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Wessen Kult?

Immer wieder einmal hört man Forderungen nach flexiblerer Gestaltung der Arbeitszeit. Doch bereits jetzt sind viele Mütter minderjähriger Kinder sogar sonntags beruflich eingespannt; an diesem Beispiel wird die Problematik weiterer Flexibilisierung der Arbeitszeit besonders deutlich.  Sie stellt die letzten Reste von noch erhaltenem Familienleben in Frage. Aber darüber hinaus, so meine ich, bedroht sie die Gesundheit des Menschen in grundlegender Weise.

Der ehemals weltbekannte Chirurg August Bier (geb. 1861, gest. 1949) stammte aus Waldeck-Pyrmont, wurde nach dem Besuch des humanistischen Gymnasiums Arzt, dann Chirurg, erfand die Lumbalanästhesie, die er im Selbstversuch erprobte, wurde 1907 an die Berliner Charité berufen, erfand 1916 den Stahlhelm, forstete ein in ökologischer Sicht heruntergekommenes Gut in Brandenburg jahrzehntelang unter philosophischen Gesichtspunkten sehr erfolgreich wieder auf, war auch auf dem Gebiet der Naturheilkunde engagiert, erfand das Schröpfglas mit Sauglocke – und war vor allem, wie so viele in früherer Zeit, nicht nur Mediziner, sondern zugleich Philosoph; von seinem dreibändigen Werk „Die Seele – Das Leben – Der Wald“ ist leider nur ein einziger zu seinen Lebzeiten erschienen und ein weiterer posthum.

In seiner Philosophie orientierte sich August Bier vor allem an Heraklit. „Panta rhei“, wird der Leser denken, „Alles fließt“. Dieses Stichwort chrakterisiert Heraklits Lehre tatsächlich, aber es kommen – wie nicht anders zu erwarten – zum Wesentlichen auch noch andere Aspekte hinzu. So erwähnt Heraklit (Fr. 30, vgl. Fr. 94) regelmäßige Maße, metra. Bier hat dies unter dem Stichwort des rhythmos aufgenommen, den das menschliche Leben in vielfacher Hinsicht benötigt. – Zu diesen rhythmoi gehört die Woche zu sieben Tagen, obwohl sie nur scheinbar der Natur entstammt, denn das System der sieben Planeten, auf das sie gegründet ist, hat sich als irrtümlich herausgestellt. Dennoch hat sich die Woche zu sieben Tagen seit Jahrtausenden bewährt, und dasselbe darf man von dem einen bestimmten, speziell dem Kult gewidmeten Tag behaupten, den die biblische Religion in die Siebentagewoche eingefügt hat. – Es scheint bezeichnend, daß die französischen Revolutionäre den Jahreskalender umwandelten und die Siebentagewoche abschafften.

Eine allzu flexibel gestaltete Arbeitszeit zerstört den Rhythmus der Siebentagewoche. Dann fließt ein Tag hin wie alle Tage. Deshalb bin ich Kaiser Constantin (306 – 337) für den arbeitsfreien Sonntag dankbar, an dem der Kultus einen besonderen Rang einnimmt. Wer sich dem nicht widmen mag, dem bleibt die im Grundgesetz erwähnte „seelische Erhebung“.

Der moderne Mensch sieht sich durch die Festschreibung des arbeitsfreien Sonntags in seiner individuellen Lebensgestaltung eingeschränkt. Er will den Sonntag anders nutzen, vielleicht für die Familie, vielleicht für einen Ausflug, vielleicht auch Einkaufen gehn. Angesichts solcher Wünsche erscheinen die Argumente, den Sonntag allgemein arbeitsfrei zu halten, obsolet; und damit gelangt man wieder zu der o.g. Flexibilität, die einer siebentägigen Arbeitswoche mit individuell eingesprenkelter Freizeit entspricht. In Blick darauf wird eine weitere Steigerung der Prodiktivität erhofft. Abgesehen davon, ob dies Ziel dadurch tatsächlich dauernd erreicht wird, stellt sich die Frage, wofür der freie Sonntag geopfert würde. M.a.W.: Was soll an die Stelle des Kultus und der seelischen Erhebung gestellt werden? – Die Ökonomie. Der Dienst an ihr scheint wichtiger zu sein als Gott. Doch die Wirtschaft sollte dem irdischen Leben dienen, nicht umgekehrt.

 

2 Kommentare zu „Wessen Kult?“

  • Bernd Gebhardt:

    April, April. Wieder mal einer, der auf die Jux-Kolumne „Lockerungsübungen“ hereingefallen ist. Hallo: Das ist ein Scherz!
    [vO: Vielen Dank für den Hinweis. Ich habe den in meinem Beitrag enthaltenen Bezug darauf entfernt.]

  • Rucki:

    Ein Mathematiker hat mir mal folgendes erklärt:

    Der 7-Tagerythmus entspringt aus der sog. „Eulerschen Zahl“ auch „Logarithmus Naturalis“ (LN) genannt, oder Zahl des „Natürlichen Wachstums“.
    Sie beträgt 2.71828….

    Diese Zahl mit sich selbst mal genommen beträgt 7,4…..

    Alle natürlichen Wachstumsprozesse (z.B. Zellteilung) entsprechen dieser Zahl.
    Es scheint diesbezüglich auch ein, dem Menschen innewohnendes natürliches Bedürfnis zu sein, sich einem natürlichen Rhythmus von 7 Tagen zu bedienen.

    Die sog. Schöpfungswoche aus der jüdisch-christlichen Lehre scheint diesem Rhythmus zu entsprechen. Ob es nun wirklich so ist weiß ich nicht, Leonard Euler lebte im 18.Jh. aber für ausgeschlossen halte ich es nicht, dass Menschen früherer Zeiten unbewusst diese Rythmik als besonders gut für den Menschen empfanden.

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