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Geh‘ deinen Weg

Wie ich las, spielten die Fußballer der 1. Bundesliga an diesem Wochenende mit dem Motto „Geh deinen Weg!“ statt der Sponsorenwerbung auf dem Trikot; dann sah ich dies auch auf Bildern. – Das Motto geht auf die Deutschlandstiftung Integration zurück, und Schirmherrin der Aktion am dritten Spieltag der ersten Liga ist die Bundeskanzlerin. Dazu kann ich mir die Bemerkung allerdings nicht verkneifen, daß der Begriff „Schirmherrin“ in einer Regierung, deren verbindliches Leitprinzip das Gendermainstreaming ist, eigentlich nichts zu suchen haben dürfte: Schirmfrau bzw. Schirmdame ist Angela Merkel o.ä. müßte es heißen. Gleichstellung auch in der Sprache!

Noch eine Anmerkung: Worüber mögen die Herrschaften auf dem Photo wohl so herzlich lachen? Es ist doch eine ernste Angelegenheit, die sie vertreten, die Integration. Zuletzt hat man auf diesem Gebiet doch eher weniger Erfolgsmeldungen zu verzeichnen gehabt. Ja, der zuständige Minister sorgt sich so sehr um den inneren Frieden, daß er das Provozieren bestimmter Mitbürger mit oder ohne deutschen Paß zu verhindern sucht, weil er die bösen Folgen schon vorausahnt. Gelungene Integration würde doch bedeuten, daß die Reaktion auf Provokation vergleichbar derjenigen der Einheimischen ausfällt – oder etwa nicht? Wenn jede Ethnie ohne Rücksicht auf das Selbstverständnis des alteingesessenen Mehrheitsvolkes reagiert, dann kann man doch kaum von Integration sprechen, sondern müßte stattdessen ein unverbundenes Nebeneinander konstatieren.

„Geh deinen Weg“ lautet das Mott der Deutschlandstiftung Integration. Nach ihren eigenen Worten will sie damit die Integrierten ansprechen, die bereits „angekommen“ und „erfolgreich“ sind. Einhundertfünfzig von ihnen sollen noch „erfolgreicher“ werden, indem ihnen ein ebenfalls fremdstämmiger Mentor zur Seite gestellt wird, der ihnen auf der Karriereleiter weiter emporhelfen soll. – Inwiefern paßt dazu das Motto „Geh deinen Weg“? Wenn man den eigenen Weg geht, dann sucht man sich ihn doch gerade selbst und läßt sich nicht führen. Sonst müßte es doch heißen „Geh meinen Weg“, nämlich den der Mentoren.

„Geh deinen Weg“: In diesen Worten kommt ein Eigensinn zum Ausdruck, der sich nicht mit ausgetretenen Pfaden begnügen will, sondern unter vielen möglichen Wegen den eigenen, den ganz persönlichen sucht. Die Integration hingegen will zusammenführen, so daß der Weg des einen kompatibel ist mit dem des andern. Dann aber darf nicht jeder nur seinen Weg gehen, sondern hat auch auf die der andern achtzugeben. – Was aber hat das alles mit dem Fußballspielen zu tun? Wahrscheinlich ist man nur darauf gekommen, weil die zusammengekauften Profiteams aus Spielern verschiedener Herkunft bestehen, die in einer Mannschaft zusammenspielen. Doch wie wenig eine solche innerlich verbindet, sieht man ja schon daran, daß von der Nationalmannschaft nicht einmal die Hymne gemeinsam gesungen wird. Auf den „Rumpelfußball“ der früheren homogenen deutschen Nationalmannschaft wird abschätzig herabgeblickt; doch die gewann damals zumindest Titel, und das gelingt heute nicht mehr. So gesehen bildet die Fußballnationalmannschaft ein Spiegelbild des gesamten Landes, das immer weiter absteigt, aber viel besser sein soll als in der Vergangenheit.

„Geh deinenWeg“ – dieses Moto wird wahrscheinlich eine Kurzform des geflügelten Wortes „Geh‘ deinen Weg, und laß die Leute reden!“ sein. Dabei handelt es sich um die deutsche Wiedergabe eines angeblichen Dantezitates, das von Marx in das Vorwort der ersten Auflage von „Das Kapital [Bd. 1] (1867)“ aufgenommen wurde. Marx bietet es auf italienisch: „Segui il tuo corso, e lascia dir le genti!“ Marx will damit sagen, daß er – unter Verweis auf Dante – seinen Weg der Wissenschaft geht ohne Rücksicht auf die unqualifizierte „sog. öffentliche(n) Meinung“. – Das Original bei Dante lautet jedoch ganz anders! Es heißt in Dante „Göttlicher Komödie“ im 5. Gesang des Läuterungsberges Z. 13*:“Vien dietro a me, e lascia dir le genti“ Drei verschiedene Übersetzungen dieser Zeile: a) Mir nach! und laß die Leute redend stehen. / b) Komm, folge mir, und laß die Leute reden. / c) Was man auch spreche, folge mir nach oben (sc. auf dem den Läuterungsberg emporführenden Weg). Diese Worte spricht Virgil, der Führer durch die Unterwelt (Hölle im Innern der Erde und Purgatorium auf der Südhalbkugel) zu Dante, der nicht säumen, sondern ihm folgen soll.

* MEW 23 ([Ost]Berlin 1947 = 1962 verweist fälschlich auf Z. 17

Marx kannte den Zusammenhang, dem er Dantes Worte entnahm und umformulierte. Dies zeigt das Vorwort zur französischen Ausgabe von 1872, wo davon die Rede ist, daß der Weg der Wissenschaft keine Landstraße ist, sondern aus steilen Pfaden besteht, die zu lichten Höhen hinaufführen. Die von Marx angeführten steilen Pfade erinnern doch stark an den mühevollen Aufstieg Virgils und Dantes zum Gipfel des Läuterungsberges, wo eine Pforte Dante Zutritt zum Himmel, zum Bereich der Glückseligen in der Region der Sterne gewährt. – Marx hat das Dantewort rücksichtslos für die eigenen Zwecke umformuliert und sich zugleich darauf als den vorgeblichen „Wahlspruch des großen Florentiners“ berufen. So sieht die „Wissenschaftlichkeit“ eines Ideologen aus!

„Geh deinen Weg“ ist als Motto für Bemühungen um Integration ungeeignet, wie sich gezeigt hat. Es wird vielleicht dadurch zustande gekommen sein, daß ein früherer Marxleser und -verehrer ein nicht unbekanntes Zitat aus dem Kapital verkürzt und ein wenig unreflektiert in seine multikulturelle Gegenwart zu übertragen versucht hat; man vergleiche dazu das Verhältnis von Proletariern und Benachteiligten. Dabei wurde in Kauf genommen, daß das nun „Geh deinen Weg“ lautende Motto ein wenig so klingt wie ein verunglückter Genetiv, wonach die korrekte Form wäre: „Geh‘ deiner Wege!“

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