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Novalis, Die Christenheit oder Europa

Novalis, Die Christenheit oder Europa (1799; erschienen in Auszügen 1802, vollständig 1826)

Zusammenfassung durch Zitatauswahl mit sinngemäßen Ergänzungen

Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reiches. … Einmal war doch das Christentum mit voller Macht und Herrlichkeit erschienen, bis zu einer neuen Weltinspiration herrschte [im Spätmittelalter] seine Ruine, sein Buchstabe mit zunehmender Ohnmacht und Verspottung. [Dann kam die Reformation sowie die kath. Erneuerung (Jesuiten(1)). Niedergang durch Schriftprinzip (sola scriptura) und fürstliches Kirchenregiment. Trennung von Wissen und Glauben erfolgte, Philosophie und Religion gerieten in einen Gegensatz zueinander:] Aufklärung. …man suchte der alten Religion einen neuern, vernünftigen, gemeinern Sinn zu geben, indem man alles Wunderbare und Geheimnisvolle sorgfältig von ihr abwusch; …

Daß [nun aber] die Zeit der Auferstehung [der Religion] gekommen ist, …dieses kann einem historischen Gemüte gar nicht zweifelhaft bleiben. … Ruhig und unbefangen betrachte der echte Beobachter die neuen staatsumwälzenden Zeiten. Kommt ihm der Staatsumwälzer [französische Revolution] nicht wie ein Sisyphus vor? Jetzt hat er die Spitze des Gleichgewichts erreicht und schon rollt die mächtige Last auf der andern Seite wieder herunter. Sie wird nie oben bleiben, wenn nicht eine Anziehung gegen den Himmel sie auf der Höhe schwebend erhält. … An die Geschichte verweise ich euch…lernt den Zauberstab der Analogie gebrauchen. …

Als fremde unscheinbare Waise muß sie (sc. die Religion) erst die Herzen wiedergewinnen und schon überall beliebt sein, ehe sie wieder öffentlich angebetet und in weltliche Dinge zur freundschaftlichen Beratung…gemischt wird. …

In Wissenschaften und Künsten wird man eine gewaltige Gärung gewahr. Unendlich viel Geist wird entwickelt. …die Schriftsteller werden eigentümlich und gewaltiger, jedes alte Denkmal der Geschicht, jede Kunst, jede Wissenschaft findet Freunde und wird mit neuer Liebe umarmt und fruchtbar gemacht. …

Erst durch genauere Kenntnis der Religion wird man jene fürchterlichen Erzeugnisse eines Religionsschlafes [während der Aufklärung]…besser beurteilen… Wo keine Götter sind, walten Gespenster…

Wie wenn…eine nähere und mannigfaltigere Konnexion und Berührung der europäischen Staaten zunächst der historische Zweck des [2. Koalitions-]Krieges [gegen Frankreich, 1798 – 1802,] wäre, wenn…Europa wieder erwachen wollte, wenn ein Staat der Staaten…uns bevorstände! … Nur die Religion kann Europa wieder auferwecken und die Völker sichern und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes, friedenstiftendes Amt installieren. …

Das Christentum ist dreifacher Gestalt. Eine ist das Zeugungselement der Religion als Freude an aller Religion. Eine das Mittlertum überhaupt als Glaube an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein und Brot des ewigen Lebens zu sein. Eine der Glaube an Christus, seine Mutter und die Heiligen. … das alte Papsttum liegt [scheinbar(2)] im Grabe… Soll der Protestantismus nicht endlich aufhören und einer neuen dauerhaften Kirche Platz machen? …das Wesen der Kirche wird echte Freiheit sein, und alle nötigen Reformen werden unter der Leitung derselben als friedliche und förmliche Staatsprozesse betrieben werden. …

Nur Geduld, sie wird, sie muß kommen, die heilige Zeit des ewigen Friedens, wo das neue Jerusalem die Hauptstadt der Welt sein wird; …

Anm.

(1) Nach Novalis war dem vorreformatorischen Priesterstand die Wissenschaft gänzlich verloren gegangen, und die Zusammenführung von Glauben und Wissen wurde (nach dem verfehlten Unternehmen der Reformation) erst wieder durch die kath. Erneuerung, d.h. die Gesellschaft Jesu, zustande gebracht, deren Orden im 18. Jh aber auch wieder einen Niedergang zu verzeichnen hatte. Ein neuer religiöser Aufbruch soll mit dem Ende der Aufklärung erfolgen.

(2) Novalis urteilt hier (1799) nach dem Augenschein und ohne Rücksicht auf die Verheißung (Matth. 16, 18): Die Revolutionstruppen besetzten den Kirchenstaat und deportierten Pius VI. (1775 – 1799); der verstarb bald. Doch im Jahre 1800 gelang es unter dem Schutz Österreichs, einen neuen Papst zu wählen, der seine napoleonische Gefangenschaft überlebte, Pius VII. (1800 – 1823).

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