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Entwurzelung II – Gruppe als Ersatz für Verlorenes

Im vorigen Beitrag über „Entwurzelung“ habe ich diese als Folge des Projektes der Moderne bezeichnet, da kein Zeitalter zuvor so konsequent alle überlieferten Lebensformen zu vernichten trachtete. Natürlich gab es auch schon vormoderne Utopien erträumten Zusammenlebens, und die Entwicklung des christlichen Mönchstums mag so etwas verwirklicht haben. Doch dies trat zu den traditionellen Lebensweisen hinzu, es setzte sich nicht an deren Stelle.

Wie anders die modernen Bestrebungen, die die gezielte Vernichtung überkommener Lebensweisen zur Befreiung des Menschen nötig zu haben meinen. – Zu den bestimmenden geistigen Mächten der Moderne rechne ich nicht allein Liberalismus und Sozialismus, sondern auch den Nationalismus. In bezug auf das Thema moderne Entwurzelung ist zu bemerken, daß der Nationalismus dem einzelnen das eigene Volk zur Bestimmung seiner Identität allen übrigen traditionellen Bindungen – wie Stand, Alter, Geschlecht, familiäre Zugehörigkeit, regionale Herkunft – zumindest zur Seite stellt, doch im Extremfall soll sie diese verdrängen (s. die Rede vom 2.12.1938), und mir scheint, daß der Extremfall nicht über das Ziel hinausschießt, sondern nur konsequent ist.

Ich will an dieser Stelle nur kurz darauf hinweisen, daß auch innerhalb der Globalisierung im Zeichen des Liberalismus, innerhalb derer auch die sozialistische Fraktion gewisse Mitwirkungsrechte genießt, nicht zuletzt als Knüppelgarde zur Niederhaltung konservativer Opposition, der Nationalismus keineswegs einfach erledigt ist: Er wirkt ebenfalls mit, allerdings allein in der Form des us-amerikanischen Nationalismus – vom Sonderfall Israel sehe ich hier ab – der z.B. den Anspruch erhebt, auf Cyberattacken mit Krieg zu reagieren, ohne auch nur im Traum daran zu denken, anderen Nationen dasselbe zuzugestehen. Derselbe Nationalismus weigert sich, die eigene Nation z.B. dem Internationalen Strafgerichtshof zu unterstellen, sondern läßt solche internationale Institutionen gewähren, damit mit anderen Nationen im us-amerikanischen Interesse verfahren wird. (Ob manche „Pro-Amerikaner“ den us-amerikanischen Nationalismus als Ersatz eines eigenen verstehen, ohne zu bedenken, daß der eine den anderen ausschließt?)

Zurück zum Thema Entwurzelung: Auch die Strömungen, die ich zum Projekt der Moderne rechne, versuchen den negativen Folgen dessen, was sie betreiben, entgegenzuwirken und bieten Ersatzinstitutionen. Der Nationalismus bietet z.B. Jugendorganisationen an, der real existierende Sozialismus Hausgemeinschaften und Arbeitskollektive und der Liberalismus – die Gruppe.

Es wird kein Zufall sein, daß die „Gruppe“ als Ersatzheimat erstmals in der Krankenpflege auftauchte, und zwar in den USA, wo der Liberalismus weniger Überlieferung zu beseitigen hatte als in Europa. Ein Vorläufer war die „class method“ Joseph Pratts, eines Internisten, der nicht mehr einzelne TBC-Patienten über Hygienemaßnahmen aufklärte, sondern – inspiriert von methodostischer Sonntagsschulunterweisung – gruppenweise (1905), wobei auch Familienangehörige einbezogen wurden, um die Überwachung (Supervision) der zu Hause behandelten Patienten effektiver zu machen.

1921 übertrug Henry Martin Lazell Pratts Modell auf psychisch geschädigte Kriegsheimkehrer. Eine Gruppe von vergleichbar Betroffenen wurde gemeinsam behandelt. Zu derselben Zeit begann der Psychiater und Psychoanalytiker Trigant Burrow psychoananlytische Methoden in Gruppen statt an einzelnen Patienten zu erproben, um als Analytiker mehr in den Hintergrund zu treten: Die Gruppe als eigentlicher Therapeut erscheint am Horizont. Der in die USA ausgewanderte Arzt Jakob Moreno prägte den Begriff „group therapy“. Er benutzte die wesentlich ältere Methode des Psychodramas und verband sie mit seiner Gruppentherapie: Man begann nun, psychodramatisch sich selbst innerhalb der Gruppe darzustellen, um mit Hilfe der Gruppe therapiert zu werden.  Im Jahre 1937 etablierten sich die  „Alcoholics Anonymous“ im Staate New York, eine erste Selbsthilfegruppe ohne Leitung.

Ein Beispiel aus der Gegenwart, „Pflege-Wohngemeinschaften“ statt Heim: Natürlich, die Heimunterbringung war auch bereits Ersatz für das Leben innerhalb der Familie, und der Heimaufenthalt spiegelt das Leben des einzelnen innerhalb einer Gesellschaft von Individuen gewissermaßen wider, da der Patient im Heim einer unter Gleichen ist, mit ihnen durch nichts verbunden, als durch dieselbe Lebenslage; dabei stünde das Pflegepersonal gewissermaßen an der Stelle der politischen Klasse innerhalb der Gesellschaft.

Das Modell der Gruppe wurde auch auf nicht-medizinisches Gebiet übertragen, wo sich die Entwurzelung und Vereinzelung ebenfalls negativ bemerkbar machte. So wurde im englischen Kohlebergbau der Tavistockansatz benutzt, um mittels der Arbeitnehmer als einer Gruppe den Einsatz der Technik zu verbessern, ohne die Arbeitsteilung weiter voranzutreiben (1949). Das Modell der Gruppe ist auch nicht ohne Belang für den seit Jahrzehnten beschworenen „Dialog„, dessen Teilnehmer vergleichbar denen einer (therapeutischen) Gruppe verstanden werden.

Endlich sollte die Gruppe seit den sechziger Jahren dazu verhelfen, den „neuen Menschen“ hervorzubringen. Um überliefertes Verhalten loszuwerden, wurde Privates für unzulässig erklärt, das Individuum hatte sich nicht vor Gott und dem eigenen Gewissen zu verantworten, sondern vor der Gruppe; die ausgehängte Klotür stand symbolisch für die Besetzung des Privaten durch die Öffentlichkeit. Es sollte das entindividualisierte Individuum entstehen, das beliebig ersetzbare Glied einer modernen Gesellschaft.

 

3 Kommentare zu „Entwurzelung II – Gruppe als Ersatz für Verlorenes“

  • Eisern Nordrhein:

    Wenn man ihren Gedanken konsequent weiterdenkt, landet man in einer egoistischen Gesellschaft. Die Gruppe an sich zu verteufeln halte ich für falsch; sie kann auch immer die Stärken Einzelner kombinieren und damit den Gesamtwert einer Aktion deutlich steigern. Die Gesellschaft ist ja automatisch eine Form der Gruppe. Solidarität in Notzeiten hat nichts mit Entwurzelung zu tun.
    Auch halte ich es für fragwürdig, dem Nationalismus eine Ablehnung von Alter, Geschlecht, familiärer Zugehörigkeit und regionaler Herkunft zu unterstellen, das ist mir zu allgemein, auch wenn es im Fall des 3. Reiches teilweise zutraf. An einem Wort störe ich mich jedoch gänzlich: dem Stand eines Individuums. Alle Deutschen sollten, ob adelig oder nicht, von Geburt für ihre Leistung denselben Lohn kassieren. Ich halte den Adel für eine negative Errungenschaft, die zu Recht de iure abgeschafft wurde. Meine Vorfahren mussten für den Wohlstand einiger Weniger hart arbeiten, während diese sich auf ,,unseren“ Kosten ein wesentlich angenehmeres Leben leisten konnten, ohne jemals etwas dafür geleistet zu haben.
    Insgesamt eine sehr interessante Seite hier, werde wohl öfter mal vorbeischauen!

  • virOblationis:

    @ Eisern Nordrhein

    1) Das Wort „Stand“ benutze ich lediglich um die (nicht unbedingt erbliche) Zugehörigkeit zu einem der seit der Bronzezeit herausgebildeten Hauptgruppen jeder Gesellschaft zu bezeichnen. s. Dritter und vierter Stand
    2) Ein Leben als isoliertes Individuum einer liberalen Gesellschaft wird allzu leicht egoistische Züge aufweisen, aber inwiefern ein Leben in traditionellen Bindungen?
    3) Ich will nicht jede Gruppe kritisieren, nur die moderne, insofern sie als Ersatz für bewußt zerstörte soziale Bindungen angepriesen wird.

  • Die „Gruppe“ als ein modernistisches Phänomen, wie hier herausgearbeitet, ist, wie mir anhand des obigen umso klarer wurde, ein indirektes Mittel zur gesellschaftlichen Atomisierung.
    Schauen wir uns nur mal die beschriebenen Theapieformen an: Sobald der Alkoholiker, der Kriegstraumatisierte, Fettleibige usw. sein Problem überwunden hat, wird er die Gruppe mit einiger Wahrscheinlichkeit verlassen wollen und dies auch tun. Genau so, wie das für die Gruppe „wir alleinerziehenden Hartzis“, „wir Arbeiter“, „wir ausgenützten Praktikanten“ gelten dürfte. Das heißt, hier besteht eben ein wesentlicher Unterschied: Nur weil Bruder Ludwig plötzlich geschäftlichen Erfolg hat, Schwester Anna aber immer noch nicht den richtigen Mann gefunden und immer noch als Kassiererin arbeitet, fällt ersterer deshalb – selbst heute noch keineswegs unbedingt, kommt „natürlich“, leider zunehmend, vor – aus der Gemeinschaft der Familie, der Glaubensgemeinschaft, jener der Veteranen, der Sportkameraden, der Patrioten, eben Bindungen, die über das momentan Situativ-Nützliche, Bedingte, hinausgehen, einfach so „nach oben“ heraus. Und Anna auch nicht „nach unten“.
    „Solidarität“, ein Begriff, den man entlang solcher Erwägungen durchaus als konservativ begreifen darf, denn er kann auch mit „Treue“ ins Deutsche übertragen werden, findet eben gerade aufgrund echter Verwurzelung, auch in Notzeiten, so eine zwischenmenschliche, nichtstaatliche Grundlage. Und auch das Private wird, so unglaublich das zunächst scheinen mag, auf dieser eher geachtet, denn im ephemeren Gruppenwohlfühlprogramm. Viel Stoff zum Nachdenken.

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