Springer-Hochhaus, bei dem 17 Mitarbeiter verletzt wurden. Mittels eingestreuter Vokabeln wie „Anarchistencode“23 wird eine gedankliche Verbindung von „Katharina Blum“ zu der damals aktiven linken Terrorszene hergestellt. Die Protagonistin wird „irrigerweise [für] eine Marxistin“24 gehalten, und das Ehepaar, für das sie arbeitet, besteht aus der „rote[n] Trude“25 und dem „rote[n] Anwalt“26 Blorna.

Schon vor „Katharina Blum“ galt Böll weithin als Sympathisant der Terroristen, so daß 1972 im Zuge einer Fahndung eine Haussuchung bei ihm durchgeführt wurde. – Die linke Terrorszene stellte die radikalste Form der Nachgeborenen-Ideologie dar, die in den Eltern die schuldige Tätergeneration zu bekämpfen meinte; so schrieb Ulrike Meinhof27 bereits 1961 Unter dem Titel „Hitler in euch“: „[Es] hat sich erwiesen, daß im Deutschland von 1961 nicht ungeachtet…von Auschwitz und Buchenwald gelebt werden kann. … Wie wir unsere Eltern nach Hitler fragen, so werden wir eines Tages nach [dem CSU-Politiker] Herrn Strauß28 gefragt werden.“29

Katharina Blum, die Protagonistin der Erzählung, wird einerseits als ein sparsames Hausmütterchen dargestellt, dem das Wunder gelingt, bei einem Bruttoeinkommen von etwa DM 2.000 im Monat30 nicht nur innerhalb von vier Jahren über DM 53.000 für eine Eigentumswohnung abzubezahlen, sondern auch noch mit monatlich DM 150 die Mutter zu unterstützen, dem kleinkriminellen Bruder das Taschengeld aufzubessern und ein Kraftfahrzeug zu unterhalten. Sie gönnt sich kaum einmal ein kleines Vergnügen und trägt darum bei ihren Bekannten den Spitznamen „Nonne“. Andererseits soll sie eine derart selbstbewußte Frau sein, daß sie nicht einmal aus ihrer geradezu übermenschlichen Ruhe gebracht wird, wenn sie morgens im Bademantel eine Scheibe Weißbrot mit Honig verzehrt, während acht schwerbewaffnete Polizisten plötzlich ihre Wohnung stürmen.

Einerseits ist Katharina Blum eine „fast genial planende Person“31 und andererseits so naiv, daß sie nicht begreift, wieso jemand etwas dagegen haben könnte, wenn sie dem Schwerverbrecher Ludwig Götten zur Flucht und zu einem Versteck verhilft, da sie ihn doch lieb hat: Mit vor Sentimentalität triefenden Wendungen spricht Katharina Blum von „ihr[em]…Ludwig“32, ja geradezu messianisch verklärt sieht sie seine Person: „Mein Gott, er war es eben, der da kommen soll…“33 Spielt es da noch irgendeine Rolle, daß der Geliebte nebenbei auch ein gesuchter Krimineller ist? Warum daran auch nur einen Gedanken verschwenden, da er doch zu ihr „so lieb gewesen“34 ist. Auch der nach einer Schießerei mit der Polizei festgenommene Götten behauptet treuherzig, „daß Katharina überhaupt nichts mit der Sache zu tun hat; es sei eine rein private Liebesaffäre…“35

Katharina Blum wird festgenommen, da die Polizei sie als Komplizin Göttens verdächtigt. Dadurch gerät sie in die Schlagzeilen des vor Rufmord nicht zurückschreckenden Boulevardblattes „Zeitung“. Gleichzeitig stirbt auch noch ihre zum Alkoholismus neigende Mutter, die nach einer Operation von dem Journalisten Tötges wegen eines Interviews aufgesucht worden sein soll. – Ihm lastet Katharina Blum die Schuld für das an, was sie erleben muß, und sie beschließt, ihn umzubringen.

Für Tötges, der bei einem unsittlichen Annäherungsversuch von Katharina Blum erschossen wird, braucht kein Leser Mitleid zu empfinden. Man darf ihm neiderfüllt sein Schicksal sogar ein wenig gönnen, da er mit seinem schuftigen Journalismus doch so reich geworden ist, daß er sich einen Porsche leisten kann; zwar fährt auch der kriminelle Götten einen Porsche, doch der von dieser Nachricht vielleicht aufgeschreckte Leser erfährt zu seiner Beruhigung, daß das Fahrzeug Götten gar nicht gehört, sondern nur gestohlen ist.

Mitgefühl für den erschossenen Tötges stellt sich nicht ein, weil er von Böll überhaupt keine menschlichen Züge zugeteilt bekommen hat. Man erfährt lediglich, daß Tötges mit Vornamen Werner heißt und „hübsch“36 ist. Tötges stirbt also nur scheinbar, denn bei ihm handelt es sich gar nicht um einen Menschen, sondern um ein Böll‘sches Hirngespinst, das Verleumdungen in so platter Manier für sein Boulevardblatt „Zeitung“ zusammenschreibt, wie es nur in der wenig realitätsnahen Vorstellungswelt des Autors möglich erscheint.

Die vorgespielte Naivität, die Protagonistin mit mehrfach gespaltener Persönlichkeit, die furchtbar platte Darstellung der Boulevardpresse – all dies macht „Katharina Blum“ zu einem literarischen Folterwerkzeug. Jahrzehntelang wird es eingesetzt, vornehmlich im Unterricht an Schülern, die sich ihm ja kaum zu entziehen vermögen.

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Wohl das Hauptwerk Bölls bildet der Roman „Gruppenbild mit Dame (1971)“;37 mit Blick vor allem auf dieses Buch erhielt er 1972 der Literaturnobelpreis. Der tiefgründig klingende Titel stammt allerdings nicht von Böll, sondern von dem ebenfalls der „Gruppe 47“ angehörenden Schriftsteller Dieter Wellershoff38, der als Lektor des Romans fungierte: Wenn sich sein Titel auf die Protagonistin Leni Pfeiffer bezieht, wie zu vermuten ist, dann ist er mißlungen, denn die Bezeichnung „Dame“ wird im Buch ausdrücklich als für sie nicht passend erfunden, da eine gewisse Liane Hölthohne sagt: „… als erste hatte ich den Spitznamen die ‚Dame‘ weg, dann, als Leni bei uns [in der Kranzbinderei] anfing, hießen wir ‚die beiden Damen‘, aber es dauerte kein halbes Jahr, dann hatte man ihr die ‚Dame‘ wieder weggenommen, und es war wieder nur eine ‚Dame‘ da, ich.“39

Böll sucht in „Gruppenbild mit Dame“ – ähnlich wie in „Katharina Blum“ – die Position eines Erzählers einzunehmen, der sich selbst als „Verf.“ bezeichnet und wiedergibt, was „Auskunftspersonen“ ihm in bezug auf die Protagonistin mitgeteilt haben. Dabei wirkt es peinlich, daß die durch diese Form bedingte Distanz zur Protagonistin schon im ersten Kapitel unter Einsatz eines literarischen Holzhammers zu Nichte gemacht wird, um dem Leser klarzumachen, welche Sichtweise er einzunehmen hat: Halte es nur ja nicht mit der faschistoiden Mehrheit der Gesellschaft! – Schließlich durchbricht Böll am Ende des Buches auch die zuvor gewählte Form vollends, indem der Verf. in direkten Kontakt mit seiner Protagonistin Leni Pfeiffer tritt.40

Die Erzählung spielt 1970 in Köln; die Stadt wird zwar nicht genannt, ist aber ohne weiteres zu identifizieren. Im Mittelpunkt steht die 1922 geborene Helene Maria Pfeiffer, geb. Gruyten. Deren Vater war Maurer und bildete sich fort zum Bauingenieur und gründete eine eigene Baufirma. In dessen Bureau arbeitete die intellektuell nicht nennenswert begabte Tochter Leni fünf Jahre lang, bis der Vater 1943 ohne nachvollziehbare Gründe betrügerische Abrechnungen vornimmt und zu lebenslanger Zuchthaushaft verurteilt wird; nach dem Kriege kommt er frei, stirbt aber bald. Seine Tochter Leni beginnt daraufhin in einer Gärtnerei zu arbeiten und setzt dies – nach Kriegsende zeitweise für die KPD aktiv – fort bis 1965.

Mitte Juni 1941 hat Leni Gruyten bei einer Tanzveranstaltung (obwohl solche schon seit Palmarum desselben Jahres, seit dem 6. April 1941, verboten waren) einen Herrn kennengelernt, sich – wie Katharina Blum – noch an demselben Abend von ihm verführen lassen und ihn kurz darauf geheiratet; wenige Tage später fällt ihr Gatte als Unteroffizier an der Ostfront. In der Gärtnerei lernt Leni den zwei Jahre älteren kriegsgefangenen Russen Boris Lvovic Koltowski kennen und läßt sich auf ein Liebesverhältnis mit ihm ein, das dadurch ausgeprägt anti-deutsche Züge erhält, daß die beiden immer dann ihre Schäferstündchen abhalten, wenn alliierte Bombenangriffe geflogen werden; Koltowski stirbt 1945 als vermeintlicher deutscher Soldat in alliierter Kriegsgefangenschaft. Im März 1945 bringt Leni Pfeiffer einen Sohn zur Welt, der den Namen Lev erhält und später bei der Müllabfuhr arbeitet, wo man mit ihm zufrieden ist, obwohl er öfter „blau macht“. Freilich fälscht er nach sechs Jahren seiner Tätigkeit dort aus irgendeinem Grunde Wechsel, was aber, wie ein Gutachten feststellt, „nicht…‚eigentlich kriminell‘“41 gewesen ist. Dennoch kommt er für einige Zeit ins Gefängnis, so daß erst am Schluß des Buches seine Entlassung erwartet wird. – Leni Pfeiffers Verhalten erinnert an das der Protagonisten von Soldatenfilmen der sechziger und siebziger Jahre, wo Wehrmachtsangehörige durch ihr Überlaufen zu den Alliierten als gewissermaßen schuldige Deutsche ihren Freispruch erlangen,42 während in den fünfziger Jahren der gemeine deutsche Landser noch gar nicht auf der Angeklagebank Platz genommen hatte.

Von ihrem Vater übernimmt Leni Pfeiffer ein Mietshaus, das sie verkauft, da sie die Hypothek nicht mehr bezahlen kann. Sie wohnt aber weiterhin im Erdgeschoß des Hauses, hat eine geringe Miete und darf von ihr nicht genutzte Zimmer untervermieten. 1970 lebt dort ein junges deutsches Paar, eine prortugiesische Familie mit drei Kindern sowie drei Türken, die Böll stets Arbeiter nennt, obwohl zu jener Zeit der Begriff des „Gastarbeiters“ überaus verbreitet gewesen ist; anscheinend will Böll darauf hinweisen, daß er keine Heimkehr der Gäste erwartet bwz. wünscht: Die Umrisse einer multikulturellen Gesellschaft zeichnen sich ab.

Leni Pfeiffer lebt allein von ihrer geringen Kriegerwitwenrente und der Untervermietung, seit sie der Arbeit in der Gärtnerei nicht mehr nachgeht. Sie gerät in finanzielle Nöte, und es steht eine Zwangsräumung bevor. Da tun sich – wie im Märchen – all ihre Freunde und Bekannten zusammen und bringen das viele von ihr geschuldete Geld auf. Dadurch sieht man sich an die asozialen „Ansichten eines Clowns“ erinnert, der sich gesagt haben muß: Warum die Mühe um das das tägliche Brot, wenn es doch dafür Leute gibt, auf die man sich verlassen kann!

Von ihrem Untermieter Mehmet Sahin wird Leni Pfeiffer begattet: Sie läßt ihn gewähren, allein weil er sie kniefällig darum gebeten hat und sie eine so vorgetragene Bitte in keinem Falle abzuschlagen vermag. Als sich aber herausstellt, daß sie dadurch – trotz ihres fortgeschrittenen Alters – geschwängert worden ist, da scheint sie plötzlich ganz verliebt zu sein in Mehmet, und es macht ihr auch gar nichts aus, daß er in der Türkei „eine Frau und vier Kinder“43 hat. Auch der Autor findet daran nichts Anstößiges, und darum hat Mehmet – so ist zu ergänzen: als Mohammedaner „auf Grund polygamer Rechte…nicht einmal die Andeutung einer Spur von schlechtem Gewissen“44. – Der Roman „Gruppenbild mit Dame“ ist „Leni, Lev und Boris“ gewidmet, und man fragt sich: Warum nicht auch Mehmet?

Manche weitere glückliche Wendung kommt noch hinzu. Schließlich tut sich der „Verf.“ – Martin Luther45 nachahmend? – mit einer ihrem Kloster entlaufenen Nonne zusammen, und so bricht am Ende des Romans ein allgemeines Eiapopeia aus, das offenbar selbst dem Autor peinlich ist, so daß er fragt: „Bemerkt der ungeduldige Leser, daß hier massenhaft Happy-Ends stattfinden?“46 Die Antwort darauf bleibt er jedoch lieber schuldig.

Zu erwähnen bleibt die Verknüpfung der Protagonistin des Romans mit einer damals aktuellen Erscheinung, der sog. Sexuellen Revolution, die das gesellschaftliche Zusammenleben nachhaltig erschüttert hat. Leni sei ein „verkanntes Genie der Sinnlichkeit“, heißt es.47 Ihren ersten Orgasmus empfindet sie sechzehnjährig, allein unter dem Sternenhimmel im Heidekraut liegend: Dies wird als „volle Seinserfüllung“48 charakterisiert und in die Nähe von Mariae Verkündigung gerückt, eine Verbindung von menschlicher Sexualität und Religion hergestellt. Weiterhin wird an anderer Stelle definiert: „Glückseligkeit…[ist der] Inbegriff der vollendeten und dauerhaften Lebenserfüllung; von jedem Menschen naturhaft erstrebt…“49 Und wiederum wird eine Nähe zur Religion hergestellt: „… nach christlicher Lehre kann wahre G. nur in der ewigen -> Seligkeit liegen.“ Der Begriff der Seligkeit wird danach auf alle Religionen ausgeweitet: „Seligkeit, der völlig leid- und schuldlose Zustand immerwährender vollendeter Glückserfüllung, von allen Religionen als Sinnziel der Weltgeschichte erwartet.“50 So führt dies wieder zurück zur „naturhaft erstrebt[en]“ Glückseligkeit, die von Leni eben als „volle Seinserfüllung“ im Orgasmus gefunden wird. Die menschliche Sexualität nimmt demnach in Bölls „Gruppenbild mit Dame“ die Stelle einer Religion ein. Sie wird ideologisch überhöht, Leni Pfeiffer erscheint als Repräsentantin eines neuheidnischen Sex-Kultes. Und – stellvertretend für jedermann – bekennt ein Herr Pelzer: „… zum erstenmal erlebe ich, daß nicht irgendeine, nur eine Frau mich heilen kann…“51: Leni Pfeiffer! Selbst der Verf. freut sich, daß seine entsprungene Klosterfrau bei ihm ist, „… sonst wäre Eifersucht auf Mehmet [Sahin] nicht ausgeschlossen gewesen…“52 Die aber sagt zu ihm: „Eines Tages wird sie (sc. Leni Pfeiffer) alle diese Männer trösten, die durch sie leiden, sie wird sie alle heilen.“53 – Nach ihrer Apotheose?

*

Schon in seinen frühen Werken begann Heinrich Böll die Morallehre der Kirche in Frage zu stellen. Dies geschah zu einer Zeit, in der sich innerhalb der Kirche bereits die Kräfte formierten, die während des Vaticanums II (1962 – 1965) triumphierten und die Kriche in die wohl schwerste Glaubenskrise seit ihrer göttlichen Gründung stürzten.

Eine in den siebziger Jahren durchgeführte Wortfelduntersuchung seiner Essays zeigte, wie sehr Bölls Denken auf Kirche und Katholizismus fixiert ist. Trotz seiner intensiven Ablehnung gelingt es ihm nicht, unabhängig davon zu denken. Seine Herkunft prägt ihn wie die Zugehörigkeit zur Tätergenerattion, der er zu entkommen sucht, indem er für die Nachgeborenen Partei ergreift. Von der Kirche will er sich losmachen, indem er sie – wie die Tätergeneration – als Schuldige denunziert, obwohl sie doch unter dem nationalsozialistischen System zu leiden hatte. Er wirft ihr fehlende Anerkenntnis der Schuld vor, was eine Lossprechung ausschließe. In derselben Weise greift Böll seine eigene Generation an und zeiht sie der Amnesie. Zum Dank dafür preist ihn Augsteins Politmagazin „Spiegel“54 bereits 1961 als das „Gewissen der Nation“.

War dies auch allzu pathetisch formuliert, so sahen doch viele in Böll den anerkennenswerten Moralisten, da er die – auch ihnen unbequeme – Morallehre der Kirche immer radikaler in Frage stellte. Oben wurde aufgezeigt, daß Böll mit der Natur gegen die Kirche, d.h. die durch sie gelehrte Offenbarung argumentiert. Der Gegensatz von Natur und Offenbarung ist der kirchlichen Lehre durchaus geläufig. Er gründet aber nicht im Willen des Schöpfers, sondern im Fall, der die Natur mitbetroffen hat, so daß sie mit dem Menschen zugleich auf die Erlösung harrt,55 die sie wieder in Einklang mit der Offenbarung bzw. mit Gottes Gesetz bringen wird.

1972: verweigerte Böll die Zahlung der Kirchensteuer; schon in den „Ansichten eines Clowns“ scheute er sich nicht, Klischees zu gebrauchen und schrieb: „Die Kirche ist ja reich, stinkreich…“56 1973 entschloß er sich, aus der Kirche auszutreten, und vollzog diesen Schritt endlich 1976.

*

Mit seinen Angriffen auf die Kirche begab sich Böll geistig in die Nähe solcher Zeitgenossen wie Hochhuth57, Deschner58 und Ranke-Heinemann59. – Böll schätzte Hochhuth als Dramatiker zwar nicht sonderlich, doch mag ihm die Konkurrenzsituation dafür den Blick geschärft haben, denn beide attackierten literarisch denselben Gegner, zuerst die Kirche, dann die Tätergeneration, wofür bei Hochhuth das Bühnenstück „Juristen (1979)“ genannt sei. In vergleichbarer Weise erkannte wiederum Deschner Bölls Büchern das Prädikat „Kraut-und-Rüben-Prosa“ zu.

Das bei weitem bekannteste Bühnenstück des Protestanten Rolf Hochhuth ist „Der Stellvertreter (1963)“. Darin wirft Hochhuth Pius XII. (1939 – 1958), der ungefähr einer Dreiviertel Million Juden das (irdische) Leben gerettet hat, vor, er habe zur nationalsozialistischen Judenverfolgung geschwiegen und sei deshalb daran mitschuldig; natürlich zielt der Titel des Stückes „Der Stellvertreter [Christi]“ darauf, das Papsttum insgesamt herabzusetzen, da der päpstliche Titel des „Vicarius Christi“ dem Protestanten ein fortwährendes Ärgernis ist.

Das Hauptwerk des abgefallenen Katholiken Karlheinz Deschner ist eine auf zehn Bände angelegte „Kriminalgeschichte des Christentums“, von der neun erschienen sind (1970 – 2008). Wenn man in der Einleitung des ersten Bandes erfährt, daß der Autor ausdrücklich nichts über die „positiven Folgen des Christentums“ berichten will, weiß man schon, wie sein Werk einzuschätzen ist.

Als prominente deutsche Repräsentantin des mit Böll keineswegs ausgestorbenen „Linkskatholizismus“ kann Uta Ranke-Heinemann angeführt werden, Tochter des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann (1969 – 1974) von der SPD, die 1953 zum Katholizismus konvertierte, im Jahr darauf in Katholischer Theologiie promovierte und sich 1969 habilitierte. Sie tut sich immer wieder durch unsachliche Kommentare hervor und scheut nicht einmal davor zurück, sich von der extremen Linken instrumentalisieren zu lassen. So trat sie bei der Bundespräsidentenwahl 1999 als Kandidatin der Nachfolge-Partei der SED der DDR zur Wahl in der Bundesversammlung an.

Anmerkungen

1geb. 1910, gest. 2004

2Sozialistischer Deutscher Studentenbund

3Außerparlamentarische Opposition

4geb. 1918, gest. 2008; Nobelpreis 1970

5„GULag“ ist die Bezeichnung des sowjetischen Lagersystems, dessen deutsche Übersetzung „Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager“ lautet.

6geb. 1920

7Marcel Reich-Ranicki im Springer-Blatt „Welt“ vom 15. Juli 2010

8 „Haus ohne Hüter“ wurde 1975 verfilmt.

9Eine Verfilmung von „Billard um halb zehn“ wurde 1964 bis 1965 gedreht. Sie trägt den Titel „Nicht versöhnt oder Es hilft nur Gewalt, wo Gewalt herrscht“. Darin treten ausschließlich Laiendarsteller auf; ein frühes Beispiel des „neuen deutschen Films“. Böll zeigte eher irrtiert als glücklich angesichts dieses Werkes.

10„Über mich selbst (1959)“

11Die Verfilmung der „Ansichten eines Clowns“ erschien 1976.

12Hinsichtlich des Geburtsjahres von Hans Schnier schwanken Bölls Angaben: Entweder ist Hans Schnier ca. 1934 geboren oder zwei Jahre später. – Wahrscheinlich ließ Böll Hans Schnier zuerst ca. 1936 geboren sein, bemerkte dann aber, daß sein Ich-Erzähler für das 1945 Erzählte (Kap. 4) zu jung gewesen wäre und versetzte sein Geburtsdatum zurück, ohne frühere Angaben (s. z.B. Kap. 2) zu korrigieren. Doch auch als Neunundzwanzigjähriger gehört Hans Schnier 1963 noch zu den Nachgeborenen.

13Allerdings heißt es, es sei zugleich Karnevalszeit (Kap. 25). Der Aschermittwoch fiel im Jahre 1963 aber auf den 27. Februar, Ostern auf den 14. April. Nur bei Osterterminen nach dem 16. April jedoch können Karnevalstage in den beginnenden Monat März fallen. – Wahrscheinlich schien der Februar dem Autor zu frostig für den am Schluß des Romans auf den Stufen der Treppe des Bonner Bahnhofs sitzenden Ich-Erzähler (Kap. 25).

14Kap. 2

15Kap. 12

16Kap. 13

17Kap. 15

18Kap. 16

19Kap. 24

20„Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ wurde bereits 1975 verfilmt.

21geb. 1912, gest. 1985; Protestant, Freimaurer, fünf Mal verheiratet; erhielt 1948 von den britischen Besatzern die erste Lizenz für eine überparteiliche Zeitung in Hamburg

22Rote-Armee-Fraktion

23Kap. 41

24Kap. 44

25Kap. 23

26Kap. 41

27geb. 1934, gest. 1976

28Franz-Josef Strauß; geb. 1915, gest. 1988; langjähriges Mitglied des Bundestages (1949 – 1978), mehrfach Bundesminister und Ministerpräsident Bayerns (1978 – 1988). – Als echten Konservativen wird man ihn letztlich nicht bezeichnen können, eher als einen rechten Opportunisten, der in jener Zeit, als (scheinbarer) Konservativismus noch Mehrheiten einbrachte, dem entsprechend auftrat, doch 1969 auf eine Fortsetzung der „Großen Koalition“ (1966 – 1969) mit der SPD hoffte, auch wenn ihm die F.D.P. in der Regierung etwas lieber gewesen wäre, und so zur Wahlniederlage beitrug, da die nationalistisch ausgerichtete NPD 4,3% erhielt, an der 5%-Klausel also knapp scheiterte.

29In der 1957 gegründeten Zeitschrift „konkret“ vom Oktober 1961; übrigens stammte die „Anschubfinanzierung“ dieses Blattes aus Ost-Berlin. – Als die gewohnte finanzielle Unterstützung wegen kritischer Artikel über die DDR ausblieb, wandelt sich „konkret“ zum Porno-Politit-Blatt, um die Auflagenzahl zu erhöhen, was auch gelang.

30Kap. 7f., 14f., 22 ; der durschnittliche Jahresverdienst lag im Jahre 1974 bei DM 37.000 pro Jahr.

31Kap. 38

32Kap 3

33Kap. 26; auch in den „Ansichten eines Clowns“ wird von dem Protagonisten immer wieder behauptet, er sei „monogam“ bzw. könne nur mit einer ganz bestimmten Frau zusammenleben. Böll wohlwollend mag man darauf verweisen, daß der Mythos vom zertrennten Doppelwesen, deren beide Hälften nach einander suchen, bei Plato (griech Platon; geb. 427, gest. 347 v. Chr.) belegt ist (Symp. 189 d – 192 c). Doch dieser Mythos wird dem Komödiendichter Aristophanes (geb. vor 445, gest. nach 388 v. Chr.) in den Mund gelegt, und über dies läßt Böll sonst keinerlei Bezug zur platonischen Geisteswelt erkennen, so daß es sich bei diesem Motiv eher um den Absenker einer irrational überhöhten Vorstellung von der Ehe handeln wird. Man beachte, daß die „Ansichten eines Clowns“ Bölls Ehefrau Annemarie gewidmet sind.

34Kap.25

35Kap. 40

36Kap. 58

37„Gruppenbild mit Dame“ wurde 1977 verfilmt.

38geb. 1925

39Kap. V

40Kap. X

41Kap. XI

42„Der Titelheld von Die Abenteuer des Werner Holt (DDR, 1964) schießt am Ende ebenso auf die eigenen Leute wie jener der westdeutsch-amerikanischen Co-Produktion Steiner – Das eiserne Kreuz II (1977).“ Martin Lichtmesz, „Besetztes Gelände. Deutschland im Film nach ‘45 (2010)“, Kap. 6 Ruhmlose Mistkerle

43Kap. X

44ebd.

45geb. 1483, gest. 1546

46Kap. X

47Kap. II

48ebd.

49Kap. III

50ebd.

51Kap. X

52ebd.

53ebd.

54Der „Spiegel“ erschien zuerst im Januar 1947; der Journalist Rudolf Augstein (geb. 1923, gest. 2002; abgefallener Katholik, fünf Mal verheiratet) hatte von den britischen Besatzern die Verlegerlizenz dafür erhalten.

55Rom. 8, 22f.

56Kap. 18

57geb. 1931

58geb. 1924

59geb. 1927

4 Kommentare zu „Der rasch Vergessene“

  • karlmartell:

    Heinrich Böll hat den Stil des leider zu früh gestorbenen Wolfgang Borchert für sich annektiert. Was zu Borchert gehörte und passte, wirkte bei dem schnell arrivierten Heinrich Böll nur aufgesetzt und verlogen.
    Obwohl aus der Kirche ausgetreten, verlangte es ihn auf seinem Totenbett nach einem Pfarrer.
    Verlogenheit gepaart mit Inkonsequenz.

  • virOblationis:

    @ karlmartell
    Der späte Ruf nach dem Priester soll eine fromme Legende sein, die wohl erdichtet wurde, um das kirchliche Begräbnis zu rechtfertigen:
    http://www.heinrich-boell.de/HeinrichBoellChronik.htm

  • karlmartell:

    virOblationis
    Verlogenheit mit Inkonsequenz  eines satten zufriedenen Bürgers, ständiger Trittbrettfahrer des Mainstream. Verachtenswert, so oder so.

  • Georg Mogel:

    Vergeßt Böll
    Heinrich Böll, allenfalls eine Fußnote in einer literaturgeschichtlich unbedeutenden Episode deutscher Dichtkunst. Böll verdient es, umgehend (weiter) vergessen zu werden. Dieser anergische Wortsetzer in dünner Brühe aus verlogenem rheinischen Katholizismus und kolportageadaptierter Mittelmäßigkeit ist mangels Substanz keiner interpretatorischen Anstrengung wert.
    Allerdings sollte Bölls Sympathisantenstatus zur delinquenten „RAF“ -angesichts deren Revitalisierung – nicht ganz vergessen werden.
     
     
     
     

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