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Ein Hauptübel

Von grundlegender Bedeutung für die katholische Soziallehre des Industriezeitalters ist Leos XIII. Enzyklika „Rerum novarum (1891)“. Als sie verfaßt wurde, war Karl Marx1 noch keine zehn Jahre tot, Friedrich Engels2 lebte noch, und niemand ahnte, daß die „Diktatur des Proletariats“ ausgerechnet in dem vor allem von seinem Bauerntum getragenen Rußland zuerst aufgerichtet werden sollte; notwenig mißlang dies, da der Marxismus der Wirklichkeit nicht gerecht zu werden vermochte: So herrschte im untergegangenen Zarenreich seit der Oktoberrevolution (1917) nicht das Proletariat diktatorisch, sondern ein politische Klasse von Ideologen, formal vergleichbar den platonischen Philosophenkönigen, aber in ihrer Lehre von diesen himmelweit unterschieden.

In Abschnitt 15 von „Rerum novarum“ heißt es: „Est illud in caussa3, de qua dicimus, capitale malum, opinione fingere alterum ordinem sua sponte infensum alteri, quasi locupletes et proletarios ad digladiandum inter se pertinaci duello natura comparavit.“ Es ist in der Sache, über die wir sprechen (sc. die Soziallehre für das Industriezeitalter), jenes ein Hauptübel, daß [man] mittels eines Hirngespinstes4 den einen Stand als dem anderen von selbst5 feindlich darstellt, als ob man Begüterte und Proletarier zum Zweikampf miteinander [Bestimmten] in einem unablässigen, von Natur aus [geführten] Krieg gleichstellen könnte. – Der eine und der andere Stand, nämlich der dritte und der vierte, werden also von einer falschen Lehre, gemeint ist der Marxismus, so dargestellt, als seien sie von Natur dazu gezwungen, einander unablässig zu bekämpfen, und darin bestehe ein Hauptübel der Soziallehre. Wenn dies nämlich wahr wäre, der Marxismus recht hätte, könnte es niemals zur Eintracht im Staate kommen; das Volk wäre stets zerrissen.

Schon im „Kommunistischen Manifest (1848)“ hat die von Leo XIII. als ein Hauptübel bezeichnete Lehre ihren klaren Ausdruck gefunden hat: Teil 1 hebt an mit den Worten: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.“ Später heißt es dort: „Sein Kampf (sc. der des Proletariates) gegen die Bourgeoisie (bzw. die Klasse der Kapitalisten) beginnt mit seiner Existenz.“ Darauf bezieht sich das „von selbst“ in „Rerum novarum“ 15, „sua sponte“: Der Proletarier sieht sich (ebenso wie der Bourgeois) auf Grund seiner bloßen Existenz – also weil er ist, was er ist – zum Kampf gegen den Bourgeois (bzw. dieser gegen den Proletarier) gezwungen, ohne daß er es verhindern könnte.

Der Kampf der Klassen gegeneinander ist nach Marx unvermeidlich, weil jede ihre Interessen gegen die jeweils andere durchsetzen muß, um wirtschaftlich zu überleben. – Dabei wird gedanklich vorausgesetzt, was von Marx als ökonomische Basis der Gesellschaft bezeichnet: Er meint, daß die Wirtschaft die Grundlage bilde, auf der sich politische und juristische Verhältnisse, gesellschaftliche Bewußtseinsformen überhaupt, als sekundärer Überbau erheben.6 Da Marx den Menschen nur stofflich denkt, so soll auch dessen ganzes Wesen darauf angelegt sein, diese stoffliche Existenz durch materielle Güter aufrecht zu erhalten.

Wenn deshalb die Wirtschaft die Grundlage der menschlichen Gesellschaft bildet und der Mensch von Natur aus auf Gemeinschaft bzw. die Gesellschaft hin angelegt ist,7 dann besteht der Grund des menschlichen Daseins in der Aneignung materieller Güter zu seiner Aufrechterhaltung; seit der Überwindung der Daseinsfristung als Jäger und Sammler bedeutet dies, daß materielle Güter im allgemeinen hergestellt werden, und dies geschieht im Industriezeitalter durch (Kapitalisten und) Proletarier.

Man könnte – frei nach Marx – auch formulieren: Im Anfang war der Bauch. Er nötigt zur Produktion materieller Güter, zur Bildung der ökonomischen Basis. Dabei werden die Menschen in verschiedene Klassen gespalten, die einander unablässig bekämpfen, bis das Proletariat die Klassengesellschaft überwindet, indem es sich die Früchte seiner Arbeit selbst aneignet; der Anteil des Unternehmers an der Produktion wird von Marx ignoriert.

Der Autor Bertolt Brecht hat diese Auffassung vom Menschen auf die Formel gebracht: „Erst kommt das Fressen und dann die Moral.“ Denn: „Das [materielle] Sein [im marxistischen Sinne] bestimmt das Bewußtsein.“8 Gerade dies aber ist offensichtlich falsch. – Schon früher beeindruckte mich das Beispiel des inzwischen heilig gesprochenen Maximilian Kolbe9 sehr, da er für einen anderen freiwillig den Tod im Hungerbunker auf sich nahm; ganz deutlich zeigt sich an diesem Beispiel, daß der Mensch dem „Bauch“ nicht ausgeliefert ist. Nicht dieser steht am Anfang. Es kommt nicht zuerst die Sicherung der materiellen Existenz, sondern zuerst die Moral. Im Anfang war der göttliche Logos, durch den alles erschaffen ist. Gott ist nicht „Bauch“, sondern Geist.

Marx folgert aus seinem Verständnis des Menschen, daß dieser ein objektives, also von dem individuellen Streben unabhängiges Klasseninteresse11, zum Ausdruck bringt. Dies bestehe beim Proletarier nicht einfach im Verlangen nach höherer Entlohnung, sondern in der Aneignung all dessen, was er (mit Hilfe der ihm vom Unternehmer zur Verfügung gestellten Produktionsmittel) hergestellt hat. Das Klasseninteresse des Bourgeois besteht darin, im unvermeidlichen Konkurrenzkampf den Sieg davonzutragen. Wegen der weltweiten Ausweitung der Absatzmärkte besteht weltweite Konkurrenz; dies ist nach Marx unvermeidlich.

Schon Oswald Spengler hat in „Preußentum und Sozialismus (1922)“ darauf hingewiesen, daß Marx‘ Lehre die Lebensverhältnisse Englands voraussetzt; mit Blick auf Preußen hätte sie kaum entstehen können. Damit ist nicht gemeint, daß England um die Mitte des 19. Jahrhunderts der am meisten entwickelte Industriestaat war oder daß der Manchesterkapitalismus zum Arbeiterelend führte und damit die Frage nach dessen Überwindung aufwarf. Spengler blickt tiefer. Er bemerkt, daß Marx englische Verhältnisse dadurch voraussetzt, daß er von einer durch die Autorität des Staates nicht gebändigten Ökonomie ausgeht, von Gewinnen durch uneingeschränkten Freihandel. Dabei wird die Gesellschaft in Kapitalisten und Arbeiter geteilt. Es regiert der Klassenegoismus.12 – Es ist zu fragen, ob nicht jede Gesellschaft, in der der dritte Stand herrscht, dazu neigt, die Ökonomie absolut zu setzen, ebenso wie unter einer Militäraristokratie oft ein Kriegerstaat gebildet wird oder unter einer durch Religion oder säkulare Lehre geprägten politischen Klasse ein Erziehungsstaat. Wie sähe der Staat des vierten Standes aus; ich bleibe die Antwort an dieser Stelle schuldig.

Spengler weist auch darauf hin, daß in England aus der Arbeit als Bestimmung des Menschen seit Adam ein Gegenstand des Handels geworden ist: Die Arbeitskraft als Ware, um deren Preis mittels Streik und Aussperrung gefeilscht wird. – Die uneingeschränkte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt führte nicht nur in England zur Kinderarbeit, wo ab 1833 Maßnahmen dagegen erlassen wurden. Dadurch wird deutlich, daß selbst in einem Land, in dem der dritte Stand regiert, die ökonomischen Interessen nicht vollkommen ohne jede Rücksicht durchgesetzt werden müssen; ja, nach Aristoteles zeichnet sich die legitime Herrschaft (Monarchie, Aristokratie oder Politeia [Demokratie]) gerade dadurch aus, daß sie die Interessen aller Stände berücksichtig, während die entartete nur die Interessen derer vertritt, die sie tragen (Tyrannis, Oligarchie, Demokratie [Ochlokratie]).

Angesichts der Schwäche des Staates in England wurde dort eine liberale Theorie entwickelt, nach der die Gesellschaft alle Glieder einer Gemeinwesen umfasse, wobei der Staat einen Verband (association) neben anderen innerhalb der Gesellschaft bilde;13 wenn er daher der Ökonomie nicht übergeordnet ist, dürfte er sie eigentlich auch nicht in für alle erträgliche Bahnen lenken.

Der Marxismus ist in der Praxis gescheitert. Seine Lehre vom unversöhnlichen Klassenkampf wird wohl kaum noch rein vertreten. Insofern scheint die von Papst Leo XIII. als ein Hauptübel benannte Auffassung überwunden. Doch tritt sie nicht bis heute in anderem Gewand unter uns auf, wenn die „Benachteiligten“ aus aller Welt als die neuen Proletarier ausgegeben werden, deren Befreiung endlich die 1917 – 1989 ausgebliebene Erlösung der Menschheit heraufführen werden? Wer nicht an der Seite des Proletariats bzw. nun der Nicht-Abendländer steht, hindert das allgemeine Menschheitsglück. Die gesamte Gesellschaft muß sich daher im „Kampf gegen rechts“ zusammenschließen, um die rassistischen Kräfte – als Nachfolger wahlweise der Reaktion oder des Faschismus – zu besiegen.14 – Dieser Ideologie fehlt zwar eine philosophische Grundlage, die sich mit der marxistischen messen könnte, aber da deren Lehren so tief in das Bewußtsein vieler eingesenkt wurden, wirken auch deren geistig nur kümmerlich entwickelte Nachkommen immer noch nachhaltig.

 

Anmerkungen

1geb. 1818, gest. 1883

2geb. 1820, gest. 1895

3„caussa“ statt „causa“: so durchgängig im Text

4Formal wäre auch die Übersetzung von „opinione“ mit „in [irriger] Meinung“ möglich, doch wäre dies als Pendant zum „Hauptübel“, „capitale malum“, zu schwach; daher erscheint „im Wahn“ oder „mittels eines Hirngespinstes“ angemessener.

5„sua sponte“, d.h. aus seiner Beschaffenheit heraus bzw. auf Grund seiner Beschaffenheit

6„Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859)“, hier: Vorwort

7s. die Aufnahme des aristotelischen Begriffes des zoon politikon, d.h. des Menschen als eines Gemeinschafts-Lebewesens, in: Marx, „Einleitung [zur Kritik der politischen Ökonomie] ([posthum] 1903)“

8Wörtlich heißt es im Vorwort von „Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859)“: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches [auf die materielle Existenz (im marxistischen Sinne) gegründetes] Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt.“

9geb. 1894, gest. 1941; heiliggesprochen 1982

11„Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859)“: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein [und mithin das Leben als Angehöriger einer Klasse], das ihr Bewußtsein bestimmt.“

12bes. Kap. 17 und 20

13Carl Schmitt spricht von einer angelsächsischen pluralistischen Staatstheorie, s. „Der Begriff des Politischen (1927)“

14Zu vergleichen damit ist die Übertragung des Gleichheitsgedankens aus der Ökonomie auf die Geschlechter (Genderismus).

1 Kommentar zu „Ein Hauptübel“

  • Nach Richard Wurmbrand war Marx Satanist. Ich empfehle die beiden Abschnitte zu Marx in der Abhandlung von Gregor Benewitsch sowie den Artikel „Der Antichrist“ von Erzpriester Boris Molchanoff auf meinem Blog.

    Der Marxismus kann nur als messianische Verblendung des Verstandes begriffen werden.

    Mit dem Satz „das Sein bestimmt das Bewußtsein“ wird das Fleisch, d.h. der Bauch, zum legitimen Herrscher über den Geist erklärt. Das ist eine 100-prozentige Umkehr der Bestimmung des Menschen nach der Lehre Jesu Christi, d.h. der Marxismus ist eine antichristliche Ideologie im vollsten Wortsinne, eine Ideologie des Antichristen.

    Im Übrigen würde ich Daniel Pipes nicht als rechtsliberal bezeichnen. Was er und sein Umfeld treiben ist Hasbara. Die einseitige Ablehnung des Islam bei gleichzeitiger Verherrlichung alles Jüdischen ist ein Fehler.

    Das hatte auch die Auseinandersetzung zwischen Karlheinz Weißmann und Michael Stürzenberger gezeigt.

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