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Vorzeichen künftiger Normalisierung?

Die Rede von der Staatsraison bezieht sich auf das, was von existentieller Bedeutung für einen Staat ist, was über dessen Sein und Nicht-Sein entscheidet. Insofern klang es ein wenig zu volltönend, als Kanzlerin Merkel 2008 vor der Jerusalemer Knesseth verkündete, die Sicherheit eines fremden Staates, nämlich Israels, sei Teil der deutschen Staatsraison. Mit Recht hat Bundespräsident Gauck es abgelehnt, sich diese Formulierung zu eigen zu machen; delikater Weise geschah dies ausgerechnet im Staate Israel.

Dies ist möglicherweise nicht als isoliertes Geschehen zu betrachten, gar als „Ausrutscher“. Vielmehr scheint sich mit der geschichtlichen Entfernung von der NS-Zeit eine vorsichtige Entspannung im Verhältnis Deutscher zum Judentum anzudeuten. Auch die Judenverfolgung während des 2. WK’s wird anscheinend nicht mehr stets – sozusagen „ohne Ansehen der Person“ – jedem Deutschen von den eigenen Oberen angelastet. Dies zeigte sich im Rahmen der Fußball-EM: Obwohl die Mannschaften der Niederlande, Italiens und Englands Auschwitz besuchten und obwohl sie der Zentralrat der Juden in Deutschland dazu aufforderte, hat sich die deutsche Fußballnationalmannschaft nicht in Mannschaftsstärke dorthin begeben, sondern dies einer kleinen Delegation überlassen.

Nicht etwa, daß Besuche in Auschwitz grundsätzlich zu unterlassen seien! Fraglos kommt diesem Ort als Gedenkstätte der nationalsozialistischen Judenverfolgung große Bedeutung zu. Nur sind die Spieler der deutschen Nationalmannschaft nicht identisch mit den Verfolgern, und sie tragen auch nicht deren Schuld ab. So ist es für sie – zumindest für die herkunfstmäßigen Deutschen unter ihnen – sicherlich wichtig, im Rahmen der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und als Angehörige des Volkes als einer Schicksalsgemeinschaft, sich auch dem Anblick von Überresten größter Verbrechen von Vorfahren zu stellen: Nur müssen sie dies nicht stets und auf fremdes Kommando hin tun, sondern dann, wenn es ihnen selbst geboten erscheint; auch mögen sie dazu angehalten werden – aus den eigenen Reihen.

Für die Niederländer, Italiener und Engländer stellt sich die Angelegenheit etwas anders dar: Sie besuchten Auschwitz als Ort unmenschlicher Verbrechen, an denen sie selbst keinen Anteil haben; insofern könnten dadurch sogar anti-deutsche Ressentiments verstärkt werden. Dennoch übte ihr Besuch sicherlich einen moralischen Druck auf die deutsche Mannschaft aus, da doch gilt, daß Deutschland nun zum Westen gehört und sich zu verhalten hat wie dieser, um nicht ins NS-Übel zurückzufallen.

Dem Druck von zwei Seiten, dem des westlichen Vorbildes und dem des jüdischen Zentralrates, hat der DFB ein Zugeständnis gemacht, er hat jedoch nicht bedingungslos kapituliert. – Betrachtet man diese, eigentlich nicht sonderlich wichtige Angelegenheit, zusammen mit der Position Gaucks in bezug auf die deutsche Staatsraison, dann könnte sich darin eine Änderung im Verhalten in bezug auf die eigene Geschichte und damit auch in bezug auf die deutsche Gegenwart sowie die Formulierung dessen, was deutsche Staatsraison ist, ankündigen, eine Normalisierung.

 

8 Kommentare zu „Vorzeichen künftiger Normalisierung?“

  • Sir Toby:

    Für die Niederländer, Italiener und Engländer stellt sich die Angelegenheit etwas anders dar: Sie besuchten Auschwitz als Ort unmenschlicher Verbrechen, an denen sie selbst keinen Anteil haben;…

    Wieso haben die ‚keinen Anteil‘? Die Engländer haben doch vergessen die Gleise nach Auschwitz zu bombardieren, weil sie so beschäftigt damit waren deutsche Zivilisten umzubringen. Und die Niederländer haben doch ganz kräftig kollaboriert … bei der Judenverfolgung – oder habe ich das falsch in Erinnerung?? Und überhaupt: Die Nazis wollten die Juden zunächst doch nur loswerden: Warum haben unsere heiligen Nachbarn sie nicht einfach aufgenommen??? Hätte beide Teile glücklich gemacht – sie und uns!

  • Georg Mogel:

    Die Kategorien geschichtlicher Erkenntnis sind nicht Schuld und Sühne,
    sondern Ursache und Wirkung. Diese elende deutsche Gewohnheit, Politisches -angesichts objektiver Ohnmacht- in den Bereich der Moral zu verlegen und sich als Schulmeister zu gerieren, ist ein sicheres Vomativ. Reductio ad Hitlerum tagaus, tagein und allüberall bis an das Ende aller Tage.
    Zehn Deutsche sind dümmer als fünf Deutsche.

  • virOblationis:

    @ Sir Toby
    Ich habe versucht, die vorherrschende Sicht der Dinge zu Wort kommen zu lassen, um von daher verständlich zu machen, daß der Besuch der Engländer, Niederländer und Italiener von deren Standpunkt her eine andere Qualität hat und für die Deutschen keineswegs so etwas wie unterstützende Begleitung, sondern eher das Gegenteil bedeutet.

  • Max Hoffmann:

    „Nur sind die Spieler der deutschen Nationalmannschaft nicht identisch mit den Verfolgern, und sie tragen auch nicht deren Schuld ab. So ist es für sie – zumindest für die herkunfstmäßigen Deutschen unter ihnen – sicherlich wichtig, im Rahmen der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und als Angehörige des Volkes als einer Schicksalsgemeinschaft, sich auch dem Anblick von Überresten größter Verbrechen von Vorfahren zu stellen:“

    Da bin ich ganz anderer Meinung. Der Auschwitz-Besuch der DFB-Delegation hatte vordergründig nicht etwa das Ziel, „sich auch dem Anblick von Überresten größter Verbrechen ihrer Vorfahren zu stellen“. Der politische Auftrag der Delegation bestand in genau jenem Schuldabbau, den Sie in Abrede stellen. Der Abbau dieser Schuld steht im Grundbuch eines jeden Deutschen, dessen Vorfahren auch Deutsche waren, unabhängig davon wann er geboren wurde und – besonders bezeichnend – auch wenn er noch gar nicht geboren ist. Interessant ist Ihr Hinweis, dass es offenbar zwei Kategorien von Deutschen gibt: „herkunftsmäßige“ Deutsche, die für Auschwitz offenbar historische Schuld tragen und „nicht-herkunftsmäßige“ Deutsche, denen das nicht ins Grundbuch geschrieben wurde. Interessanter Ansatz für die bunte Republik BRD. Und eine neue interessante Interpretation von Fischers These von der Verdünnung des deutschen Volkes…

  • virOblationis:

    @ Max Hoffmann
    Ich bestreite gar nicht, daß nach landläufiger Ansicht, ein Besuch (der DFB-Auswahl) von Auschwitz in bezug gesetzt würde zur deutschen „Erbschuld“. Mir ging es gerade darum, auf das bemerkenswerte Phänomen hinzuweisen, daß der Besuch in Mannschaftsstärke dennoch nicht wahrgenommen wurde.

  • Dietmar:

    @Georg Mogel

    Danke für Ihre richtige und notwendige Klarstellung! Ob Moralisieren allerdings nur eine deutsche Untugend ist, wage ich angesichts der Mittel und Methoden, die durch die Alliierten für Umerziehung und Paralysieren der Deutschen angewandt wurden und werden, zu bezweifeln. Vielleicht ist es auch die ‚Ökonomie des Denkens‘ zum Zweck des Überlebens.

    So konnten angesichts der eigenen Ohnmacht gegenüber den herrschenden Verhältnissen z.B. Deutsche hinter Mauer und Stacheldraht auch nicht, wie Don Quichote gegen Windmühlen, die Staatsdoktrin offen bekämpfen. Dennoch waren sie deshalb weder dumm, noch feige.

    Den heutigen ‚Nutzen‘ des Holocaust hat Norman Finkelstein dezidiert beschrieben und auf die Folgen hat der Deutsche Günter Grass mahnend hingewiesen.

  • Ulla:

    Der Zentralrat verlangte und der DFB folgte. Ob mit kleiner oder großer Delegation ist dabei unerheblich. Es ging in diesem Fall, wie stets, um den deutschen Schuld-Kotau. Als Beobachterin war auch Charlotte Knobloch dabei. Die Worte, vom Kapitän der deutschen Nationalmannschaft Lahm bekannte deutlich: „Wir wollen mit unserem Besuch zeigen, dass wir unsere Geschichte kennen und dafür Verantwortung übernehmen.“

    Hätten die Verantwortlichen einmal laut und deutlich „nein“ gesagt, das wär’s gewesen!

    Was unseren Pastor Bundespräsident angeht, so hat er offenbar eine Vorliebe für die Vertreiberstaaten Polen und Tschechien. Man lese seinen Brief an Valclav Klaus zum 70. Jahrestag von Lidice. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Berichte/DE/Joachim-Gauck/2012/06/120608-Gedenken-Lidice.html

    Ich glaube bei Killerbiene las ich: dem Feigling fehlt Mut, dem Kriecher fehlt Würde.

  • Karl Eduard:

    Wozu muß man sich als Mannschaft, wenn es um einen sportlichen Wettstreit geht, nach Auschwitz begeben? Es liegt keine Logik in diesem Handeln. Was hat Fußball mit Auschwitz zu tun? Und, waren all die anderen Toten nicht der Erinnerung wert? Gibt es eventuell Klassenunterschiede zwischen den Ermordeten. Welche, um die Trara gemacht wird und andere, die es verdient haben, ermordet zu werden?

    Eine Normalisierung wäre nur zu begrüßen, ist aber nicht abzusehen.

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