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Entwurzelung

Das Projekt der Moderne erzeugt den entwurzelten Menschen: Ohne Glauben an Gott, ohne Heimat in einer globalisierten Welt, ohne Rückhalt im eigenen Volk, ohne Geborgenheit in der Familie, ohne Gewißheit in bezug auf die eigene Identität.

Den lang anhaltenden Bemühungen gelingt es immer vollkommener, enen solchen Menschen zu schaffen. Man sieht es an den Kindern: Psychisch krank, mit Sprachstörungen behaftet, ja zu einem beträchtlichen Teil unfähig, eine Berufsausbildung abzuschließen; da erstaunt es wenig, daß viele Stellen unbesetzt bleiben. Viele Studenten weisen intellektuelle Defizite auf; wie wenig tröstlich, daß man jetzt auch ohne Abitur studieren kann. Aber inwiefern ist die Universität heute überhaupt noch mehr als eine Fachhochschule, die der Wirtschaft die erforderlichen Arbeitskräfte zuführen soll?

Aber das Ziel menschlichen Daseins besteht nicht in der möglichst hohen Effizienz ökonomischer Vorgänge. Vom Brot allein, bleibt man nicht bei Kräften. Gerade die Deutschen waren wirtschaftlich stark, ohne günstige natürliche Voraussetzungen dafür zu haben, und ihr Bildungssystem scheinbar mit altertümlichen Bildungsinhalten überfrachtet – die aber gerade dazu dienen sollten, die Persönlichkeit zu entwickeln; und wie erfolgreich waren Deutsche bis weit ins 20. Jahrhundert!

Natürlich verschärft die ungebremste Zuwanderung kulturfremder und nicht assimilierbarer Scharen die Problematik. Doch selbst wenn sie nicht stattfände, wäre die Lage hinsichtlich Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen keine grundlegend andere.

 

15 Kommentare zu „Entwurzelung“

  • Magnus Göller:

    Fast das einzige, was außer ein wenig Englisch allgemein noch als neben technischen Fächern und ein wenig undefinierter Allgemeinbildung als wert gilt, gelernt zu werden (gilt natürlich nicht für Genderbeauftagte usw.), ist Vermögensverwaltung. Geist ist Luxus, wenn nicht dekadent. Überall Eckensteher, die sich für Keplers und Teslas halten, nur weil sie ein paar Knöpfe drücken gelernt haben.

    Gleichwohl meine ich, dass das Kulturelle zurückkehrt. Ich treffe immer öfter Leute, die Befreiung im Unmittelbaren, Erlebbaren, Fühlbaren suchen, jenseits von Facebook, Handy und I-pod. Die mehr Geld und Beförderungen ablehnen, schlicht wegen der Lebensqualität.

    Ich meine – nicht allein von daher – , dass nicht nur durchaus berechtigtes Wehklagen ansteht, sondern auch eine gehörige Portion Optimismus. Gerade Jüngere halten mit Recht nicht viel davon, wenn die Alten vermeintliche Werte als verhockte Miesepeter mit sich herumkreuchen.

  • Ramses:

    Was die Sprachstörungen betrifft, so ist mir aufgefallen, dass in keiner der Zeitungen, die mir zugänglich sind, die Ursachen hierfür hinterfragt wurden. Der Verdacht drängt sich auf, dass dies aus Gründen der Political Correctness unterblieben ist, denn dann müsste die Politik
    ihr eigenes Versagen einräumen. Da ist es natürlich einfacher, nur an den Symptomen herumzudoktern, ein paar Logopäden mehr sollen und werden’s dann schon richten..
    Und dass Universitäten und Fachhochschulen mehr und mehr gleichgeschaltet werden, ist auch nicht zu übersehen (Gleichartigkeit der Studienabschlüsse wie Bachelor, Master etc.).

  • Magnus Göller:

    Als Ursache für zunehmende Sprachstörungen bei Kindern und Jugendlichen darf man – ohne dass ich das bereits empirisch beweisen könnte – sicherlich auch annehmen, dass viele dieser immer weniger längere, zusammenhängende Texte lesen, aber, schlimmer noch, dass überall immer weniger gesprochen wird. Jüngere Menschen auf sprachliche Mängel und Fehlleistungen hinzuweisen, gilt vierlerorts als „intolerant“, „verstaubt“, wenn nicht gleich als „rechts“. Die Twitter- , SMS- , Facebook- , und allgemeine Engleutsch-Unkultur tut ein Übriges. Alles muss schnell gehen, keiner hat Zeit für einen anständigen Satz. Schon vor gut dreißig Jahren bekam ich am Gymnasium Schelte und Abzug wegen zu langer Sentenzen. Vor zwanzig dann hielt man mir bei einer Redakteurstätigkeit vor, man lerne doch schon auf der Journalistenschule, kurze Sätze zu machen. Der Focus-Chefradekteur Markwort warb vor zehn oder fünfzehn Jahren mit dem Slogan „Hauptsätze! Hauptsätze! Hauptsätze!“ – wie als ob er Feldwebel spielen wolle, und antwortete mir, als ich persönlich die Gelegenheit hatte, ihn darauf anzusprechen, das stamme doch von Tucholsky. Telegrammstil überall, Geringschätzung der deutschen Syntax. Wer wundert sich da noch?

  • Magnus Göller:

    Ich sehe gerade, dass mein zweiter Kommentar meinem ersten auf den ersten Blick zu widersprechen scheint. Wir stehen meines Erachtens vor zwei gegenläufigen Entwicklungen. Viele Ältere (mitunter schon Zwanzigjährige) suchen wieder die unmittelbare menschliche Begegnung, erkennen die Gefahren, die ein Smartphone als Dauerbegleiter mit sich bringt (von der Strahlung mal abgesehen) und verbringen ihre Zeit im Netz zunehmend mit ernsthaftem Lesen und nicht nur mit Daddeln und Videos und entdecken überdies das ernsthafte Schreiben wieder, indem sie sich als Kommentatoren – wenn nicht gleich als Blogger – wahrgenommen sehen, die nicht, wie früher, zwanzig Leserbriefe schreiben müssen, um, wenn nicht ohnehin ob deren Inhaltes zensiert, igendwann einmal durchzukommen und mit ihren Vorstellungen wahrgenommen zu werden, diese wie auch ihren Stil in Rede und Widerrede entwickelnd.
    Kurzum, wie schon in meinem Erstkommentar angedeutet, sollten wir uns, bei aller notwendigen Kritik (meine Söhne sind 11 und 13, ich bekomme das Ganze hautnah mit), nicht vordringlich in Kulturpessimismus üben, sondern über das gute alte Beispiel dahingehend zu wirken versuchen, dass der Nachwuchs irgendwann auch zu den ernstzunehmenden „Großen“ gehören will, diese, wie es sich seit jeher aus der Natur wie der Inkulturation prinzipiell ergibt, irgendwann überflügeln zu trachten angespornt.

  • virOblationis:

    @ Magnus Göller
    „‚Hauptsätze! Hauptsätze! Hauptsätze!‘ – wie als ob er Feldwebel spielen wolle, und antwortete mir, als ich persönlich die Gelegenheit hatte, ihn darauf anzusprechen, das stamme doch von Tucholsky.“
    Von Tucholsky wohl, doch bezog er sich damit auf den mündlichen Vortrag, nicht den schriftlichen!

  • Georg Mogel:

    „…Natürlich verschärft die ungebremste Zuwanderung kulturfremder und nicht assimilierbarer Scharen die Problematik. Doch selbst wenn sie nicht stattfände, wäre die Lage hinsichtlich Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen keine grundlegend andere.“

    An der Richtigkeit Ihrer Feststellung („grundlegend“) darf man aus vielen guten Gründen zweifeln.
    Die Tatsache, daß das (homogene) deutsche Volk nach 1918 und mehr noch nach 1945, willens und tatkräftig genug war, zumindest materiell wieder auf die Beine zu kommen, veranlaßt mich, nicht alle Hoffnung fahren zu lassen. Allerdings wurden die exogenen (und auch endogenen) Anstrengungen nach den 1970 er Jahren das Volk in eine „Bevölkerung“ zu transformieren noch einmal gewaltig gesteigert. Mit einem nicht enden wollenden Propagandakrieg wird versucht, dem deutschen Volk mit seiner Geschichte auch seine Seele zu nehmen. Das Selbstverständnis der Deutschen, das vom inneren Feindbild des Nationalsozialismus geschwächte Selbstbewußtsein, das sich vom sorgsam gepflegten Trauma nicht erholen will, droht in der Europäisierung, der Amerikanisierung und jetzt Globalisierung aller Lebensbereiche, zu zerfließen.
    Wir sind, was wir geworden sind, das Ergebnis einer langen Geschichte, deren Elemente nicht abgestorben hinter uns liegen, sondern in uns leben und wirken, auch soweit sie schlummern. In der Geschichte ist nichts unwiderruflich vorbei, nichts definitiv überwunden, nichts endgültig erreicht, wie Alexander Demandt in seinem Buch „Über die Deutschen“ schreibt.

  • virOblationis:

    @ Georg Mogel
    Ich erkenne gar nicht, inwiefern Ihr Beitrag meiner Feststellung „hinsichtlich [mangelnder] Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen“ in Folge der Zerrüttung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen widerspräche.
    Der von Ihnen so genannte „Propagandakrieg“ wäre auch ohne Zuwanderung denkbar, und insofern meine ich, daß „die Lage…keine grundsätzlich andere“ wäre, da die Umerziehung zur Moderne die Herausbildung der Persönlichkeit samt deren leiblicher Integrität (mens sana in corpore sano) in jedem Falle beschädigt.
    Auch ich bin keineswegs ohne Hoffnug. Wenn eine Rückbesinnung auf die Überlieferung stattfindet (vgl. den ersten Beitrag Magnus Göllers), ohne daß man versucht, Vergangenes einfach wiederherzustellen, dann wird auch eine Revitalisierung bei den einzelnen zu bemerken sein.
    Ich wollte mich lediglich gegen die Auffassung aussprechen, in der isoliert betrachteten Zuwanderung sei die Ursache allen Übels zu finden.

  • Magnus Göller:

    @ Georg Mogel & virOblationis

    Wenn man betrachtet, wie weitverbreitet Entwurzelung und Isolation unter Jugendlichen auch in Ländern ist, die weder zwei Weltkriege verloren haben noch unter massiver kulturfremder Zuwanderung zu leiden, die grundsätzlich auf ein ungebrochenes nationales Selbstbewusstsein blicken dürfen, muss man doch die globalistische, allkapitalistische technotronische Moderne ganz wesentlich zur Erklärung heranziehen.
    I-pods und Smartphones und Computerspiele machen den Nachwuchs überall, wo verfügbar, mehr oder weniger gleich süchtig und ihrer jeweiligen Kulturtradition, Sprache sowie der herkömmlichen menschlichen Sozialisierung abständig. „Die Jugend“ kann wenig bis nichts dafür. Die Verantwortung liegt vielmehr bei den Dreißig- bis Sechzigjährigen, die auch alle mit Handys herumrennen, stundenlange Preisvergleiche bis auf den letzten schlappen Euro im Netz vornehmen, Billigheimer nach Bangkok fliegen und sich dessen brüsten, sich lieber neue Treter bei Deichmann kaufen, anstatt noch ihre Schuhe zu putzen, Pizza kommen lassen, statt anständig zu kochen, Anne Will und Günther Jauch glotzen, eher über die Wahrscheinlichkeit eines Anstieges des Goldpreises diskutieren, als auch nur irgendetwas Kulturstiftendes oder -erhaltendes zu unternehmen oder zu unterstützen. Und zumal sich dahingehend zu verwagen, klare Worte gegen den ganzen Neusprechkleister zu führen. Immerzu und ungefragt. Steter Tropfen höhlt sogar Kleister.

  • Georg Mogel:

    @ virOblationis
    „…Ich wollte mich lediglich gegen die Auffassung aussprechen, in der isoliert betrachteten Zuwanderung sei die Ursache allen Übels zu finden.“

    Wie so oft, macht auch hier die Dosis das Gift. Anzahl und Art der „Migranten“ bringt einem bereits pathologisch verunsicherten Volk in der Summation das Unheil. An dieser so einfachen wie verhängnisvollen Erkenntnis bessert sich kein Deut durch allseits vorgebetete und kanonisierte Bonhomie-Poetik. Bei vielen der „Mainstream“-Vorbeter geht das Motiv jedoch erheblich über die gewöhnliche Weltrettungsdummheit hinaus und läßt sich in krankhaftem Selbsthaß finden. Der häufig feststellbare „Verlust der Mitte“ ist immer noch ein kennzeichnender Wesenszug auch der heutigen, postheroischen Deutschen.

    „…Auch hier beginnt, wie jedesmal, die Revolution von oben, um dann Revolten von unten Platz zu machen. »Allgemeine« Rechte wurden von jeher denen gegeben, die gar nicht daran gedacht hatten sie zu verlangen. Aber die Gesellschaft beruht auf der Ungleichheit der Menschen. Das ist eine naturhafte Tatsache. Es gibt starke, schwache, zur Führung berufene und ungeeignete, schöpferische und unbegabte, ehrenhafte, faule, ehrgeizige und stille Naturen. Jede hat ihren Platz in der Ordnung des Ganzen. Je bedeutender eine Kultur ist, je mehr sie der Gestaltung eines edlen tierischen oder pflanzlichen Leibes gleicht, desto größer sind die Unterschiede der aufbauenden Elemente, die Unterschiede, nicht die Gegensätze, denn diese werden erst verstandesmäßig hineingetragen. Kein tüchtiger Knecht denkt daran, den Bauern als seinesgleichen zu betrachten, und jeder Vorarbeiter, der etwas leistet, verbittet sich den Ton der Gleichheit von seiten ungelernter Arbeiter. Das ist das natürliche Empfinden menschlicher Verhältnisse. »Gleiche Rechte« sind wider die Natur, sind die Zeichen der Entartung altgewordener Gesellschaften, sind der Beginn ihres unaufhaltsamen Zerfalls. Es ist intellektuelle Dummheit, den durch Jahrhunderte herangewachsenen und durch Tradition gefestigten Bau der Gesellschaft durch etwas anderes ersetzen zu wollen. Man ersetzt das Leben nicht durch etwas anderes. Auf das Leben folgt nur der Tod.

    Und so ist es im tiefsten Grunde auch gemeint. Man will nicht verändern und verbessern, sondern zerstören. Aus jeder Gesellschaft sinken beständig entartete Elemente nach unten, verbrauchte Familien, heruntergekommene Glieder hochgezüchteter Geschlechter, Mißratene und Minderwertige an Seele und Leib – man sehe sich nur einmal die Gestalten in diesen Versammlungen, Kneipen, Umzügen und Krawallen an; irgendwie sind sie alle Mißgeburten, Leute, die statt tüchtiger Rasse im Leib nur noch Rechthabereien und Rache für ihr verfehltes Leben im Kopfe haben, und an denen der Mund der wichtigste Körperteil ist. Es ist die Hefe der großen Städte, der eigentliche Pöbel, die Unterwelt in jedem Sinne, die sich überall im bewußten Gegensatz zur großen und vornehmen Welt bildet und im Haß gegen sie vereinigt: politische und literarische Boheme, verkommener Adel wie Catilina und Philipp Egalite, der Herzog von Orleans, gescheiterte Akademiker, Abenteurer und Spekulanten, Verbrecher und Dirnen, Tagediebe, Schwachsinnige, untermischt mit ein paar traurigen Schwärmern für irgendwelche abstrakten Ideale. Ein verschwommenes Rachegefühl für irgendein Pech, das ihnen das Leben verdarb, die Abwesenheit aller Instinkte für Ehre und Pflicht und ein hemmungsloser Durst nach Geld ohne Arbeit und Rechten ohne Pflichten führen sie zusammen. Aus diesem Dunstkreis gehen die Tageshelden aller Pöbelbewegungen und radikalen Parteien hervor. Hier erhält das Wort Freiheit den blutigen Sinn sinkender Zeiten. Die Freiheit von allen Bindungen der Kultur ist gemeint, von jeder Art von Sitte und Form, von allen Menschen, deren Lebenshaltung sie in dumpfer Wut als überlegen empfinden. Stolz und still getragene Armut, schweigende Pflichterfüllung, Entsagung im Dienst einer Aufgabe oder Überzeugung, Größe im Tragen eines Schicksals, Treue, Ehre, Verantwortung, Leistung, alles das ist ein steter Vorwurf für die »Erniedrigten und Beleidigten« „.

    Oswald Spengler,
    „Jahre der Entscheidung“

  • virOblationis:

    @ Georg Mogel

    Ja, und das (1933) so lange vor Beginn globaler Zuwanderung.
    O. Spengler, ebd.: „Eine lebendige Gesellschaft erneuert sich unaufhörlich durch wertvolles Blut, das von unten, von außen einströmt. Es beweist die innere Kraft der lebendigen Form, wieviel sie aufnehmen, verfeinern und angleichen kann, ohne unsicher zu werden.“ [ – Eine lebendige Gesellschaft besitzt natürlich auch die Kraft, sich nach außen abzugrenzen, vO.]

    In bezug auf Deutschland heißt es unmittelbar zuvor:
    „Noch nach 1870 wuchs das neue deutsche Bürgertum in die strenge Lebensauffassung des preußischen Offizier- und Beamtenstandes hinein. Aber das ist die Voraussetzung gesellschaftlichen Daseins: was durch Fähigkeiten und durch innere Kraft in höhere Schichten aufsteigt, muß durch die Strenge der Form und die Unbedingtheit der Sitte erzogen und geadelt werden, um in den Söhnen und Enkeln diese Form nunmehr selbst zu repräsentieren und weiterzugeben.“

    Noch weiter oben:
    „Diese [heutige] Revolution von der Dauer mehr als eines Jahrhunderts hat im tiefsten Grunde mit ‚Wirtschaft‘ überhaupt nichts zu tun. Sie ist eine lange Zeit der Zersetzung des gesamten Lebens einer Kultur, die Kultur selbst als lebendiger Leib begriffen. Die innere Form des Lebens zerfällt…“

  • Georg Mogel:

    @ virOblationis:
    Oswald Spengler, hellsichtiger Denker, eingeordnet bei den „Weltanschauungsphilosophen“, veröffentlichte 1927 den Aufsatz „Vom deutschen Volkscharakter“:

    „…Es gibt Völker, deren Charakter einfach ist wie ein Flintenlauf; und andere, die nicht einmal sich selbst begreifen, geschweige denn daß jemand anders sie verstünde. Ein Engländer gibt niemandem Rätsel auf. Die englische Geschichte geht ihren geraden Weg, sehr blutig, aber ohne Knick, ohne Schwanken, ohne Überraschungen. Der Engländer hat keine Probleme in sich. Sie liegen alle auf der Landkarte. Um so rätselhafter sind die Deutschen. Sie haben von jeher ihre Zeit verbracht, um darüber nachzudenken, jeder über sich und viele über die andern. Haben sie etwas gefunden? Man hat behauptet, daß das deutsche Volk überhaupt keinen Charakter habe. Das ist vielleicht richtig. Es hat nicht einen, sondern viele, so viele als es Köpfe hat, vielleicht mehr. Alle andern spiegeln sich darin. Es gibt antike, indische, englische, spanische, altnordische Naturen unter uns – und immer wieder die Sehnsucht nach einer wahren Heimat in irgendeiner Ferne. Warum, zeigt ein Blick auf die Geschichte. Alle anderen Völker haben eine, als Weg von einem Anfang zu einem Ende. Unsere Geschichte ist dem Sinne nach etwas anderes: der immer wiederholte Versuch, einen Anfang zu finden. Das englische Schicksal beginnt klar und folgenschwer mit den Normannen, das französische mit den Franken, das spanische mit den Westgoten; das deutsche beginnt unsicher mit der Vereinigung von Sachsen, Schwaben, Bayern, Franken, Thüringern unter einer mystischen Krone. Und wie die Landkarte von 1400 oder 1700, so ist das deutsche »Gesicht«.

    Also zuviel Charakter? Ja – auch das. Wir sind charakteristisch bis zur Tollheit, in den höheren Geistesschichten eine Sammlung von Originalen. Was für Denksysteme, was für Weltanschauungen, was für politische Ideen! Jeder schreibt sein eigenes Deutsch, jeder trägt sich anders, jeder glaubt anders, jeder will anders. Aber ist das unser Wesen oder eine Rolle, die wir in Erwartung der wahren vor uns selbst spielen? Das deutsche Volk hat eine Seele voll von überraschenden und bestürzenden Möglichkeiten des Übertreffens oder Versagens. Niemand, der sie gut zu kennen glaubte, hat je richtig gerechnet. Daher das Mißtrauen gegen uns von außen und das stärkere unter uns gegeneinander. Wir sind unbequem in einer Welt, wo einer des anderen sicher sein möchte. Uralte Charakterzüge aus dunkler Vorzeit, welche die anderen im Laufe ihrer Geschichte abgeschliffen und verbraucht haben, sind in uns aus Mangel an Geschichte noch lebendig. Da sind Reste altnordischer Instinkte wie aus den isländischen Sagas: das ungesellige Leben, Verschlossenheit, Alleinseinwollen, Eigensinn, Trotz; mehr Querköpfe als Langköpfe. Hätten wir, als Volk, bei größerem Glück in politischen Dingen, wirklich die vornehme Gesellschaft des 18. Jahrhunderts aus uns heraus schaffen können? Die Form als Aufgabe, als hohe Pflicht, als Reiz widerspricht unserem Wesen. Wir sind formlos mit Betonung. Wir lassen uns gehen: lyrisch, geistig, sozial, vor uns und vor andern. Am wenigsten noch in der Musik; aber wir haben uns in den Versformen aller Völker und Zeiten versucht und die ungebundenste Phantasie ist unser eigentliches Reich. Kein Volk hätte der Erziehung großen Stils durch eine vornehme Gesellschaft mehr bedurft. Aber dann der Ernst, die Zähigkeit, das stille, geduldige Haften an der einmal übernommenen Pflicht, in allem, was wir unserem Mangel an Selbstvertrauen abgerungen haben. Niemand macht uns unsere Arbeit nach, vor allem die der wirtschaftlichen und technischen Führer. Künftige Geschlechter werden den Wiederaufbau binnen vier Jahren nach einer solchen Katastrophe ungläubig bestaunen.

    Und dann das Entscheidende: unser unbegrenztes Bedürfnis, zu dienen, zu folgen, irgend jemand oder irgend etwas zu verehren, treu wie ein Hund, blind daran zu glauben, allen Einwänden zum Trotz. Auch das ist ein aufgesparter Zug von Urzeiten her, der heutigen Dingen gegenüber groß oder zum Verzweifeln komisch sein kann, aber er beherrscht die Geschichte unserer Fürsten, Kirchen und Parteien. Keine »Sache«, kein Führer, auch nicht die Karikatur davon, ist in einem anderen Lande der unbedingten Gefolgschaft so sicher: ein geheimer Schatz von ungeheurer Macht für den, der ihn zu benützen weiß. Wir haben geschichtlich zu wenig erlebt, um hier Skeptiker zu sein. Jeder Bauer vom Balkan, jeder Träger in einem amerikanischen Hafen kommt schneller hinter die Geheimnisse der Politik. Kinder, mag sein. Von großen Kindern dieses Schlages ist mehr als einmal die Geschichte aus ihrer Bahn gebracht worden.

    Aber doch auch wieder das andere, die Trägheit des Blutes, das Gemüt, der Mangel an eigenem Entschluß. »Ein Deutscher ist großer Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, daß er sie tat«, hat Nietzsche gesagt. Schwer in Bewegung zu setzen, wenig auf uns selbst vertrauend, allem eigenen Pathos abgeneigt, sind wir sicherlich am weitesten von der politischen Theatralik Südeuropas entfernt, die sich auch mit einem Mißerfolg noch in Szene zu setzen versteht. Alles in allem: Es gibt heute kein zweites Volk, das des Führers so bedürftig ist, um etwas zu sein, um auch nur an sich glauben zu können, aber auch keines, das einem großen Führer so viel sein kann. In der richtigen Hand werden fast alle seine Fehler zu Vorzügen. Was dann in Bewegung kommen könnte, tritt aus dem Rahmen gewohnter politischer Berechnung weit heraus…“

    Wo irrte er?

  • Magnus Göller:

    @ Georg Mogel

    „Wo irrte er?“ (Oswald Spengler)

    „Kein Volk hätte der Erziehung großen Stils durch eine vornehme Gesellschaft mehr bedurft.“

    Da irrte er.

    Ich will das jetzt nicht erklären, sondern Ihnen mal zum Bedenk anheimstellen.

    Ich will bezüglich Ihrer Vorgehensweise hier auch kritisch anmerken, dass Kommentare, die fast nur aus ellenlangen Zitaten verstorbener Denker bestehen, und seien jene auch noch so bedeutend und scharfsinnig gewesen, den zielführenden Diskurs nicht unbedingt befördern.

    Die Frage, was jetzt entstanden und hiemit zu tun sei, rückt meines Erachtens so allzusehr in den Hintergrund.

    Ich begrüßte es daher sehr, wenn Sie sich auch dieser, soweit möglich in eigenen Worten, zuwendeten.

  • Georg Mogel:

    @ Magnus Göller:

    Lieber Herr Magnus Göller !
    Das zur Kommentierung anstehende Thema der Entwurzelung des heutigen Menschen gehört
    – wie alle Fragen der Lebensbewältigung und der Philosophie – zu den immerwährenden
    Fragen des Menschen. Durch die Zeitläufte mögen sie sich aktuell akzentuiert
    darstellen, die Grundprobleme allerdings bleiben stets die gleichen. Dies gilt
    für den einzelnen Menschen, für Gesellschaften und ganze Völker. Deshalb haben sich kluge Köpfe immer wieder die Fragen gestellt, die alle Menschen zu allen Zeiten
    umtreiben. Und sie haben Antworten gefunden, die auch für uns heutige Zeitgenossen
    erhellend sein können. Das Wissen um die Antworten unserer Vor-Denker, auf deren Schultern wir alle stehen, erwirbt man durch die Kulturtechnik des Lesens.
    Die gescheiten Gedanken sind alle bereits gedacht, man muß sie nur noch einmal denken, wie Goethe meinte.
    Sie Herr Magnus Göller haben an dieser Stelle am 3. Februar kritisch angemerkt,
    daß viele Kinder und Jugendliche „immer weniger längere, zusammenhängende Texte
    lesen“. Weshalb rügen Sie nun, daß ich „ellenlange Zitate verstorbener Denker“
    anführe, was nach Ihrer Meinung „den zielführenden Diskurs nicht unbedingt
    befördern“ würde? Der Sinn Ihres kritischen Kommentars vom 8 Februar/ 2.44 h bleibt mir leider verborgen. Lesen Sie nicht gern? Als Vater von zwei Söhnen im Alter von 11 und 13 Jahren, wie Sie berichteten, werden Sie künftig viele Fragen gestellt bekommen, so daß Ihr Wissensfundus gar nicht groß genug sein kann.

    Die von mir oft angeführten Zitate haben jeweils unmittelbaren Bezug zur vorgegebenen Thematik. Mit „eigenen Worten“, wie Sie empfehlen, vermag ich die Gedanken meist nicht treffender zu formulieren. Sie Herr Göller vermutlich auch nicht, wenn ich Ihre bisherigen Kommentare durchsehe.
    Belesenheit schützt allemal vor (vermeintlicher) Neu-Entdeckung, erweitert unseren Horizont und unsere Urteilsfähigkeit und sie hilft nicht zuletzt die vielen Internet-Dampfplauderer richtig einzuordnen.

  • @ Georg Mogel

    Lieber Herr Mogel!

    Sie kontern gut, und ich habe auch nichts anderes erwartet.

    Es ging mir schlicht darum, dass ich zu wenig Bezugnahme auf die aktuelle Situation sah. Und, dass ich der Meinung bin, dass wir, in einem Forum dieses Niveaus, diese auch herstellen sollten: was Zitate unserer Altvorderen natürlich keineswegs ausschließt.

    Leisten wir nicht auch genuin Eigenes, so werden wir – zumindest besteht die Gefahr dahingehend – leicht zu hohlen Sprechpuppen. Wenigstens in der Wahrnehmung anderer. (Damit will ich Sie jetzt nicht benannt haben.)

    Schließlich sind wir hier bestrebt, u. a. gerade gegenüber jenen von Ihnen erwähnten Internet-Dampfplauderern, einen Kontrapunkt zu setzen. Dafür reichen Zitate meines Erachtens nicht. Vielmehr sollten gerade Leute, die unser Treiben kritisch betrachten, alsbald gewahren, dass hier weitergedacht wird, Neues wächst.

    Es gibt wenige Plattformen, wo man so etwas vorfindet. Diejenigen von Manfred gehören dazu. Daher meine ich, dass wir in diesem Sinne zielführend mitwirken sollten. Eben auch in einer offenen Streitkultur, offener, gleichzeitig anständiger, als sie anderwärtig zu finden.

    Dabei geht es dann keineswegs darum, dass Sie oder ich uns anmaßten, grundsätzlich über Spengler oder gar Nietzsche hinauszuragen, sondern wenigstens zu übersetzen, auch zu zeigen, dass das Denken mit jenem solcher Geistesgrößen nicht endet.

    Das Maß heutiger Entwurzelung – um zum Kern zurückzukommen – möchten jene erahnt haben; unsere heutige Realität aber haben wir an- und aufzunehmen und zu betreuen. In diesem Sinne war meine Kritik gemeint.

    Ich mag Ihnen auch ein Stück weit Unrechts getan haben, da wir hier ja nicht im Lieschen-Chat uns befinden; gleichwohl: Jede Generation hat ihre Aufgabe; und die ist nicht durch Verweise selbst auf die Besten erledigt.

    Lassen Sie uns desbezüglich eine Friedenspfeife rauchen und jeweils noch einmal darüber nachdenken, wie wir das Sinnvolle richtig ansetzen.

  • Einfach gesagt: Ich glaube nicht an die Macht der Entwurzelung. Gott ist stärker. 🙂

    Templarii – recognoscere.wordpress.com

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