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Der Weltbürgerkrieg und die Herrschaft des vierten Standes 1

Der Faschismus

Kaum ein Begriff ist so belastet und so umstritten wie der des Faschismus. Gleichwohl muß der Versuch unternommen werden, ihn zu erhellen, wenn der geplante Blick auf die europäische Geschichte der Neuzeit unter dem Gesichtspunkt eines Weltbürgerkrieges gelingen soll. Dazu frage ich nach dem Wesenskern des Faschismus – wohl bewußt, daß dieser Begriff schon für alles mögliche benutzt worden ist, vor allem zur Abqualifizierung von politischen Gegnern. Vom Wesen einer Sache zu sprechen macht nur Sinn, wenn die Welt nicht aus lauter individuellen Dingen besteht, wie der Nominalismus meint. Wenn es verschiedene Vertreter einer Art gibt, seien es Fasane, Flüsse oder Faschismen, dann kann nach dem gesucht werden, was sie zu dem macht, das sie sind; dies muß etwas sein, das den Vertretern einer Art gemeinsam ist, doch muß ihr Wesen nicht mit dem deckungsgleich sein, was wir als Gemeinsames wahrnehmen, denn es mögen auch nicht-wesentliche Züge in den Blick geraten, oder es mag etwas Wesentliches bei einem der Vertreter fehlen, ohne daß er deshalb nicht zu der Art gehört: So läuft ein Fasan auf zwei Beinen, doch bleibt er ein solcher, zumindest für geraume Zeit, auch wenn ihm eines abhanden kommt.

Eine Gegenposition sucht der oft genannte Aufstaz „Der faschistische Stil“ von Armin Mohler einzunehmen, der sich auf den Nominalismus beruft, doch er sieht im Faschismus nur einen Bestandteil des „rechten Totalitarismus“ neben Nationalsozialismus und Etatismus und definiert den Faschismus gerade durch Abgrenzung zum Nationalsozialismus; der Etatismus wird nicht weiter berücksichtigt. M.a.W. was gewöhnlich Faschismus genannt wird, nennt Mohler rechten Totalitarismus, und er versteht unter Faschismus einen Aspekt desselben, der gemischt ist aus Futurismus, Expressionismus, soldatischer Standesethik und jugendlichem Überschwang. Mohlers Aufsatz trägt also lediglich dazu bei, einen der Bestandteile des rechten Totalitarismus bzw. des Faschismus zu erhellen, nämlich die – stark von ihrer Zeit geprägte – militaristische Komponente in Verbindung mit einzelnen Kunstrichtungen derselben Epoche.

Hinsichtlich gemeinsamer Merkmale faschistischer Systeme besteht im allgemeinen Übereinstimmung: Nationalismus, Militarismus, Totalitarismus, Kollektivismus; hinzu kommt die Herkunft etlicher Repräsentanten faschistischer Bewegungen aus dem Lager der politischen Linken sowie eine begrenzte Kompatibilität mit dem Konservatismus (vgl. König in Italien, Kirche in Spanien etc.). Rassismus oder Antisemitismus sind nicht stets vorhanden. – Man erkennt sowohl „rechte“ als auch „linke“ Elemente; diese eigentümliche Konstellation bemerkte bereits Hans Zehrer (1931), der persönlich eine „Dritte Front“ erhoffte, die national wie sozial ausgerichtet das liberale Parteiensystem überwinden sollte. Es scheint angesichts einer eigentümlichen Konstellation aus rechten und linken Elementen nicht verwunderlich, daß der Faschismus keine von seinen Repräsentanten allgemein anerkannte ideologische Grundlage hervorgebracht hat vergleichbar dem Marxismus auf seiten der Linken. Um daher das Wesen des Faschismus zu verstehen, ist es sinnvoll, einen Blick auf seine Entstehung zu werfen.

Die Entstehung des Faschismus vor dem 1. Weltkrieg anhand eines Zusammengehens rechter und linker politischer Kräfte hat Zeev Sternhell seit Mitte der siebziger Jahre beschrieben. Am Beispiel des politischen Weges Georges Sorels läßt sich dies exemplarisch darstellen: Sorel wandte sich enttäuscht von den Linksrepublikanern ab, nachdem sie die Regierung stellten (1899), aber keine revolutionäre Umgestaltung des Staates vornahmen. Sorel meinte, die Linke sei nur in die bisherigen Herrschaftsstrukturen eingezogen, ohne diese zu verändern (vgl. spätere Sozialdemokratie). – Auch Lenin (vgl. spätere Kommunisten) stand Sorel ablehnend gegenüber, wenn er auch den Sieg der Bolschewisten in Rußland 1917 begrüßte. Doch Sorel lehnte die Herrschaft einer Partei, die sich zur Sprecherin der Arbeiterbewegung machte, um diese letztlich zu bevormunden ab. Stattdessen suchte Sorel nach einem unmittelbaren Ausdruck der Arbeiterbewegung und nach der Möglichkeit einer direkten Machtübernahme, ohne Angleichung an den Parlamentarismus und ohne Unterwerfung unter eine bestimmte Doktrin. Dazu entwarf er seine Vorstellung des Generalstreiks, der viel mehr sein soltte als eine geplante Aktion oder zweckgerichteter Einsatz von Gewalt, sondern eben unmittelbarer Ausdruck dessen, was die Arbeiterbewegung ist und will (Réflexions sur la violance). Da Sorel für diese Ideen weder auf seiten der Linken noch der Liberalen Verbündete finden konnte, bot sich allein der Weg einer Zusammenarbeit mit Nationalisten an, die an der sozialen Frage interessiert waren. So ließ Sorel eine Verbindung seiner nicht-marxist. Ideen in bezug auf den Sozialismus mit nationalistischem Gedankengut zu: Als er 1911 bis 1912 die Zeitschrift „L’Independance“ herausgab, gehörte zu deren Mitarbeiterstab (ab Herbst 1912) der Nationalist Maurice Barrès. Auch die Annäherung an antisemitisch-monarchistische Kreise (Charles Maurras, Action francaise) scheute Sorel dabei nicht, da er in ihnen Verteidiger der französischen Kultur erblickte (ab 1909). Sorel gründete dazu die Zeitschrift „La Cité francaise“ (1910). Die Nationalisten und Royalisten wiederum verwarfen Liberalismus und Sozialismus, während sie sich Sorels Syndikalismus öffnen mochten, da er sich mit der Ablehnung des Internationalismus vereinbaren ließ. –  Zwar scheiterte die Annäherung zwischen Sorel, Barrès und Maurras noch vor dem Beginn des 1. Weltkriegs, doch sie zeigt, auf welchem Wege nicht-marxistischer Sozialismus und Nationalismus sich miteinander verbanden, um nach dem 1. Weltkrieg den Faschismus hervorzubringen.

Denselben Vorgang zeigt auch die Entwicklung der Begriffe, die zum „Nationalsozialismus“ führte. Als erster führte Friedrich Naumann, ein protestantisch-liberaler Geistlicher und Politiker, die Begriffe national und sozial zusammen, als er einen Nationalsozialen Verein gründete, der von 1896 bis 1903 existierte. Erst danach wurden dies von der Rechten aufgenommen. 1898 sprach Maurice Barrès in seinem Programm von Nancy für die Parlamentswahl von „idées nationales et sociales“. 1903 wurde in Frankreich die Parti National Socialiste (PNS) durch Pierre Biétry gegründet. In demselben Jahr entstand im Österreich-Ungarischen Böhmen die „Deutsche Arbeiter Partei“: In ihrem Namen zeigt sich ebenfalls die Verbindung des Nationalen (Deutsche) und des Sozialen (Arbeiter), nur in anderen Begriffen.

So läßt sich der Faschismus als ein im Kern nicht-marxistischer Sozialismus begreifen, eine national begrenzte Herrschaft des vierten Standes, die in der Zwischenkriegszeit (1918 – 1939), da die große Menge der Werktätigen von der Erfahrung des 1. Weltkrieges geprägt war, ihre natürlichen Verbündeten auf der Rechten zu finden meinte, bei Nationalisten und Militaristen. Diese standen durch die gemeinsame Ablehnung von (internationalistischem) Sozialismus und Liberalismus dem Konservatismus nahe. Die erstrebte Herrschaft des vierten Standes verband sich daher mit dem Nationalismus und dem Konservatismus. Das Verhältnis zu letzterem mußte aber angespannt bleiben, soweit der Faschismus totalitäre Züge annahm, denn der Totalitarismus, der insbesondere das natürliche Recht der Familie mißachtet, um jeden Menschen ganz erfassen zu können, ließ sich mit dem Konservatismus nicht vereinbaren. Andererseits schien der Totalitarismus eine verlockende Gelegenheit zu bieten, die während des Industriezeitalters entwurzelte Vielzahl der Menschen wieder zu organisieren. – Am ehesten scheint der Ausgleich zwischen Faschismus und Konservatismus in Spanien gelungen zu sein; in Deutschland zerbrach die widerwillige Duldung der Konservativen endgültig mit dem gescheiterten Staatsstreich vom 20. Juli 1944. Dies korrespondiert mit der Tatsache, daß die faschistische Herrschaft in Deutschland am gräßlichsten entartete und Millionen von Menschen das Leben kostete.

1917 hatte der Bolschewismus die politische Macht in Rußland errungen, und er trat mit dem Anspruch auf, die Herrschaft des vierten Standes zu verwirklichen. Dies machte den Faschismus zum Konkurrenten des „real existierenden Sozialismus“, es stellte einen Nexus zwischen beiden Größen her, wenn auch nicht unbedingt einen kausalen; dieser ergab sich allerdings notwendig durch den Anspruch auf die Weltrevolution und die Verteidigung der Nation dagegen, wobei diese aber keineswegs unter faschistischem Regiment stehen mußte, denn dieser Anspruch betraf alle nicht-bolschewistischen Regierungen. – Die Konkurrenzsituation durch den beiderseitigen Anspruch auf Verwirklichung der Herrschaft des vierten Standes führte aber auch zu ganz ähnlichen Erscheinungen zwischen marxistischem Sozialismus und Faschismus, so in bezug auf den Kollektivismus (vgl. Schlußsatz) und seine Inszenierung von Menschenmassen.

 

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