Inhaltsverzeichnis

Dritter und vierter Stand

Traditionell zählt man drei Stände, aus denen die höherentwickelte menschliche Gesellschaft besteht: Lehrstand, Wehrstand und Nährstand. Zum ersten Stand zählen diejenigen, die sich mit Kultus und Bewahrung der für die Gemeinschaft bedeutenden Überlieferungen befassen, denn der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Der zweite Stand hat für die Verteidigung der Gemeinschaft gegen äußere Bedrohungen zu sorgen, der dritte für die Schaffung und Erhaltung einer materiellen Lebensgrundlage im Innern.

Man kann dies auch an der traditionellen, auf Aristoteles zurückgehenden Einteilung der Seele in drei Bereiche anschaulich machen: Die pflanzliche Nährseele entspricht dem dritten Stand, die animalische Empfindungsseeele, die auch Bewegung ermöglicht, dem zweiten, und die spezifisch menschliche Rationalseele dem ersten.

Das Leben innerhalb der drei Stände ist nicht einfach austauschbar, so daß man hier oder dort nur einem Beruf nachgeht. Das zeigt sich schon daran, daß die beiden oberen Stände auch ohne Familienleben auskommen können: Man denke an den katholischen Priester oder den Mönchskrieger (Kreuzritter), aber auch den männlichen oder weiblichen Wächter des platonischen Idealstaates, dem eheliches Zusammenleben erst gestattet wird, wenn er aus dem aktiven Dienst ausscheidet und eine Familie nicht mehr gründen zu gründen vermag, weil die entsprechende Wächterin zu alt ist. Der dritte Stand hingegen ist grundsätzlich ohne Ehe und Familie nicht denkbar.

Ein besonderes Problem bildet der vierte Stand. Ihm gehören alle diejenigen an, die als Gesellen oder Knechte sich verdingen, um sich das Nötige zum Lebensunterhalt zu erwerben. Es gehören dem vierten Stand sowohl Freie wie Unfreie an, Arbeiter wie Sklaven, denn der Unterschied zwischen diesen beiden Lebensformen ist nur graduell. Schon der Stoiker Chrysipp stellte fest, daß Arbeiter und Sklaven sich nur durch die Dauer der Dienstbarkeit unterscheiden; der Lohn des Arbeiters dagegen taugt nicht unbedingt zur Unterscheidung, denn unter bestimmten Bedingungen dient er ebenso wie der Sklave um Kost und Logis, nur eben nicht unbedingt lebenslang.

Der dritte und der vierte Stand stehen in einer besonderen Beziehung zueinander, weil der dritte Stand die materielle Lebensgrundlage schafft und erhält; eben dabei mögen die Angehörgen des vierten Standes gegen Entgelt behilflich sein. – Auch Aristoteles erkannte diese besondere Beziehung an und beschrieb sie in seiner „Politik“ als Verhältnis von Herr und Knecht, die um ihres Selbsterhaltes willen zusammenwirken. Generell jedoch verstand Aristoteles Sklaven als Werkzeuge sozusagen in der Hand ihres Herrn; man könnte sie mit Maschinen zur Fertigung irgendwelcher Dinge vergleichen. Diese Position, die mit der Überzeugung verbunden ist, daß es Sklaven von Natur aus gibt, wurde in der Antike jedoch bereits überwunden, nachdem der Gorgias-Schüler Alkidamas von Elaia festgestellt hatte, daß niemand von Gott oder der Natur zum Sklaven bestimmt ist.

Von der Bronzezeit bis zur industriellen Revolution bildete der vierte Stand hinsichtlich der politischen Machtverhältnisse stets nur eine zu vernachlässigende Größe.Vereinfacht gesagt regierte ein Vertreter des ersten Standes als Monarch, der Adel als Aristokratie oder der dritte Stand in Form der Demokratie, und so lange der regierende Stand die Interessen der beiden anderen berücksichtigte, schien die Herrschaft nicht entartet zur Tyrannis, Oligarchie oder Ochlokratie. – Doch mit der Industrialisierung änderte sich dies. Der vierte Stand nahm an Zahl gewaltig zu, und dies zu einer Zeit, da auf Grund des gestiegenen Einflusses des dritten Standes seit 1688 (England) bzw. 1789 (Frankreich), ja seiner Vorherrschaft, die Demokratie in dieser oder jener Form weite Verbreitung fand. Unter den Vorzeichen des Parlamentarismus konnte auch der rasch waschsende vierte Stand an politischem Einfluß gewinnen, anders als unter den Bedingungen einer rein aristokratischen oder monarchischen Verfassung. So ist der vierte Stand auf die eine oder andere Weise zur Herrschaft gelangt, durch Wahlen oder Umsturz, und herrschte entweder in der Form einer parlamentarischen Demokratie, die die Interessen anderer Stände nicht unbedingt ausschließt, oder einer Diktatur, die die verschiedenen Stände in einer hierarchischen Ordnung zusammenzuschließen sucht, oder aber einer entarteten Verfassung, die es sich zum Ziel setzt, nicht nur die Interessen anderer Stände zu übergehen, sondern diese Stände zu beseitigen.

Nicht nur politische Macht hat der vierte Stand erlangt, auch die Wirtschaft vermag er zu bestimmen. Gab es früher einzelne Betriebe, die lauter verschiedenen Kaufleuten, Handwerkern und Bauern gehörten, so bestehen durch die Möglichkeit, Aktien zu verkaufen, Großbetriebe, die nicht mehr einem bestimmten Unternehmer gehören, sondern einer Vielzahl von Aktionären, die nur das eine Interesse gemeinsam haben, nämlich einen möglichst hohen Gewinn zu erzielen (shareholder value); der einzelne Unternehmer hingegen kann auch andere Ziele verfolgen, z.B. als Nationalist möglichst nur geeignete Einheimische zu beschäftigen und nicht vorzugsweise die preiswertesten Arbeitskräfte. Den Unterschied zwischen Betrieben, die von Unternehmern des dritten Standes geleitet werden, und solchen, in denen gegen Entgelt beschäftigte Konzernchefs arbeiten, führt an Hand eines Beispiels ein Artikel Judiths ganz deutlich vor Augen.

Kommentieren