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Der Weltbürgerkrieg und die Herrschaft des vierten Standes 2

Die Herrschaft des vierten Standes

Traditionell werden Monarchie, Aristokratie und Demokratie als mögliche Staatsformen aufgezählt, die legitim sind, so lange sie das Gemeinwohl als ihren Zweck verfolgen, also nicht den Vorteil einer bestimmten Gruppe, sondern aller Stände. Die Monarchie sollte dabei nicht einfach als ein Spezialfall der Aristokratie verstanden werden, nämlich dadurch, daß ein einziger Adliger regiert, sondern eher im Sinne eines Priesterkönigtums. Es ist gewiß kein Zufall, daß Aristoteles die Lehre von den drei Staatsformen begründete, während sein Zögling Alexander als macedonischer König einen weiten Feldzug in den Osten durchführte, wo das Priesterkönigtum nicht selten war; Alexander selbst begann dort, fußfällige Verehrung für sich zu fordern. Als Priesterkönig (vgl. Melchisedek in Gen. bzw. 1. Mose 14) regiert ein Vertreter des Standes, den wir als ersten zu zählen pflegen. Die Aristokratie ist die Herrschaftsform adliger Krieger, des Wehrstandes. Die Demokratie entspricht der Herrschaft des dritten Standes, des Nährstandes, der großen Menge freier Bürger. – Von Ständen statt Klassen spreche ich, um die Assoziation mit dem Begriff der Klassen verbundener marxistischer Lehrmeinungen zu vermeiden, vor allem die Behauptung eines unvermeidlichen Klassenkampfes, der jede Gesellschaft spaltet, jedes Volk zerreißt.

Ein kurzer geschichtlicher Überblick veranschauliche das Entstehen der drei Stände in den europäischen Kulturen. Den Anfang bildete der dritte Stand, denn er sichert die ökonomische Grundlage der Gesellschaft. – Nach den Jägern und Sammlern konstituierte sich im alten Europa während des ausgehenden 7. Jahrhtausends v. Chr. die Donaukultur. Deren neolithische Gesellschaft war egalitär organisiert, d.h. es gehörte die Vielzahl der Menschen demselben Stand an, dem nämlich, der später als dritter bezeichnet wurde. Jede Familie verfügte über die zur Sicherung ihrer Existenz nötigen Produktionsmittel. Dabei handelte es sich zunächst um Grund und Boden, doch auch das Handwerk blühte bereits, vor allem die Töpferei, und so mögen einzelne besonders Begabte bereits damit begonnen haben, sich zu spezialisieren; hinzu kam der Handel, der das dörfliche Leben mit Gütern bereicherte, die nicht in jeder Siedlung der Donaukultur hergestellt werden konnten. Es mag aber auch durch Unglück Verarmte oder Kriegsgefangene gegeben haben, die als mehr oder weniger Unfreie Dienste leisteten und ihr Leben einer Familie als Knechte bzw. Sklaven zugeordnet fristeten; in ihnen hätte der vierte Stand seine frühesten Vertreter.  – Nach und nach gingen weite Teile des alten Europa unter dem Einfluß der Donaukultur zur neolithischen Lebensweise über.

Seit der Mitte des 5. Jahrtausends v. Chr. unterwarfen Indoeuropäer in mehreren Wellen die neolithischen Kulturen des alten Europa. Die Indoeuropäer werden ihre Herrschaft in der Form einer Militäraristokratie ausgeübt haben. So konstituierte sich über dem Nährstand der Wehrstand. In manchen Gegenden blieb diese Gesellschaftsform lange erhalten, so in Sparta. Meist aber wuchsen Sieger und Besiegte allmählich zu einer Volksgruppe mit indoeuropäischer Sprache zusammen.

Zum Erben der Kultur der Donauzivilisation entwickelte sich Griechenland: Von der Donaukultur wurde seit der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends der Bereich der Ägäis geprägt, und dieser wirkte auf das seit etwa 2000 v. Chr. entstehende mykenische Griechenland zurück. Rom wiederum wurde Erbe der antiken Kultur Griechenlands und übermittelte diese in lateinischer Sprache dem Mittelalter.

Je komplexer die Gesellschaft wurde, desto vielfältiger wurden auch die Möglichkeiten, die Macht im Staate innezuhaben. Die römischen Patrizier waren ein Kreis von Familien, die einen Pater, einen Vorfahren (wörtl. Vater), aufzuweisen hatten. Bei ihnen handelte es sich wohl ursprünglich um Krieger, während die von ihnen regierten Plebejer (von plebs, Volk) den Nährstand bildeten. Doch schon früh gingen auch die Patrizier dazu über, selbst Landwirtschaft zu betreiben; auf andere Tätigkeiten des dritten Standes wie Handel und Gewerbe verzichteten sie. Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. erlaubte ein Gesetz Eheschließungen zwischen Patriziern und Plebejern, wodurch der Weg zu einer völkischen Geschlossenheit geebnet wurde. Nach und nach durften Plebejer auch Ämter übernehmen, die zuvor den Patriziern vorbehalten waren. So bewegte sich die Gesellschaft einerseits auf eine Teilhabe aller am dritten Stand zu; Besitz statt Herkunft wurde zunehmend zum Maßstab. Latifundienbesitzer bestimmten im Staat, wenngleich noch immer Wahlen zur Besetzung von Ämtern der Republik durchgeführt wurden; da der Staat nun die Interessen der Großgrundbesitzer allen anderen überordnete, kann man von einer Oligarchie sprechen; freilich ist dies traditionell die Bezeichnung der entarteten Regierung einer Aristokratie, also des 2. Standes, doch sie paßt als „Herrschaft der Wenigen“ ebenso zum dritten Stand, wenn ein kleiner Kreis innerhalb desselben den Staat seinem Partikularinteresse unterwirft. – Andererseits führten die unablässigen Kriege Roms bis etwa zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. dazu, daß viele der Bauernfamilien, die die Legionäre gestellt hatten, verarmten. Ihre Angehörigen wurden zu Proletariern, zu Angehörigen des vierten Standes, die sozusagen nichts besaßen außer ihrer Nachkommenschaft (proles). Die ihnen ab etwa 100 v. Chr. ermöglichte Aufnahme in die von Wohlhabenden aufgestellten Legionen eröffnete die Perspektive der Ansiedlung als Bauern nach Ableistung des Kriegsdienstes, also eine Wiedereingliederung in den dritten Stand.

Der vierte Stand schwoll in Rom über die Maßen an durch die massenhafte Versklavung Kriegsgefangener. Es kam im beginnenden 1. Jahrhundert v. Chr. zu einem Aufstand, angeführt von Spartacus. Die sich erhebenden Sklaven hatten nicht vor, etwa einen Staat des vierten Standes zu errichten, in dem sie dieselben Dienste leisten wie bisher, wobei statt der vielen Herren eventuell ein König oder ein Rat sie regierte, sondern sie wollten heimkehren oder als Freie leben, also den Status eines Angehörigen des vierten Standes loswerden. Das Vorhandensein eines vielköpfigen vierten Standes führt also nicht automatisch zu dem Bestreben, diesen Stand zum Herrschenden zu erheben. – Im Römischen Reich milderte sich das Sklavenproblem allmählich dadurch, daß das Imperium seit der frühen Kaiserzeit kaum mehr zu expandieren vermochte und daß die Zahl der Freigelassenen, die ihrem Patron auch weiterhin verpflichtet waren, zunahm, wodurch die Anzahl der Sklaven abnahm.

395 wurde das Römische Reich geteilt, 476 ging der Westteil unter; auf dem Gebiet seiner Provinzen errichteten die im Zuge der Völkerwanderung eingedrungenen Germanen Königreiche, im lateinischen Nordafrika die Vandalen, in Hispanien die Westgoten, in Italien samt Dalmatien die Ostgoten, in Gallien die Franken und in Britannien die Angeln, Sachsen und Jüten. In der sozialen Struktur vollzog sich nun eine gewaltige Veränderung: Während der griechisch-römischen Antike hatte der Stand der Priester keine bedeutende Position innerhalb der Gesellschaft innegehabt. Dies änderte sich mit dem Sieg des Christentums in der Spätantike, denn für das (katholische) Christentum ist der Priester als Vermittler von Gnaden von konstitutiver Bedeutung. Hinzu kam das entstehende Mönchstum; bald begann man sich in abendländischen Klöstern um die Erhaltung der kuturellen Überlieferung der Antike zu bemühen, und zwar durch Vervielfältigung von Handschriften sowie durch Schulunterricht. Die christliche Geistlichkeit bildete den Lehrstand und gewann im lateinischen Abendland als erster Stand so große Unabhängigkeit, daß während des Mittelalters ein Überordnung der geistlichen Gewalt über die weltliche formuliert werden konnte (vor allem Bulle Unam sanctam, 1302), ohne daß die Kirche eine theokratische Regierung nach orientalischem Vorbild verfolgt hätte. – In dem stärker der antiken Tradition verhafteten griechisch geprägten Osten erlangte der erste Stand nie eine vergleichbare gesellschafte Stellung, weshalb der orthoxe Osten stets zum Staatskirchentum neigt.

Fast eineinhalbtausend Jahre nach dem Beginn des Mittelalters ereignete sich wiederum ein für die abendländischen Staaten tiefgreifender Wandel der sozialen Struktur der Gesellschaft: An die Seite der vergleichsweise geringer Zahl von Handwerksgesellen und Knechten in der Landwirtschaft traten Manufakturarbeiter. Mit der zunehmenden Industrialisierung wuchs die Arbeiter rasch, und entsprechend rapide vergrößerten sich die Städte während des 19. Jahrhunderts.

Schon während der französischen Revolution standen neben den Standespersonen, die sich empörten, Besitzlose, oft bezeichnet als Sansculotten, die eigene politische Forderungen erhoben. – Durch die nahezu rechtlose Stellung des vierten Standes nach dem Verschwinden der bis dahin herrschenden sozialen Ordnung im Gefolge der Industrialisierung, stellte sich die Frage nach einer Emanzipation des vierten Standes, ja nach seiner möglichen Stellung als herrschender Stand, dessen Regierung nur dann legitim sein konnte, wenn sie – wie jeder andere herrschende Stand – die Interessen der übrigen Stände und damit das Gemeinwohl als Zweck verfolgte. Es sei angemerkt, daß dies dem Marxismus unmöglich ist, weil eines seiner Hauptübel ja gerade darin besteht, den vierten Stand als einzigen konstituieren zu wollen, damit die aus seiner Sicht unvermeidlichen Klassenkämpfe ihr Ende finden; aber dies führt eben zur Eliminierung der anderen Stände, was in der Praxis immer wieder deren weitgehende physische Vernichtung bedeutete. So mußte sich die Frage einer alternativen Herrschaftsform des vierten Standes stellen, und die Antwort darauf war m.E. der Faschismus.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwirklichten Anhänger des Marxismus dessen Herrschaft. Ermöglicht wurde dies durch den Zusammenbruch der politischen Ordnung in Rußland während des 1. Weltkrieges. Dort übernahm 1917 die – später KPdSU – genannte bolschewistische Partei die Macht. Dies war ein Versuch, die Herrschaft des vierten Standes aufzurichten, indem man die Herrschaft des ersten Standes nachahmte: So wie nach Platon die Philosophen im idealen Staat Könige sein sollten, so hatten nun die Ideologen die Macht inne. Wie in einer Theokratie eine offenbarte und darum nicht zu hinterfragende Ordnung herrscht (vgl. Islam), so galt der Marxismus-Leninismus als Quelle der Erkenntnis, die von der Wissenschaft nur bestätigt werden durfte, was diese ihres Charakters beraubte.

Der alternative Entwurf einer Herrschaft des vierten Standes übernahm zwar vielfach das Einparteienmuster der Bolschewisten, doch orientierte man sich im allgemeinen stärker an einer militärischen Herrschaft, also am zweiten Stand. Dies war gewiß vor allem durch die Zeitumstände bedingt; der Faschismus existierte während der Zwischenkriegszeit und fand nach dem 2. Weltkrieg früher odder später allerorts sein Ende. Der Faschismus stellte das Militärische im allgemeinen ins Zentrum des sozialen Lebens, ja tendierte dazu, alle Gruppen der Gesellschaft militärisch zu organisieren. Die Demokratie wurde abgelehnt und die Machtausübung durch eine Elite befürwortet; diese qualifizierte sich allerdings – dem vierten Stand entsprechend – nicht durch ihre Herkunft, also etwa die Abstammung von Eroberern, sondern – zumindest theoretisch – durch Begabung. Dem entsprechend stand an der Spitze – ebenfalls nur theoretisch – der Beste aller als charismatischer Führer. – Im Gegensatz zum Marxismus-Leninismus war der Faschismus national organisiert, was ihn mit dem Naturrecht vereinbar machte, doch wies er insbesondere durch den Totalitarismus auch Züge auf, die ihn als entartete Herrschaftsform kennzeichneten.

Der sog. demokratische Sozialismus bzw. die Sozialdemokratie strebt nach einer Verwirklichung der Herrschaft des vierten Standes unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie. Dies wird nie dauerhaft zum Ziel führen: Zum einen weist jede Partei die Tendenz zur Elitebildung auf; das ist „das eherne Gesetz der Oligarchie“. Ein Beispiel aus jüngster Zeit verdeutlicht dies: Obwohl Peer Steinbrück von niemand je zu irgendetwas gewählt worden ist, bestimmte man ihn in der SPD zum Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2013. Als Minister hatte er den Finanzmarkt dereguliert, was zeigt, in wessen Interesse er agiert. – Zum andern verhindert die Elitebildung innerhalb der sozialdemokratischen Partei ein dauerhaftes Handeln zu Gunsten des vierten Standes, denn die Elite wird stets dazu tendieren, sich dem dritten Stand zuzuwenden, der ihren Mitgliedern beruflichen Aufsteig und finanzielle Vorteile eher ermöglichen kann als der vierte Stand; dies zieht aber als Konsequenz nach sich, daß die Parteielite auch früher oder später dazu übergehen wird, die Interessen des dritten Standes oder bestimmter Gruppen innerhalb des Nährstandes, etwa des Finanzkapitals, zu vertreten.

Es scheint schwierig, die Herrschaft des vierten Standes mit Hilfe einer einem der anderen Stände entsprechenden Regierungsform zu verwirklichen. Am ehesten scheint mir die Aufrichtung der Herrschaft des vierten Standes möglich zu sein, wenn eine direkte Demokratie verwirklicht wird, die sich nicht auf gelegentliche Volksabstimmungen beschränkt, sondern kommunal, regional und national institutionalisiert wird. Dies müßte Hand in Hand gehen mit konsequenter Verwirklichung des Prinzips der Subsidiarität, wonach alle Entscheidungen soweit wie möglich nach „unten“ zu verlagern sind. Gegenwärtig erleben wir allerdings das Gegenteilige durch europaweite Zentralisierung nach „Brüssel“.

2 Kommentare zu „Der Weltbürgerkrieg und die Herrschaft des vierten Standes 2“

  • Danke für den Text, dieser hat mein Wissen ergänzt und bestätigt. Im Grunde ist es wie ein Legospiel mit Klötzchen. Man muss aufpassen das es irgendwie hält.

    Ich glaube eine Lösung gibt es nicht wirklich ausser alle Menschen leben Gottgefällig was auch wieder schwer zu formulieren ist. 🙂 Letztlich ist jedem Stand zu misstrauen.

    Templarii – recognoscere.wordpress.com

  • virOblationis:

    @ Templarii
    Deshalb gilt es, so meine ich, bei jeder Regierungsform darauf zu schauen, ob sie dem überzeitlichen Maßstab des Konservatismus gerecht wird; er beharrt u.a. darauf, daß Gott gegeben wird, was Gottes ist und dem Kaiser, was des Kaisers ist.

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