Inhaltsverzeichnis

Frankfurter Schule: 1. Dialektik der Aufklärung

von virOblationis

Vor geraumer Zeit wiesen verschiedene Blogs auf einen Film hin, der die Geschichte der Frankfurter Schule darstellte. Die USA erschienen dabei freilich wie das unschuldige Opfer eines aus Deutschland durch Beelzebub persönlich vertriebenen Dämonen. Tatsächlich haben die USA aber die Frankfurter Schule für ihre Zwecke durchaus zu nutzen gewußt. Sie haben ihr zu solchem Erfolg verholfen, daß es nicht erstaunlich ist, wenn ihr eigenes Geistesleben dabei kontaminiert wurde. – Auf den Film hin folgten verschiedene Versuche , positive Aspekte im Werk der Frankfurter Schule aufzuzeigen.

Bei Martin Jay, für dessen Geschichte der Frankfurter Schule Horkheimer persönlich das Vorwort schrieb, ist im Kapitel VII über die vierziger Jahre die Rede von der „Betätigung einer wachsenden Zahl von Institutsmitgliedern im Dienste der [US-]Regierung“. Dabei geht es nicht etwa um Zollinspektoren oder Steuerfahnder, sondern um Mitarbeiter des Geheimdienstes OSS. Das prominenteste Mitglied der Frankfurter Schule unter den OSS-Leuten war Marcuse. – Das OSS versorgte die Institutsmitglieder nicht nur, sondern setzte sie als Teil der nicht-stalinistischen Linken in der psychologischen Kriegsführung ein; die geistige Tätigkeit während des 2. Weltkrieges bereitete gleichzeitig die Gestaltung der Nachkriegsordnung vor und damit auch die Reeducation.

Adorno und Horkheimer erwarteten im beschaulichen Kalifornien das Kriegsende und kehrten 1949/1950 nach Frankfurt zurück, nachdem die Schuttberge dort beiseite geräumt worden waren. Nun begann eigentlich erst die Erfolgsgeschichte der Frankfurter Schule. Natürlich standen ihren Vertretern in der aus den Westzonen hervorgegangenen BRD alle Türen offen; Seilschaften ließen sich leicht einrichten.

Im Exil hatte die Frankfurter Schule sozusagen die Phase ihrer Vorgeschichte abgeschlossen, denn erst dort war ihr die Loslösung vom Marxismus gelungen. Bei Jay heißt es: „Wenngleich es absolut unbillig und falsch wäre zu behaupten, Horkheimer und Adorno hätten nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nur noch oder hauptsächlich die Implikationen dieser Bücher (sc. Dialektik der Aufklärung, Minima Moralia, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft) ausgeführt…so steckt in einer solchen Feststellung doch auch eine Spur von Wahrheit. … Selbst Marcuses spätere Arbeit in Amerika…war(en)…im Keim bereits in seinen eigenen Zeitschrift-Artikeln oder in denen anderer Institutsmitglieder enthalten.“ (kursiv im Original) Diese Sätze weisen in die richtige Richtung: Tatsächlich bildet die „Dialekt der Aufklärung“ eine Art Grunddokument der Frankfurter Schule, die ihre Vorgeschichte mit der Lösung vom Marxismus abgeschlossen hatte und damit zur Neuen Linken geworden ist: Sie widmet sich zwar noch immer der „Befreiung von irgendetwas“, aber nicht mehr derjenigen der Arbeiterklasse, sondern der des Individuums; damit wurde der emanzipatorische Anspruch der Linken und ihr Erlöserpathos in den Liberalismus übertragen. Zugleich widerspricht allerdings die Neue Linke dem Fortschrittsglauben und sieht den Menschen nicht aus ökonomischer Perspektive primär als Produzenten und Konsumenten. – Die Lehre der Neuen Linken, deren Fundament die „Dialektik der Aufklärung“ bildet, wurde in verschiedener Richtung weiterentwickelt, von Adorno, Horkheimer und Marcuse. Daher soll sich der erste Teil dieses Artikels mit der „Dialektik der Aufklärung“ befassen und erst danach der Blick auf die Weiterentwicklung der Lehre gerichtet werden.

*

Als ich vor fast genau dreißig Jahren die „Dialektik der Aufklärung“ erstmals las, überkam mich dabei ein ungutes Gefühl, ich vermochte es aber nicht in Worten klar auszudrücken. Auch ein Bekannter, der von Adornos „Minima Moralia“ schwärmte, sagte ebenfalls sinngemäß: „Ich verstehe einfach nicht, was die ‚Dialektik der Aufklärung‘ aussagen will.“ Der Grund dafür besteht in der Darstellungsweise: Sätze werden lediglich assioziativ miteinander verbunden. Manches wird nur angedeutet oder ungenau umschrieben. Dieses Verfahren hat seinen Grund: Man möchte grundsätzlich alles kritisieren, ohne sich selbst der Kritik auszusetzen: Sepien machen sich mit Hilfe der von ihnen versprühten Tinte unsichtbar. – Die Unklarheit hat gewiß auch zur Folge gehabt, daß die „Dialektik der Aufklärung“ erst ganz allmählich wirken konnte, dafür aber in nachhaltigster Weise. Der Text stammt (bis auf These VII im vorletzten Teil des Buches) aus dem Jahre 1944. Veröffentlicht wurde er drei Jahre später. In den sechziger Jahren erst verbreitete sich das vergriffene Buch in Studentenkreisen mittels Raubkopien. Der noch einmal durchgesehene, aber nur von Schreibfehlern gereinigte, nicht wesentlich veränderte Text wurde 1969 neu herausgegeben.

Um dem Leser, der dies wünscht, eine weitergehende Auseinandersetzung mit der „Dialektik der Aufklärung“ zu ermöglichen, habe ich als Anhang meine Zusammenfassung des Buches diesem Artikel beigefügt; die Seitenzahlen beziehen sich auf die als Fischer-Taschenbuch ab 1971 erschienene Ausgabe. Wer es noch genauer wissen will, greife zu dem Buch selbst: Wer es fassen kann, der fasse es!

Der leichteste Zugang zu dem, was Horkheimer und Adorno schreiben, ergibt sich m.E. durch die Vergegenwärtigung des (aus stoischer Wurzel erwachsenen) traditionell katholischen Begriffes menschlicher Freiheit: Die vernunftlose Natur ist der Notwendigkeit unterworfen, d.h. Tiere z.B. haben ihren Trieben zu folgen. Die Vernunft gibt dem Menschen Freiheit, da er seinen Trieben nicht ausgeliefert ist, sondern wählen kann, ob er den Trieben folgen will oder nicht. Freilich gelingt dies dem unter der Erbsünde stehenden Menschen nur unzulänglich. – Diese Konzeption von Natur-Notwendigkeit und Geist-Freiheit wurde in modifizierter Form von Philosophen übernommen.

Die „Dialektik der Aufklärung“ hat einen defizitären Begriff von Vernunft: Sie kennt keine Welt des Geistigen und damit keine Eigenständigkeit der Vernunft, sondern nur eine, die auf die Natur bezogen ist. Sobald sie die Natur beherrschen will, verbindet sie sich mit der Natur: Wenn sie die Natur danach regiert, wird die Vernunft gewissermaßen zu deren Funktion. – Die Vernunft muß sich mit der Natur verbinden, um den Menschen aus seiner „Naturverfallenheit“, also der Notwendigkeit, zu befreien, aber sich zugleich beständig dabei kritisieren, sich also von sich selbst distanzieren, um der durch die Verbindung von Vernunft (Subjekt) und Natur (Objekt) unausweichlichen „Verdinglichung“ (des Subjekts) und damit erneuter Unfreiheit zu entgehen. Zugleich sind Subjekt und Objekt auf Grund des Erkennens des Objekts durch das Subjekt aber auch aus einer ursprünglichen Einheit in eine Situation der Zertrennung geraten, die zu überwinden ist.

Was ist damit gemeint? Nun, das Erkennen des Subjekts geschieht mittels des Allgemeinen. Man stellt z.B. fest, daß es lauter einander in bestimmten Punkten gleichende Dinge gibt, z.B. aus dem Boden Hervorwachsendes, das im Herbst eingeht und im Frühjahr wiederaufsprießt, und spricht von Pflanzen. Damit hat man das Allgemeine erfaßt, aber jede Pflanze hat auch wieder ihre Besonderheiten. Durch letztere wird jedes einzelne Exemplar zu etwas Individuellem. Demnach, so meinen Horkheimer und Adorno, müßten im Erkennen diese Besonderheiten dem, was als Allgemeines erkannt worden war, gleichgestellt werden, so daß man letztlich einer Welt von lauter einzelnen individuellen Dingen im Erkennen gerecht wird. Dies geschieht nicht, denn – so wäre hinzuzufügen – es ist aus Gründen, die eigens darzustellen wären, unmöglich und auch unsinnig. Aber, so Horkheimer und Adorno, so lange dies nicht geschieht, wird man im Erkennen den Dingen nicht gerecht, da man sie eben nur als Vertreter einer Gattung, also unter dem Aspekt des Allgemeinen, betrachtet. Alle als Objekt wahrgenommene Natur wird dadurch vom Subjekt, das sich als Individuum versteht, abgespalten, und das Subjekt, das mit der Natur nicht mehr vereint, aber doch eigentlich ein Teil der Natur ist, ist dieser und damit sich selbst entfremdet. – Dies wird in der „Dialektik der Aufklärung“ vermengt mit einer anderen Sichtweise, die sich kaum mit dem Vorigen verbinden läßt: Der Mensch herrscht mittels seines Erkennens über die Natur, bleibt an ihre Eigengesetzlichkeit aber gebunden, d.h. seine Herrschaft besteht in der Steuerung dessen, was ohnehin geschieht, aber der Mensch vermag nicht grundsätzlich zu bestimmen, daß es geschieht: Er vermag das Regenwasser in einer Tonne zu sammeln, statt es versickern zu lassen, aber er vermag nicht, den Niederschlag zum Herabfallen zu veranlassen, zumindest nicht von einem wolkenlosen Himmel. So bleibt er auch in seinem Herrschen über die Natur an die Notwendigkeiten der Natur gebunden und erlangt Freiheit erst dadurch, daß er sich beim Sammeln des Regenwassers kritisiert und sich bewußt wird, daß er es ebenso versickern lassen könnte oder dies auch tut; so ist er einerseits nicht mehr (absolut) abhängig vom Fallen des Regens, also der natürlichen Notwendigkeit enthoben, und andererseits der Sklaverei des Wassersammelns glücklich entronnen. Oder noch besser: Einer macht sich die Mühe, das Regenwasser zu sammeln, während der andere, der auch davon trinkt, ihn dabei stört, um die Unfreiheit beider zu beenden. Wenn man dem Nörgler vorhält: „Deine eigene Existenz setzt das Prinzip [des Wassersammelns] voraus, dem du dich entwinden möchtest“, dann antwortet er: „Das leugne ich nicht, aber der [subjektiv von mir geäußerte] Widerspruch ist notwendig. Er ist die Antwort auf den objektiven [Widerspruch] in der Gesellschaft.“ (Dialektik der Aufklärung, Aufzeichnungen und Entwürfe, Widersprüche (S. 213))

Als Folge dieser beiden miteinander nicht kompatiblen Aufassungen von Subjekt und Objekt wird eine der Natur – und damit auch der Natur des Menschen – nie gerechtwerdende Herrschaft des Allgemeinen postuliert, die zur Trennung von Subjekt und Objekt geführt habe. Sie beginnt bereits in frühester Zeit, nämlich mit den Mythen, die die Welt erklären. Nach einer Phase des Christentums, das Erlösung durch Opferung der Vernunft anstrebte, kam die Aufklärung. Sie vollendet sich mit der Ablösung von Allgemeinbegriffen durch Zahlen, mit Hilfe derer die Wirklichkeit erfaßt, die Natur als Steinbruch genutzt wird, um die Welt zu erbauen, die das entfremdete Subjekt zum Selbst-Erhalt braucht.

Selbst-Erhalt habe ich, anders als Horkheimer und Adorno, getrennt geschrieben, um damit anzuzeigen, daß es um etwas anderes geht, als man gemeinhin darunter versteht. Das Selbst verstehen die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ nicht einfach als das Subjekt selbst, sondern als dessen entfremdeten Zustand. Die Selbst-Erhaltung erhält deshalb den Zustand der Entfremdung aufrecht. – Dieser spiegelt sich in der Gesellschaft wider, indem die Herrschenden mit den Beherrschten so verfahren wie alle insgesamt mit der Natur; dies ist der Sinn der oben wiedergegebenen Antwort des Nörglers. So ist die Gesellschaft der vollendeten Aufklärung der Faschismus mit seiner radikalen Beseitigung alles Individuellen, und die liberalen Gesellschaften des Westens befinden auf dem Wege dorthin, aufgehalten nur durch die Kritik alles Bestehenden, die das Verschwinden des Individuellen verhindert. – In [stalinistisch inspirierter] Abwandlung dieses Gedankens skandierten wir auf Demos: „Kapitalismus führt zum Faschismus, Kapitalismus muß weg!“ und „USA – SA – SS!“

Das Verhältnis der Herrschenden gegenüber den Beherrschten wiederum spiegelt sich im Verhältnis zum eigenen Körper als Teil der entfremdeten Natur wider. Als Subjekt und Objekt noch nicht voneinander getrennt waren, bestand das menschliche Verhalten darin, seine körperlichen Bedürfnisse zu stillen. In entfremdeten Verhältnissen findet die Rückwendung zu diesem Zustand ihren Ausdruck im Genuß; zugleich herrscht gegenüber dem anderen [Entfremdeten] Mitleid. M.a.W. wenn man nicht damit beschäftigt ist, andere zu kritisieren, befaßt man sich mit der Befriedigung der eigenen animalischen Triebe und hat für alle, die dies nicht tun, nur Bedauern übrig.

*

Anhang

Dialektik der Vernunft

Text* 1944, ergänzt um die letzte These der „Elemente des Antisemitismus“

veröffentlicht (Amsterdam 1947), vergriffen und Neuausgabe (Frankfurt 1969)

* ein Wust von kaum mehr als assoziativ miteinander verbundenen Sätzen (anders nur in der Vorrede und zu Beginn der Aufzeichnungen und Entwürfe am Schluß des Buches)

Zu diesem Buch heißt es bei Jay (S. 300): „Wenngleich es absolut unbillig und falsch wäre zu behaupten, Horkheimer und Adorno* hätten nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nur noch oder hauptsächlich die Implikationen dieser Bücher (sc. Dialektik der Aufklärung, Minima Moralia, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft) ausgeführt…so steckt in einer solchen Feststellung doch auch eine Spur von Wahrheit. … Selbst Marcuses spätere Arbeit in Amerika…waren…im Keim bereits in seinen eigenen Zeitschrift-Artikeln oder in denen anderer Institutsmitglieder enthalten.“ (kursiv im Original) Diese Sätze weisen in die richtige Richtung: Tatsächlich bildet die „Dialekt der Aufklärung“ eine Art Grunddokument der Frankfurter Schule, die ihre Vorgeschichte mit der Lösung vom Marxismus abgeschlossen hat und damit zur Neuen Linken geworden ist: Sie widmet sich zwar noch immer der „Befreiung von irgendetwas“, aber nicht mehr derjenigen der Arbeiterklasse, sondern der des Individuums; damit wurde der emanzipatorische Anspruch der Linken und sein Erlöserpathos in den Liberalismus übertragen. Zugleich widerspricht allerdings die Neue Linke dem Fortschrittsglauben und sieht den Menschen nicht aus ökonomischer Perspektive primär als Produzenten und Konsumenten. – Die Lehre der Neuen Linken, die deren Fundament die „Dialektik der Aufklärung“ bildet, wurde in verschiedener Richtung weiterentwickelt, von Adorno, Horkheimer und Marcuse.

* Adorno kehrte 1949 zurück, Horkheimer 1950

S. 1 – 6 Vorrede

Die Vff. sprechen von „Naturverfallenheit der Menschen“. (S. 4) [Die Natur verdinglicht; sie kennt keine Freiheit: Die Natur widerspricht der Eigenständigkeit des (menschlichen) Subjekts.]

[Ihr gegenüber ermöglicht der Geist menschliche Freiheit, denn er ist] „Negation der Verdinglichung (S. 4)

Daher steht für die Vff. fest, „daß die Freiheit in der Gesellschaft* vom aufklärenden Denken unabtrennbar ist.“ (S. 3)

* Anm. vO: Freiheit gibt es also nur als gesellschaftliche Größe

[Aber:] Aufklärung bringt Freiheit – und stets zugleich Rückschritt. (S. 3)

[Denn:] „…die Unterwerfung alles Natürlichen unter das selbstherrliche Subjekt [gipfelt] zuletzt gerade in der Herrschaft des blind Objektiven, Natürlichen…“ (S. 5)

[Hintergrund: Die „Dialektik der Vernunft“ hat einen defizitären Begriff von Vernunft: Sie kennt keine Welt des Geistigen und damit keine Eigenständigkeit der Vernunft, sondern nur eine, die auf die Natur bezogen ist. Sobald sie die Natur beherrschen will, verbindet sie sich mit der Natur; auch wenn sie die Natur danach dirigiert, wird die Vernunft gewissermaßen zu ihrer Funktion. – Die Vernunft muß sich mit der Natur verbinden, um den Menschen daraus zu befreien, aber sich zugleich beständig dabei kritisieren, sich also von sich selbst distanzieren, um der durch die Verbindung unausweichlichen „Verdinglichung“ und damit erneuter Unfreiheit zu entgehen.]

Dann kehrt der vor-aufklärerische Zustand, der Mythos, zurück. (S. 3)

Dies geschieht „seit je“, sobald die Vernunft über Kritik hinausgeht und in den Dienst des Bestehenden tritt. (S. 2)

„Aporie“ (S. 3)

„…schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“ (S. 5)

Es findet „die Selbstzerstörung der Aufklärung“ statt. (S. 3)

[Beispiel:] Zwar erfolgt eine Steigerung der Produktivität, wenn die Vernunft die Natur beherrscht, doch „Der Einzelne wird gegenüber den ökonomischen Mächten vollends annulliert.“ (S. 4)

[Gegenwärtig konkretisiert sich der Rückschritt im] Faschismus. (S. 5)

[Faschismus ist] Barbarei, die auf „nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien“ [der Wissenschaft] gründet, wie Menschen früher auf Mythen. (S. 3)

Die Menschheit versinkt [1944] trotz Wissenschaft und Aufklärung in Barbarei.

[Im Gegensatz zur Barbarei steht] die „aufgeklärte(n) Zivilisation“ [des Westens]. (S. 6)

S. 7 – 41 Begriff der Aufklärung

Aufklärung: Verstand soll über die Natur gebieten, sie beherrschen; Beispiel: Francis Bacon

Bereits der Mythos ist nicht eins mit der Natur, denn seine Götter bedeuten natürliche Phänomene, sie sind nicht identisch damit.

Die Aufklärung setzt nur radikaler die Herrschaft über die Natur durch als der Mythos.

„Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.“ (S. 15)

Am Beginn des Prozesses, der mit Mythos und aufklärung fortgesetzt wurde, steht das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt als Entfremdung durch Bezeichnung erst mit Zeichen (Hieroglyphen), dann Begriffen. [Der Allgemein-Begriff enthält stets auch das, was das konkrete Einzelne nicht ist; dadurch entsteht Distanz zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem. – Anm. vO: Das stimmt natürlich nur, wenn es ausschließlich Individuelles gibt und das Bezeichnete deshalb wesentlich nicht das ist, was der Begriff zum Ausdruck bringt.] (S. 17ff.)

Kunst als Nachahmung [des Natürlichen will Subjekt und Objekt wieder vereinen; dasselbe versuchen vergeblich] religiöser Glaube und Philosophie. (S. 20ff.)

„Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als die Vernunft in der Wirklichkeit.“ (S. 23) [sprachlich mißlungen; müßte heißen: „…, der Wirklichkeit als die Vernunft.“ Gemeint ist, daß das Allgemeine dem Einzelnen wie die Vernunft der Wirklichkeit bzw. der Natur gegenübersteht.]

Wie der Allgemein-Begriff dem Einzelnen nicht gerecht wird, so die Allgemeinheit dem einzelnen Menschen: „… stets trägt die Unterdrückung der Gesellschaft die Züge der Unterdrückung durch ein Kollektiv.“ (S. 23)

Die Aufklärung ist nominalistisch. An die Stelle des Begriffs tritt die Mathematisierung. (S. 24)

Im einzelnen Menschen besteht der Widerspruch [zwischen Allgemeinem und Besonderem] in Gestalt von [Über-Ich und Ich. – Die Freudschen Begriffe werden nicht gebraucht, sind aber der Sache nach vorhanden: Das Über-Ich als Widerspiegelung des Allgemeinen bzw. der Gesellschaft mit ihren Forderungen im Einzelnen.] (S. 29)

Das Selbst [entspricht mehr oder weniger dem Über-Ich* und] widerspricht [dem Es bzw.] der Lust [(als Ausdruck des mit dem Objekt verbundenen Subjekts); Freiheit gewinnt das Ich nur in kritischer Distanzierung vom Über-Ich]. (S. 32) [Das Thema „Lust“ klingt hier nur an einer Stelle an – zumindest so weit ich sehe; erst im Exkurs I nimmt es breiteren Raum ein. Es bildet den Anknüpfungspunkt für Marcuse.]

* Im „Selbst“ kehrt die „autoritäre Persönlichkeit“ in noch allgemeinerer Form wieder. – Zum Selbst als dem entfremdeten Subjekt s.u. Exkurs I

[Wegen der Herrschaft des Allgemeinen mittels des Über-Ichs] herrscht das Streben nach Selbst-Erhalt [statt Lustbefriedigung]. (S. 29ff.)

S. 42 – 73 Exkurs I

Odysseus oder Mythos und Aufklärung

In der Odyssee herrscht nicht mehr der Mythos vor, sondern aufklärerische Motive [der Unterwerfung der Natur, obwohl] der Protagonist den Naturgewalten ausgesetzt erscheint.

[Aus der Trennung von Subjekt und Objekt gehen] das Selbst und die entseelte Natur hervor. Dies wird erreicht durch das Opfer [bzw. die Opferung des im Einklang mit der Natur befindlichen Daseins]: Dies [bzw. diese] ist eine List, die zur Beherrschung der Natur führt, [obwohl das Opfer Ausdruck der Niederlage des Subjekts zu sein scheint (vgl. victor quia victima), denn das Subjekt entledigt sich dabei nur seines früheren Zustandes, um den entfremdet-herrschenden anzunehmen.]

Das Selbst gleicht der Starrheit der entseelten Natur. (s. S. 53)

Textkostprobe (der tw. ungenauen, stellenweise auch mißlungenen Ausdrucksweise voller Wortgeklingel: „Selbsterhaltende List lebt von jenem zwischen Wort und Sache waltenden Prozeß.* Die beiden widersprechenden Akte des Odysseus in der Begegnung mit Polyphem, sein Gehorsam gegen den Namen und seine Lossage von ihm, sind doch wiederum das Gleiche. Er bekennt sich zu sich selbst, indem er sich als Niemand verleugnet, er rettet sein Leben, indem er sich verschwinden macht. Solche Anpassung ans Tote** durch die Sprache enthält das Schema der modernen Mathematik***.“ (S. 56)

* Wieso waltet ein Prozeß zwischen Wort [des Subjekts] und Sache [als Objekt]?

** Polyphem ist doch gar nicht tot; daher gilt er an anderer Stelle als Ausdruck des noch von der Natur nicht getrennten menschlichen Daseins. „…Odysseus…erhält sich am Leben durch Mimikry ans Amorphe. Er nennt sich Niemand, weil Polyphem kein Selbst ist…“ (S. 62)

*** Die Mathematik wird hier wieder angeführt wegen der Ansicht, sie sei moderne Fortsetzung des vom entfremdeten Subjekt zuvor gebrauchten Begriffe.

[Die Unklarheit im Ausdruck ist nicht nur Schwäche, sondern zugleich Programm, denn man will ja nur andere Gedankengebäude kritisieren, aber nicht selbst eines entwickeln, das wiederum von anderen kritisiert werden könnte; da man aber die eigene Sicht nur darstellen kann, indem man sie als in sich stimmige vor dem Leser vor Augen stellt, ist es nicht möglich, dabei kein Gedankengebäude zu präsentieren: Um diesem Widerspruch zu entgehen, bleibt nur auf Unklarheit zu setzen.]

[In der patriarchalisch strukturierten Gesellschaft entspricht der Mann dem Selbst, dem entfremdeten Subjekt, und] „…Repräsentantin der Natur ist die Frau…“ (S. 66) [Der entseelten Natur wiederum entspricht] „…die Ehefrau[, denn sie] verrät Lust an die feste Ordnung von Leben und Besitz…“ (S. 68)

S. 74 – 107 Exkurs II

Juliette oder Aufklärung und Moral

[Zusammenfassung: Als das Subjekt vom Objekt noch nicht getrennt war, bestand das Verhalten des Menschen uneingeschränkt in der Befriedigung seiner Bedürfnisse. In entfremdeten Verhältnissen findet die Rückwendung zu diesem Zustand ihren Ausdruck im Genuß.]

Die Vernunft befreit von religiöser Autorität, bietet selbst aber keine inhaltlichen Vorgaben für das Handeln, sondern kennt nur die Selbst-Erhaltung [statt der Befriedigung von Bedürfnissen].

Das Irrationale wollte die Aufklärung durch die Vernunft überwinden, doch wirkt es unter der Herrschaft der Vernunft im Streben nach „Selbsterhaltung (hat) als Naturtrieb“ (S. 83) fort. Es gibt der Vernunft den Inhalt, der ihr fehlt.

Das Denksystem (Kant als Beispiel) benutzt die Natur als Steinbruch zur Errichtung einer Welt nach eigenen Vorstellungen. Das dem entsprechende Handeln [zielt] auf eine Allgemeinheit lauter gleicher Subjekte [ab bzw. setzt diese voraus]. Kants Moral fordert ein moralisches Verhalten, das der Religion entspricht, nicht der von ihm propagierten Aufklärung. Deren Verhalten [jenseits von Moral und Amoralität] ist reines Streben des Subjekts nach seinem Gewinn (de Sade als Beispiel) [zur Erhaltung des Selbst].

Dabei sollen (nach Nietzsche) die Starken über die Schwachen triumphieren (S. 88ff.), denn jeder behandelt den anderen wie die Natur, die als bloße Materie betrachtet wird. (S. 90) Dies entspricht der Moral in de Sades „Histoire de Juliettes (1797)“. Bei Nietzsche wird dasselbe in kleinem Maßstab als kriminell angesehen, in großem Maßstab hingegen gepriesen. – In beiden Fällen wird im Schwachen die Natur bekämpft, die in Wahrheit [auch] die eigene ist.

Weil die Juden so lange nicht herrschen konnten, gleichen sie in der Gesellschaft der Frau, nicht den Männern als Stärkeren. (S. 101)

„Die Herrschaft über die Natur reproduziert sich innerhalb der Menschheit.“ (S. 99) „Für die Herrschenden [in der Gesellschaft] aber werden die Menschen zum Material wie die getrennte Natur für die [nicht über andere herrschenden Angehörigen der] Gesellschaft.“ (S. 79) Daher führt die Aufklärung zu Imperialismus (S. 81) und Faschismus (S. 79).

Dagegen wurde die Versöhnung von Natur und Selbst als Utopie von der revolutionären Avantgarde [des Marxismus] verkündet. (S. 82)

Der [Herrenmoral] entgegengesetzt ist das Mitleid (S. 92f.) Doch ist es auf das Besondere begrenzt (S. 93)

Der Genuß ist Ausdruck der Sehnsucht nach der Natur [als Wiedervereinigung des Subjekts mit dem Objekt], obwohl die Natur Genuß nicht kennt; „sie bringt es nicht weiter als bis zur Stillung des Bedürfnisses.“ (S. 94) „In ihm (sc. dem Genuß) entledigen die Menschen sich des Denkens, entrinnen der Zivilisation.“ (S. 95) In frühen Gesellschaften fand dies seinen Ausdruck in Festen als gemeinschaftlichen Orgien. (S. 95)

Die Aufteilung in Liebe (als Zuneigung zu einer Person) und sexuelle Befriedigung (mit Hilfe einer Person) ist sekundär. [Ursprünglich ist eigentlich nur das Letztere (s. S. 98f.). – Überwindung der Trennung von Subjekt und Objekt bedeutet also wieder im Verhalten gegenüber anderen lediglich die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu erstreben.]

S. 108 – 150 Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrieb

Die Kulturerzeugnisse einer Gesellschaft vollendeter Aufklärung sind durch und durch standartisierte Massenartikel.

Kunst wird zur Ware. (S. 141)

Die Kulturindustrie entspricht Liberalismus und Kapital[ismus]. – „Aufklärung besteht dabei vor allem im Kalkül der Wirkung und der Technik von Herstellung und Verbreitung; ihrem eigentlichen Gehalt nach erschöpft sich die Ideologie in der Vergötzung des Daseienden und der Macht, von der die Technik kontrolliert wird.“ (S. 5)

Der Massengeschmack ist entscheidend für das Geschäft und damit das Angebot der Kulturindustrie. [Man muß dann aber fragen, warum der Massengeschmack mit dem Stil übereinstimmt, der doch nur die Unterdrückung der Masse zum Ausdruck bringt. Die Antwort darauf lautet:] „Zugleich aber hat die Mechanisierung [der Arbeitswelt] solche Macht über den Freizeitler und sein Glück, sie bestimmt so gründlich die Fabrikation der Amüsierwaren, daß er nichts anderes mehr erfahren kann als die Nachbilder des Arbeitsvorganges selbst.“ (S. 123) [M.a.W. der Werktätige ist ein kompletter Idiot. – Deutlicher konnte man die Abwendung vom Marxismus kaum zum Ausdruck bringen.]

„Was nicht konformiert, wird mit einer ökonomischen Ohnmacht geschlagen, die sich in der geistigen des Eigenbrötlers fortsetzt.“ (S. 120) [Wer nicht mit der Allgemeinheit und dem sich daraus ergebenden Stil übereinstimmt, wird isoliert und damit wirkungslos gemacht.]

„Massenkultur entschleiert damit den fiktiven Charakter, den die Form des Individuums im bürgerlichen Zeitalter seit je aufwies…“ (S. 139) [Mit „Form des Individuums“ dürfte nichts anderes als das Individuelle des Individuums gemeint sein, also das, was das Individuum zu dem macht, was es ist, was es von anderen unterscheidet. Ist demnach das Individuelle fiktiv, existieren im Grunde genommen keine Individuen, sondern – abgesehen von wenigen glücklichen Ausnahmen wie Horkheimer und Adorno nur Massenmenschen. Denn] der „Einzelne…[ist] das Produkt ihrer (sc. der [bürgerlichen] Gesellschaft) ökonomisierten und sozialen Apparatur.“ (S. 139) [Daher auch] gleichen die Konsumenten den Produkten der Kulturindustrie. (S. 150)

„Eitel die Hoffnung, daß…den Menschen die lügenhafte Unterschiebung des Stereotypen fürs Individuelle von selber unerträglich werde.“ (S. 140)

Der vorherrschende Stil entstpricht stets dem vorherrschenden Allgemeinen und damit der gesellschaftlichen Hierarchie.

„Kulturindustrie…[widerspiegelt] die Welt, die sie tendenzlos verdoppelt.“ (S. 133)

Einerseits wird festgestellt, daß die Kulturindustrie lauter Sexuelles darbietet, andererseits, daß dieses nicht befriedigt. Daraus wird geschlossen, daß das wahre Kunstwerk die Triebbefriedigung nur als eine von den herrschenden Verhältnissen Versagte darstellt und somit die Aussicht darauf offen hält. (S. 126) „Die großen Künstler waren niemals jene, die Stil (sic!) am bruchlosesten verkörperten, sondern jene, die den Stil als Härte gegen den chaotischen Ausdruck von Leiden, als negative Wahrheit, in ihr Werk aufnahmen.“ (S. 117) [- Auf den Gedanken, daß bloße Stillung triebhafter Bedürfnisse den von Natur vernunftbegabten Menschen nicht befriedigen kann, kommen die Autoren nicht.]

S. 151 – 186 Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung

[These] IV

Das Christentum besteht in der Aufopferung der Vernunft, und es haßt diejenigen, die dieses Opfer verweigern: „Das ist der religiöse Ursprung des Antisemitismus.“ (S. 161)

[These] VI

Antisemitismus ist Projektion ohne [selbstkritische] Reflexion.

[These] V

Die unterdrückten Wunschträume durch die Zivilisation verbotener Triebe richten sich als [Mordphantasien] gegen die Juden.

[These] III

Das ökonomische Unrecht der [kapitalistischen] Gesellschaft wird auf die Juden projiziert.

[These] II

Antisemitismus verspricht den Massen, daß es anderen nicht besser gehen soll als ihnen. An die Stelle der Juden können dabei auch andere Minderheiten treten.

[These] I

Der Begriff Rasse bedeutet in bezug auf das Judentum, daß es abgesehen von aller Assimilation auch noch seine Eigentümlichkeit bewahrt. Dieser Begriff von Rasse ist auf Nicht-Juden übertragbar: „Rasse ist heute die Selbstbehauptung des bürgerlichen Individuums…“

[nachträglich hinzugefügte These] VII

Der Industrie[produktion] entspricht die Massengesellschaft. „Nicht indem sie ihm die ganze Befriedigung gewährten, haben die losgelassenen Produktionskolosse das Individuum überwunden, sondern indem sie es als Subjekt auslöschten.“ (S. 184) – „Die Verwaltung totalitärer Staaten, die unzeitgemäße Volksteile der Ausrottung zuführt, ist bloß der Nachrichter längst gefällter ökonomischer Verdikte.“ (S. 185) Jede Minderheit ist davon bedroht, so auch die Juden. (S. 186) Es gibt keinen Faschismus ohne [diese gesellschaftlichen Verhältnisse. Faschismus ist die Konsequenz der Aufklärung, die liberale Gesellschaft des Westens kann nur durch Kritik der Aufklärung vor dem Faschismus bewahrt werden.]

S. 187 – 230 Aufzeichnungen und Entwürfe

Das Allgemeine hat keinen Vorrang vor dem Besonderen. „Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.“ (S. 196) [So gibt es schließlich nur noch individuelle Einzeldinge, die sich beliebig klassifizieren lassen: Wie kann es dann aber zu einer allgemein anerkannten Klassifikation kommen, die ja – wie oben zugegeben – das Erkennen erst ermöglicht?]

Es besteht kein grundlegender Unterschied zwischen Mensch und Tier, denn dieser ist bloß durch die Vernunft gegeben, die nichts anderes will als Unterwerfung der Natur [und daher für die Entfremdung verantwortlich ist]. (S. 219 – 227)

 

2 Kommentare zu „Frankfurter Schule: 1. Dialektik der Aufklärung“

  • Konservativer:

    virOblationis: „Sätze werden lediglich assioziativ miteinander verbunden. Manches wird nur angedeutet oder ungenau umschrieben. Dieses Verfahren hat seinen Grund: Man möchte grundsätzlich alles kritisieren, ohne sich selbst der Kritik auszusetzen“
    „Wer es fassen kann, der fasse es!“

    Als ich seinerzeit während meines Studiums Adornos “Dialektik der Aufklärung” anlas, da dachte ich „furchtbar, welch ein unlesbares Kauderwelsch“ und legte das Buch (wohl für immer) beiseite, um etwaig anfallende Knoten im Gehirn zu verleiden.

    Meinen Dank für Ihre ausführliche Analyse, virOblationis.

  • virOblationis:

    @ Konservativer
    Herzlichen Dank für Ihre anerkennenden Worte! – Ja, manchmal muß man den pädagogischen Eros schon arg strapazieren, um das vor allem für andere Erstrebte zu erreichen.

Kommentieren