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Erwägungen zum Motiv der Osloer Untat auf Grund der Form dieses doppelten Verbrechens

Vorweg1: Nach den Motiven eines Verbrechens zu fragen, heißt nicht, es irgendwie zu entschuldigen, denn wenn ich beispielsweise verstehe, daß ein Raubmord begangen wurde, um an ein wertvolles Schmuckstück zu gelangen, dann spreche ich den Täter deshalb in keiner Weise frei.

Vorweg2: Verbrechen größten Ausmaßes gab es schon im Altertum. Allein die Anzahl der von ihm Ermordeten sagt noch nichts über den Täter und dessen Motive aus.

Nach den Motiven der Untat von Oslo läßt sich auch unabhängig von den widersprüchlichen Aussagen des Täters fragen, indem man die Form betrachtet, denn sie ist mit einer Intention verbunden; oder vielmehr: in der Form des Verbrechens findet eine bestimmte Absicht ihre Gestalt. So stiehlt der Hungrige einen Laib Brot in der Bäckerei, um satt zu werden, während der Habgierige einen anderen übervorteilen mag, um sich zu bereichern; der Hungrige wird kaum einen anderen übervorteilen und sich von dem Gewinn Brot kaufen. – Auch die Form von Texten sagt gewöhnlich etwas über ihre Intention aus: Wenn ich in meinem Briefkasten ein Blatt finde, auf dem es vielleicht heißt: „Freilandrosen direkt vom Erzeuger erhalten Sie bei n.n.“, dann weiß ich sogleich, daß es hier nicht um eine bloß um irgendeine Mitteilung geht, sondern um den Versuch, mich als Kunden zu gewinnen. Ein Märchen hingegen beginnt üblerweise mit den Worten „Es war einmal…“ und Gebote mit „Du sollst“ bzw. „Du sollst nicht“. So etwas könnte aber eingesetzt werden, um einem Werbetext mittels Übernahme solcher Formulierungen mehr Nachdruck zu verleihen („Du sollst deine Freilandrosen nur bei n.n. kaufen.“) oder sie reizvoller erscheinen zu lassen („Es waren einmal Freilandrosen, die gab es bei n.n., und es waren die schönsten auf der ganzen Welt.“).

In der Form der Osloer Untat fällt sogleich die Zusammensetzung aus zwei ganz unterschiedlichen Verbrechen auf. Einerseits der Bombenanschlag im Regierungsviertel, andererseits der Amoklauf. Von der Form her verbindet beides nichts; beides sind in sich vollständige Verbrechen.

Das Osloer Bombenattentat erinnert an den Anschlag von Oklahoma im Jahre 1995: Auch dort war ein Regierungsgebäude durch eine mittels Dünger gefertigte Bombe das Ziel. Der Haupttäter wurde von einem Helfershelfer unterstützt. Das Motiv der Tat blieb unklar, doch scheint sich der Haupttäter in irgendeiner Weise als Held gesehen zu haben, da er in dem von ihm vor dem Hinrichtung verfaßten Brief aus dem Gedicht „Invictus“ (der Unbesiegte bzw. Unbesiegbare) von William Ernest Henley zitierte. Auch legte es der Haupttäter nicht darauf an, selbst mit in den Tod gerissen zu werden, sondern fuhr im einem Auto davon; um den Erwerb öffentlicher Bekanntheit, d.h. um eine perverse Form von Ruhm, ging es dem Täter offenbar nicht, dem es anscheinend reichte, sich selbst insgeheim als Held zu sehen.

Amokläufe scheinen in unserem Kulturraum vor dem Beginn des 20. Jahrhunderts unbekannt gewesen zu sein. Die Moderne mit ihrer Entwurzelung des einzelnen und zugleich seiner Vermassung wäre demnach als Voraussetzung anzusehen. Gewissermaßen eine Untergattung des Amoklaufs in unserem Kulturraum stellt das „Schulmassaker“ dar: Ein Täter ermordet wahllos Kinder und Jugendliche; als Ort dieses Verbrechens eignet sich vor allem eine Schule, da dort gewöhnlich hunderte von Kindern versammelt sind. Der Osloer Amoklauf paßt gut in dieses Schema: Die Schule als Ort des Verbrechens ließ sich durch die Insel ersetzen, da dort ebenfalls lauter Kinder und Jugendliche versammelt waren. Da sich Kinder und Jugendliche im allgemeinen durch ihre Wehrlosigkeit auszeichnen – je jünger, desto mehr – geht es dem Täter anscheinend darum zu töten, ohne selbst dadurch gefährdet zu werden; dies schließt natürlich nicht aus, daß in dem einen oder anderen konkreten Fall ein solcher Täter es auch darauf anlegen kann, am Ende selbst umzukommen, doch dies entspricht nicht dem Töten von Wehrlosen im Besonderen, sondern dürfte ganz allgemein als möglicher „Ausweg“ aus der für den Amokläufer entstandenen Lage nach einem vielfachen Mord anzusehen sein. – Was will also ein Täter, der lauter Wehrlose tötet, mit seiner Tat zum Ausdruck bringen? Es geht ihm anscheinend um das Ausleben von Macht über Leben und Tod, das er in der Öffentlichkeit demonstrieren will, ohne sich selbst zu gefährden; Mordlust paart sich mit Feigheit. Der Täter selbst freilich mag je nach seinem geistigen Zustand ganz andere Motive vorbringen.

Die Osloer Untat setzt sich aus zwei Verbrechen zusammen, in denen der Form nach zu urteilen zwei unterschiedliche Motive zum Ausdruck kommen:

1. Es geht dem Täter nicht um den Erwerb öffentlicher Bekanntheit (Ruhm), sondern darum, sich selbst insgeheim als Held zu sehen.

2. Es geht dem Täter anscheinend um das Ausleben von Macht über Leben und Tod, das er in der Öffentlichkeit demonstrieren will (Ruhm), ohne sich selbst dabei zu gefährden.

Dies wären also die Motive der Verbrechen nach deren Form. Die Verknüpfung hingegen dieser beiden Verbrechen scheint ohne Vorbild. Sie könnte dazu dienen, das zweite Verbrechen mittels des vorangegangenen in seinem Ausmaß noch zu steigern, also die Macht des Täters über Leben und Tod Wehrloser noch zu überhöhen. Dann wäre das zweite das eigentliche Verbrechen und damit auch das Erlangen perversen Ruhmes das eigentliche Motiv.

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