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„Vor Ihnen steht ein dankbarer Mann“

„Vor Ihnen steht ein dankbarer Mann, bewegt und voller Freude darüber, dass das [niederländische] Nationalkomitee [ihn] für den 4. und 5. Mai [als] den deutschen Bundespräsidenten eingeladen hat…“ – Bundespräsident Joachim Gauck ist es gelungen, die Befreiung vom Nationalsozialismus schon vor dem 8. Mai zu feiern, indem er drei Tage zuvor an der Siegesfeier in den Niederlanden teilnahm. – Daß in der DDR die Niederlage des Faschismus als Befreiung angesehen wurde, entsprach der dort gepflegten Ideologie, wonach der real existierende Sozialismus in Gestalt der Roten Armee der eigentliche Gegner und damit der eigentliche Sieger über den Faschismus war, sollte dieser doch nur eine Extremvariante des Kapitalismus darstellen; die Westalliierten waren demnach nicht mehr als Deutschlands im Grunde zu derselben Entartung des Faschismus fähige Konkurrenten. Jeder Sozialist stand aber auf der Seite der Befreier, der Menschheitsbeglücker, auch der deutsche.

Inwiefern vermag aber der Liberale unserer Tage die Kapitulation der deutschen Wehrmacht als Befreiung vom Nationalsozialismus zu begehen? Nun, Voraussetzung ist die Identifizierung alles damaligen Deutschen – ausgenommen einzelne Widerstandskämpfer – mit dem Nationalsozialismus, so daß sich eine Kapitulation der Wehrmacht ohne Abstriche mit einer Niederlage des Nationalsozialismus identifiziert läßt. Dazu darf der 2. WK natürlich auch durch nichts anderes verursacht sein als die nationalsozialistische Kriegslüsternheit: Die andern sind danach stets nur „Opfer der deutschen Großmachtpolitik und des deutschen Rassenwahns“ gewesen. Jeder Zusammenhang mit des 2. WK’s mit der deutschen oder der europäischen Geschichte muß ausgeblendet werden, denn sonst könnten zusätzliche, von der nationalsozialistischen Ideologie unabhängige Gründe auftauchen, wonach die deutsche Niederlage aber keine reine Befreiung vom Nationalsozialismus mehr wäre.

„Gerade weil wir Deutsche uns der Last und der Schuld der Geschichte gestellt haben, gilt für uns, gilt auch für mich: Wir feiern gemeinsam mit allen die Befreiung vom nationalsozialistischen Joch…“ Was ist das für eine „Last und…Schuld der Geschichte“? Ich verstehe wohl, daß sich einzelne Menschen schuldig machen – aber wie sollte ein anderer sich dem stellen? Sich einer Schuld stellen, sie bekennen, kann man doch wohl nur, wenn man sie selbst auf sich geladen hat. Frei wird man davon durch Abbüßen einer Strafe und ggf. Vergebung. – Offenbar spricht der Bundespräsident von deutscher Kollektivschuld; anders vermag ich seine Worte nicht zu verstehen. Die Vorstellung von einer solchen entspricht jedoch nicht biblischer Theologie – nein, auch nicht der Erbsündenlehre, denn dabei geht es um den Verlust von Gnaden, die sich das erste Menschenpaar durch eine Verfehlung zugezogen hatte, so daß sie die ihnen über die menschliche Natur hinaus geschenkten Gaben, die Möglichkeit eines vom Sündigen freien Lebens, verloren und daher nicht weitervererben konnten. „Erbsünde“ ist ein mißverständlicher Ausdruck; peccatum originale, Ursünde, trifft es besser.

Da der Bundespräsident von deutscher Schuld spricht, darf der Hinweis auf die mittlerweile meist Holocaust genannte Judenverfolgung und -vernichtung nicht fehlen: „Verbunden fühlen wir uns aber auch in der Trauer, wenn wir wie heute in Breda der mehr als 100.000 niederländischen Juden gedenken, die der Ausrottungspolitik Hitlerdeutschlands zum Opfer fielen.“Es folgen „Sinti und Roma“ sowie „Hunderttausende Niederländer, die zum Arbeitseinsatz nach Deutschland deportiert wurden“ sowie die „Bombardierung von Rotterdam“ etc. Frei von Schuld blieben außer den Alliierten, z. B. dem „polnischen General(s) Stanisław Maczek,“ nur die deutschen Widerstandskämpfer, die sich auf die Seite der Kriegsgegner stellten und trotzdem „keine Hoch- und Landesverräter [gewesen] sind“ und für die gilt, „dass Emigration nicht Feigheit ist und Fahnenflucht nicht unentschuldbar“ ist. Denn der Krieg wurde allein vom NS-Regime entfesselt, um Unheil über die Menschheit zu bringen; darum war die Sache seiner Gegner gerecht: Daran hatten die deutschen Widerstandskämper Anteil und wir heute brauchen nicht mehr nur die deutsche Schuld zu beklagen, sondern können an der Gerechtigkeit ebenso Anteil erlangen, wenn wir mit den Alliierten über deren Verluste trauern und ihre Siege feiern; vgl. Kreuz und Auferstehung: die Anrechnung einer fremden Gerechtigkeit in der reformatorischen Theologie Luthers und Melanchthons, Gerechtigkeit allein aus Glauben / Imputation (vermittelt durch eine vom Gefühl bestimmte Auffassung des Religiösen, s. Schleiermacher). [sozusagen: der deutsche Sünder und die alliierte Gerechtigkeit]

So weit nicht viel Neues in der Ansprache des Bundespräsidenten. – Doch dann noch ein Zusatz: Protestantismus und Aufklärung, ja die – am Beispiel der Niederlande verdeutlichte – Entstehung westeuropäischer Kultur bildet die Vorgeschichte der gerechten Sache der Alliierten. Schon im 16. Jahrhundert, Stichwort „Inquisition“, ein Sieg über finstere Mächte, deren Namen der Hörer in Gedanken hinzuzufügen hat: (Spanien bzw.) Habsburg und katholische Kirche. Im 19. Jahrhundert hat Deutschland 1848 – 1849 vergeblich versucht, das westliche Modell zu übernehmen. Im Grunde war das Ausbleiben der Übernahme des westlichen Modells notwendiger Grund für das Absinken in den Abgrund „der deutschen Großmachtpolitik und des deutschen Rassenwahns“. – In Gedanken zu ergänzen: Was der eigenen Kraftanstrengung versagt blieb, schenkten die Alliierten den Deutschen 1945/1990.

Inzwischen ist das westliche Modell zum Maßstab für Europa und die ganze Welt geworden: „Wir können stolz sein, dass sich die Bürger fast aller europäischen Staaten an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden und eine mögliche Verletzung ihrer individuellen Grund- und Menschenrechte überprüfen lassen können. Wir können stolz sein, dass Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Angriffskriege vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Anklage kommen können“ – soweit sie nicht von Bürgern der USA oder anderer Großmächte begangen wurden. Schade, sonst hätte man vielleicht auch einmal Repräsentanten des westlichen Systems, soweit Angriffskriege davon ausgingen, dort aburteilen können.

ps. „Sie (sc. viele Menschen) missverstehen Freiheit als Libertinage, als das Versprechen auf ein hedonistisches Lebensmodell, als politische oder ethische Beliebigkeit…“, sagte der mit seiner Lebensgefährtin angereiste Bundespräsident.

 

5 Kommentare zu „„Vor Ihnen steht ein dankbarer Mann““

  • Georg Mogel:

    Dem protestantischen Theologen und Pfarrer Joachim Gauck ins Stammbuch:

    „Ein ehrbarer Mensch ist der, der sich selbst die
    Anforderungen auferlegt,
    welche die Umstände nicht an ihn stellen.“

    Nicolas Gomez Davila

  • Georg Mogel:

    „…Gerade weil wir Deutsche uns der Last und der Schuld der Geschichte gestellt haben, gilt für uns, gilt auch für mich: Wir feiern gemeinsam mit allen die Befreiung vom nationalsozialistischen Joch, wir feiern mit allen, die damals ihre Unabhängigkeit und Freiheit wiedererlangten. Und wir fühlen mit allen, die gerade heute in anderen Teilen der Welt die Freiheit entdecken oder wieder entdecken…“
    Bundespräsident Joachim Gauck 2012 (!) in Holland

    „Unwiderstehlich zieht es mich zu den Besiegten. Mir schaudert und ekelt, wenn ich die Triumphgesänge der siegreichen Gerechten höre und im Buch der Weisheit lese: Die Bösen werden staunen über das unerwartete Glück der Gerechten.
    Ich bin lieber bei den besiegten Bösen als bei den siegreichen Gerechten. Da ich sie beide, die Sieger wie die Besiegten, als gleich böse kenne, liegt der Fall noch viel klarer.
    Die viehischen Greuel der Besiegten und die viehische Rache für diese Greuel, das gleicht sich wirklich aus. Bleibt das Unglück dieser armseligen Besiegten und das Glück dieser triumphierenden Sieger. Der Fall liegt klar.“

    Carl Schmitt,
    Glossarium

  • Unverzüglich hat Gauck sich eingereiht in die Phalanx der Volksverräter. Umdeutung des seinerzeitigen Beifalls zu Sarrazin, Herbeiwünschen von mehr Europa angesichts der Krise im Hinblick auf ESM und Inflationsunion und nun auch Nachbeten einer „deutschen Kollektivschuld“.
    Schade um die vertanen Möglichkeiten.
    http://kreidfeuer.wordpress.com/tag/joachim-gauck/

    Kommentar von Helmut Zott in http://rundertischdgf.wordpress.com/2012/03/23/gauck-der-bundesprasident-fur-gysi-fur-mich-und-dich/:

    Ein Mensch ist geistig zwar beschränkt,
    doch spricht er aus was mancher denkt:
    Wir werden allemal verschaukelt,
    zuerst verwulfft und dann vergauckelt.

  • Petrus Urinus Minor:

    aus JF,

    http://www.jungefreiheit.de/Pankraz-der-junge-L.144.98.html?&cHash=c682b09aa3&tx_ttnews%5BbackPid%5D=432&tx_ttnews%5Btt_news%5D=54726

    Pankraz, der junge Lucanus und die Sache der Besiegten

    Immer wieder fasziniert ist Pankraz von dem bekannten Vers aus der „Pharsalia“ des Lucanus: „Victrix causa Deis placuit, sed victa Catoni“, zu deutsch: „Die siegreiche Sache gefiel den Göttern, doch dem Cato gefiel die Sache der Besiegten“.

    Die Faszination hat viele Gründe. Da ist zunächst der Dichter, Marcus Annaeus Lucanus (3.11.39 n.Chr. bis 30.4. 65), ein Neffe Senecas, ein amüsiertes, keckes Genie, das seine Werke als ganz junger Kerl hinwarf und dafür zunächst gewaltig gefeiert wurde. Alles fiel ihm zu, und Lucanus machte mit nachtwandlerischer Sicherheit und in Windeseile das Allerbeste daraus.

    Er gehörte zur jeunesse dorée des glitzernden Neronischen Roms, wo man – da Nero selber dichtete und literarisch interessiert war – als Dichter schnell zu allerhöchsten Ehren aufsteigen konnte. Man mußte, wenn begabt, nur den Kaiser und seine Gesänge loben, und Lucanus tat das mit ungenierter Übertreibung und blendendem Schwung. Sein Intimus war der mädchenhaft feine, aber möglicherweise noch frechere Persius Flaccus; gemeinsam streuten sie die beißendsten Satiren auf Rom und die Welt aus, und bald geriet ihnen auch der dichtende und klampfende Kaiser ins Visier.

    Nero war eifersüchtig auf das Können Lucans; nun fand er auch noch Grund, ihn wegen politischer Unkorrektheit zu tadeln und abzustrafen. In der „Pharsalia“ hatte Lucanus die Karten offen auf den Tisch geschmissen: Er war gegen die Cäsaren, die nun schon seit drei Generationen als „principes“, als „Führer“, die Republik gängelten und entstellten, und er faßte seinen Affront derart in Ingrimm und formale Vollendung, daß den Lesern und Hörern schier das Herz stehenblieb. Lucans Tage waren gezählt. Im Jahre 63 kam das Vortragsverbot, 64 das Schreibverbot, 65 die Verurteilung. Der Dichter, gerade 25, beging Selbstmord, in stoischem Gleichmut.

    Auch wenn wir seine stolze Vita nicht kennten, bliebe die Faszination durch die zehn erhaltenen Kapitel der „Pharsalia“. Sie schildern den (Bürger-)Krieg Cäsars gegen Pompeius und Cato den Jüngeren, und Lucanus tritt voller Leidenschaft für Pompeius/Cato und den Erhalt der Republik ein. Er fragt dabei gar nicht so sehr nach den politischen Gründen, was also besser sei, Monarchie oder Republik; bereits das von Anbeginn bestehende Ungleichgewicht der Kräfte, die erdrückende materielle Überlegenheit Cäsars und daß er den Zeitgeist, den Zuspruch der „Öffentlichkeit“ im Reich, auf seiner Seite hat, empört den jungen Dichter.

    Die Götter, so klagt er, sind auf der Seite Cäsars und damit gegen die Republik, für den Usurpator und Imperator, was doch eigentlich zum Himmel schreit. Aber die Götter sind eben feige, bequeme Schweine, sie sind viel zu faul, um die Führung des Geschehens zu übernehmen, sie warten ab, und ihnen gefällt im nachhinein immer die siegreiche Sache, die victrix causa, besonders jener Göttin gefällt sie, die sich an führender Stelle ins Kampfgeschehen einmischt, obwohl sie ein butterweiches, dummes Frauenzimmer ist: der Göttin Fortuna, die „das Glück“ verwaltet und es in launischster Weise ausstreut.

    Es geht, erkennt Lucanus mit jugendlicher Bitterkeit, in der Geschichte und insbesondere im Krieg gar nicht um Gerechtigkeit, sondern ein finsteres Fatum waltet, worin die launischen Götter lediglich eine total unernste Nebenrolle spielen. Schon deshalb gilt des Dichters Sympathie voll und ganz und von vornherein den Unterlegenen, dem Pompeius und vor allem dem Cato, den er planvoll mit einer für die damalige Zeit neuartigen Gloriole umgibt, mit der Gloriole dessen, der weiß, daß er untergehen wird, und trotzdem bis zum bitteren Ende kämpft.

    Nachdem Pompeius 48 v. Chr. bei Pharsalus von Cäsar total besiegt worden war, gab er auf, er strich die Segel und emigrierte nach Ägypten (wo ihn der Pharao hinterrücks ermorden ließ, um sich bei Cäsar lieb Kind zu machen). Cato aber sammelte die Getreuen, die überlebt hatten, und stellte sich bei Thapsus in Numidien einer letzten Schlacht. Denn: „Victrix causa Deis placuit, sed victa Catoni.“

    Dem Cato gefiel die Sache des Pompeius und der Republik, und deshalb trat er bis zuletzt für sie ein. Er hoffte nicht mehr auf den Sieg, doch er sah, daß die Republik ein Beispiel brauchte, welches die Zeiten überdauern und für die Sache der Besiegten bürgen konnte. Dieses Beispiel richtete er bei Thapsus ab, bevor er sich ins Schwert stürzte, um nicht als Besiegter im Triumphzug Cäsars mitgeführt und vorgezeigt zu werden.

    Cato ist damit, wenn man will, zum ersten „existentialistischen“ Helden der Weltgeschichte geworden und sein Hagiograph Lucanus zum ersten existentialistischen Schriftsteller der abendländischen Literatur. Er hat empfindliche Leser darauf aufmerksam gemacht, daß die Sache der Besiegten, einerlei wie nun die Götter und der Zeitgeist darüber entschieden haben, stets die bewegendere, interessantere Sache ist, eine Sache, die Anteilnahme erheischt und die man penibelst erforschen und durchleuchten muß.

    Demgegenüber ist die Sache der Sieger eine grobe Tischplatte, Anlaß für ewige Triumphreden und Feiertags-Zechereien, im Grunde langweilig und sogar degoutant. Außerdem verführt sie zu voreiligen Schlüssen. „Noch einen solchen Sieg, und wir sind verloren“, stöhnte einst König Pyrrhus. Und der weise Machiavelli, nach verbreitetem Vorurteil immer auf der Seite der Sieger, warnt in seiner „Geschichte von Florenz“ nachdrücklich: „Nur der Sieger ist klug, der sich mit einem halben Sieg begnügt, und derjenige verliert immer, der einen Sieg bis zur Vernichtung des Gegners vortreibt.“

    Im Ganzen betrachtet gibt es im endlichen Dasein sowieso nur Niederlagen, die eine kommt früher, die andere später. Deshalb ist Cato mit seiner „victa“ nicht nur tapferer, sondern auch der bessere Denker.

  • Plikiplok:

    Wie zu erwarten findet sich in der Pfingstausgabe der FAZ, Samstag, 26. Mai 2012, Seite 5, die schon überfällige Meldung „Gauck reist nach Israel“.

    Er tritt damit in die Fußstapfen seines Vorgängers Wulff, der Ende 2010 in Yad Vashem symbolisch die ewige Schuld Deutschlands seiner Tochter Annalena aufgebürdet hatte. Sie war es, die von ihrem Vater stellvertretend für die junge deutsche Generation auserkoren wurde, damit die „bleibende Verantwortung Deutschlands von Generation zu Generation weitergegeben werde.“ (so wörtlich in der Passivform (Leideform) als verschleiernde Beschreibung für die andauernden Tributzahlungen)

    Zur Übernahme der Verantwortung (besser: Schuld) wird nun auch der neue Bundespräsident Gauck sein bedecktes Haupt in Israel senken müssen. Zu seiner Inauguration empfängt nun auch er von Pfingstmontag bis zum Donnerstag als oberster Vertreter des Tätervolkes die höheren Weihen des Opfervolkes.

    Immerhin, so hat er bereits angekündigt, werde er in Jerusalem, nachdem das Grass-Gedicht dort „kritische Reaktionen“ hervorgerufen habe, die „Bedrohung durch iranische Atomraketen“ während seines Aufenthaltes zur Sprache bringen. Von einer Erwähnung der realen Bedrohung durch israelische Atomraketen, montiert in geschenkten deutschen U-Booten, wird hingegen nichts berichtet.

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