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Wahre Armut

In diesen Tagen, da wir das in den vergangenen Jahrzehnten zusammengetragene materielle Vermögen des Volkes entschwinden sehen, gilt es den viel größeren Verlust nicht aus den Augen zu verlieren.

Was wir längst verloren haben mag an einem Beispiel deutlich werden: Stellen wir uns für einen Augenblick das Wortgeklingel einer Oscar-Preisverleihung vor,* und vergleichen wir dies dann mit den Sätzen aus der Rede, die Gottfried Benn heute vor sechzig Jahren anläßlich der Verleihung des Büchner-Preises hielt.

*(s. aber auch dieses und jenes)

Darin heißt es:

Bevor ich hierher reiste, las ich noch einmal den Woyzeck. Schuld, Unschuld, Armseligkeit, Mord, Verwirrung sind die Geschehnisse. Aber wenn man es heute liest, hat es die Ruhe eines Kornfeldes und kommt wie ein Volkslied mit dem Gram der Herzen und der Trauer aller. Welche Macht ist über dieses dumpfe menschliche Material hinübergegangen und hat es so verwandelt und es bis heute so hinreißend erhalten?

Wir rühren [mit dieser Frage] an das Mysterium der Kunst, ihre Herkunft, ihr Leben unter den Fittichen der Dämonen. Die Dämonen fragen nicht nach Anstand und Gepflegtheit der Sitte, ihre schwer erbeutete Nahrung sind Tränen, Asphodelen1 und Blut. Sie machen Nachtflüge über alle irdischen Geborgenheiten, sie zerreißen Herzen, sie zerstören Glück und Gut. Sie verbinden sich mit dem Wahnsinn, mit der Blindheit, mit der Treulosigkeit, mit dem Unerreichbaren, das einander sucht. Wer ihnen ausgeliefert ist, ob 24 [wie Büchner] oder 60 Jahre [wie ich, sc. G.B.], kennt die Züge ihrer roten Häupter, fühlt ihre Streiche, rechnet mit Verdammnis. Die Generationen der Künstler hin und her – so lange sie am Leben sind, die Flüchtigen mit der Reizbarkeit Gestörter und mit der Empfindlichkeit von Blutern,2 erst die Toten haben es gut, ihr Werk ist zur Ruhe gekommen und leuchtet in der Vollendung.

Aber dies Leuchten in der Vollendung und das Glück der Toten, es täuscht uns nicht. Die Zeiten und Zonen liegen nahe beieinander, in keiner ist es hell, und erst nachträglich sieht es aus, als ob die Worte auf Taubenfüßen kamen. Wenn die Epochen sich schließen, wenn die Völker tot sind und die Könige ruhen in der Kammer, wenn die Reiche vollendet liegen und zwischen den ewigen Meeren verfallen die Trümmer, dann sieht alles nach Ordnung aus, als hätten sie ([sc. die Künstler]) alle nur hinaufzulangen gebraucht und hätten herabgeholt die großen, die leuchtenden, die fertig liegenden Kränze, aber es war einst alles ebenso erkämpft, behangen mit Blut, mit Opfern gesühnt, der Unterwelt entrissen und mit Schatten bestritten.

Die Lebenden und die Toten, die Generationen hin und her – erst von weitem sieht man, wie es ineinandergreift. Wir fahren durch Städte, sehen die Fenster aufleuchten, die Bars erstrahlen, die Paare schlängeln sich im Tanz, und in einem der Häuser wohnt nach hinten einer dieser Flüchtigen und schlägt die Welt wie einen Mantel um sein Herz, um es zu stillen. Tragen sie auch nicht alle ihr Werk wie Büchner seinen Woyzeck ins Sichere und Reine, mangeln sie auch in vielem der Erfüllung, hausen sie auch, um mit Jeremias zu reden, in Felsen und tun wie Tauben, die da nisten in den hohlen Löchern – so nisten sie doch in den Reichen, wo das Unverlöschliche brennt, das nicht erhellt und nicht erwärmt, das sinnlos ist wie der Raum und die Zeit und das Gedachte und das Ungedachte3 und doch allein von jenem Reflex der Immortalität, der über versunkenen Metropolen und zerfallenden Imperien4 von einer Vase oder einem geretteten Vers aus der Form sich hebt unantastbar und vollendet5.

Das waren alte und neue Gedanken von mir, die mir kamen, als ich den Woyzeck las, bevor ich hierher reiste. …

*

Und dem Rundfunk unserer Tage fällt zu Sätzen aus dem obigen Text nicht mehr ein, als zu versuchen, sie im Sinne eines NS-Reuebekenntnisses für den „Kampf gegen rechts“ auszuschlachten: Das ist wahre Armut!

*

Ich habe mir einige Anmerkungen zur Erleichterung des Verständnisses erlaubt.

1Asphodeloswiese: Ort, wo die Schatten der Toten wohnen, Odyssee 11, 539.  Vgl.: „Henri Matisse Asphodèles“: Sträuße – doch die Blätter fehlen, / Krüge – doch wie Urnen breit, / – Asphodelen, / der [Unterweltgöttin] Proserpina geweiht – (Gottfried Benn)

2Hierher hätte m.E. ein Gedankenstrich o.ä. gehört.

3Hierher hätte m.E. ein Komma gehört.

4Hierher hätte m.E. ein Komma gehört.

5Hier fehlt m.E. ein (Subjekt mit) Prädikat wie „ist (ihre Höhle) umfangen“, vielleicht auch „zehren (sie)“, o.ä. als Entsprechung zu „nisten (sie)“.


 

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