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Natur und Werk

von virOblationis

Massenkarambolagen auf den Straßen, Ausfälle im Flugverkehr – Die späte Rückkehr des Winters in diesen Tagen bestätigt eine Einsicht, die jeder unverbildete Mensch ohnehin besitzt: „Im Winter kann man nicht so gut reisen wie im Sommer.“ Das will der moderne Mensch aber nicht wahrhaben, sondern plant ohne Rücksicht auf Jahreszeiten u.a. natürliche Umstände.

Man erkennt solches Denken unschwer auch in der modernen Architektur wieder, Planung ohne Rücksicht auf die natürliche Umgebung.

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Mir wird beim Anblick des dargestellten Teils eines Gebäudes ein wenig schwindelig, fast übel, weil keine Bodenhaftung dieses scheinbar nach vorn kippenden Baues erkennbar ist. Natürlich aber muß er irgendwo verankert sein; das Bild zeigt es nur nicht. Selbstverständlich ist das nur z.T. abgebildete Gebäude auch den natürlichen Bedingungen von Wind und Wetter ausgesetzt. Wie würde es nach hundert Jahren aussehen, wenn es so lange stünde?

Schaut man sich in herkömmlicher Weise, so sage ich einmal vereinfachend, errichtete Bauwerke an, so können sie mit der Zeit sogar noch an Würde gewinnen, obwohl sie doch eigentlich nur älter und unansehnlicher werden müßten. Man denke nur an römische Bauwerke. – „‚Es war schon immer so‘, ist kein Argument.“ Dies wurde mir in jungen Jahren immer wieder vorgehalten. Das ist einerseits gewiß zutreffend, andererseits kann man die Geschichte – die eigene, die eines Volkes, die von Gebäuden – nicht einfach ignorieren, denn dabei wird ihre Tiefendimension übersehen.

Ernst Jünger schreibt im Ersten Pariser Tagebuch unter dem Datum des 19. Novembers 1941: „Nachmittags bei Madame Dancart, zu deren Wohnung ein amethystenes Treppenhaus führt. Man steigt durch blaue Dämmerungen wie in der Spindel einer Meeresschnecke auf. An solchen jahrhundertealten Häusern baut die Zeit von sich aus mit. Es gibt da kleine Senkungen, Verschiebungen und Beugungen im Balkenwerk, durch welche die Maße auf eine Weise verändert werden, die dem Wachstum gleicht, und die kein Architekt ersinnen wird. Madame Dancart meinte, daß die Familien, die solche Wohnungen gemietet haben, auch nicht mehr auszögen; sie sterben in ihnen aus.“

So ist es auch im Geistesleben töricht, wenn man glaubt, auf die Reflexionen der vorangegangenen Generationen verzichten zu können. Beispielsweise findet sich die Wendung „panta rhei“, alles fließt, zur Kennzeichnung des Kerns der heraklitischen Philosophie erst tausend Jahre nach Heraklit bei Simplikios, einem Neuplatoniker; wahrscheinlich handelt es sich nicht um ein Zitat, sondern um zwei Worte, mit Hilfe derer nach jahrhundertelangem Nachdenken über Heraklit das Wesentliche von dessen Philosophie zusammengefaßt wurde.

Claude Lorrain

Wie der Mensch in die Geschichte eingebettet lebt, so auch in die Natur. – Leider ist seit dem Beginn der Neuzeit ein Gegensatz zwischen Geist und Natur, Geschichte und Natur behauptet worden, und inzwischen gehen auch Geist und Geschichte nicht mehr zusammen, was im Rahmen dieses Artikels nicht ausgeführt, sondern nur konstatiert werden kann.

Die Erinnerung an eine andere Sichtweise wurde in der frühen Neuzeit noch bewahrt. Sie findet ihren Ausdruck beispielsweise auf diesem Bild Claude Lorrains. Man sieht, wie die vom Menschen geschaffenen Gebäude in die Natur eingefügt sind. Insbesondere das über der Mitte des Bildes gelegene Bauwerk verschmilzt geradezu mit der Umgebung. Bemerkenswert scheint auch, daß es sich um ein über antiken Resten, den hohen Bögen, errrichtetes mittelalterliches Gebäude, wohl eine Burg, handelt. Die beiden Personen unterhalb der Mitte, nach links versetzt und sich nach rechts bewegend, sind ganz in das Ensemble aus Natur und Geschichte integriert, in eine durch den Menschen gestaltete Landschaft.

Nur in einer solchen Umgebung vermag der Mensch heimisch zu werden. Zwischen Bauten, die aussehen, als wären sie von einem unbewohnten Stern auf die Erde gestürzt, wird der unbehauste Mensch umhergetrieben. Er meint, nur seine selbstgesteckten Ziele verfolgen zu müssen, und spürt doch, daß von ihm unabhängige und ihm überlegene Kräfte am Werk sind. So wird auch der seit je sich vollziehende Wandel des Weltklimas registriert, doch in vermessener Selbstüberschätzung meint der moderne Mensch, nicht nur die Ursachen dieses Geschehens, das doch von geradezu ungeheurer Komplexität sein dürfte, zu erkennen, sondern es auch steuern zu können. Da fragt er sich endlich, ob denn ein früher oder später Wintereinbruch, die unerwartete Kälte, nicht doch Folge der von ihm verursachten Klimaerwärmung ist.

2 Kommentare zu „Natur und Werk“

  • Konservativer:

    Dazu fällt mir ein Begriff ein: Hybris.
    Ähnlich wie die früheren „Gottkönige“ im Orient, später die Herrscher (Caesaren = Kaiser) im römischen Reich (was mit der Vergöttlichung von Julius Caesar begann und sich dann verselbstständigte) fühlten sich bestimmte Menschen (aufgrund ihrer Machtfülle und z.T. aufgrund außergewöhnlicher Fähigkeiten) wie Götter. Gewisse Dinge scheinen sich zu wiederholen, darunter die Hybris gewisser Menschen. Laut Hans-Peter Raddatz sehen sich die heutigen Vertreter dieses Menschenschlags bereits als „Meister des Universums“, was möglicherweise den von Ihnen beschriebenen Unterschied in der Architektur erklären könnte. Vom Turmbau zu Babel über die sieben Weltwunder bis zu derartigen Gebäuden, wie Sie eines in Ihrem Beitrag angeführt haben.
    Doch das sind lediglich lose Gedanken, die mir beim Lesen Ihres Beitrags durch den Kopf gingen. Danke virOblationis !

  • virOblationis:

    @ Konservativer
    Diese Hybris grassiert auch auf weiteren Feldern gesellschaftlichen Lebens: In der Rechtsprechung durch die Loslösung vom Naturgesetz und in der Literatur, so vermute ich, als Expressionismus (der zwanziger Jahre).

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