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Staatskult 1: Unter Göttern

von virOblationis

Es wäre eine schöne Gelegenheit gewesen, heute – anläßlich des nachgeholten Festes Mariae Verkündigung – der Muttergottes einmal ganz herzlich für ihr „ja“ zu danken, das die Voraussetzung war für die Menschwerdung Gottes, dessen Geburt wir zu Weihnachten begehen. – Natürlich hat’s dies von seiten unserer Staatsführung nicht gegeben. Stattdessen wieder der übliche Kultusbetrieb: Nicht einmal eine Industriemesse mit internationaler Beteiligung kann mehr eröffnet werden, ohne vorherigen Gedenkakt.

Der antike Mensch hätte gewiß mehr Verständnis für den Staatskult gehabt als der heutige, aber auch der gegenwärtig praktizierte scheint, wie der aktuelle Fall zeigt, niemandem mehr als etwas Besonderes aufzufallen. – Man kann das Geschehen statt mit heidnischem Staatskult aber auch mit dem alttestamentlichen Tempelkult zu Jerusalem vergleichen: Es mußte dort immer wieder Sühne geschaffen werden, damit das sündige Volk vor Gott weiter bestehen konnte, also ohne dem göttlichen Gericht zu verfallen. Dabei scheint dies ist ein bemerkenswerter Aspekt zu sein: Die Priester des Alten Bundes traten bei ihren Opferriten vor Gott hin; deswegen war das Geschehen an den Jerusalemer Tempel gebunden, denn dort sollte sich die Spitze des Weltenberges befinden, der den Himmel berührt, und im Himmel thront der biblische Gott.

So stellt sich die Frage: Wer nimmt in unseren Staatskultfeiern die Stelle Gottes ein? Vor wen tritt man hin, um Entsühnung zu erlangen? – Nun, es sind die toten Opfer und damit die – verstorbenen – Gegner des Nationalsozialismus überhaupt; sie sind geraume Zeit nach ihrem Tode anscheinend kollektiv vergöttlicht worden, sine senatus consulto sozusagen, ohne offiziellen Beschluß. Den vergöttlichten Gegnern, den im Frühjahr 1945 überlebenden Siegern wie den zuvor wie auch immer Umgekommenen, gilt der deutsche Staatskult; von ihnen wird mittels eines immer wieder erneuerten Bußaktes Sühne erfleht, da das Volk noch immer es selbst geblieben und damit schlecht ist.

Welche Rolle spielen die Repräsentanten der siegreichen Staaten wie Putin am heutigen Tage?- Der darf sich gegenüber Deutschen benehmen wie ein Rüpel; aber an diesem Beispiel zeigt sich eben wieder, daß der von Byzanz geprägte Osten keine Ritterschaft und Ritterlichkeit ausbilden konnte, die dem überwundenen Gegner Achtung entgegenbringt, nicht auf ihm herumtrampelt, weder verbal noch sonstwie. (Für uns Deutsche stellt sich das Problem anders: Wir bräuchten erst einmal Siege, um danach unsere Großmut zeigen zu können.) Anstelle von Courtoisie herrscht im Osten Despotie, die nie fern ist der Grausamkeit – von Iwan dem Schrecklichen bis zu Stalin. Das bedeutet natürlich nicht, daß dort alles im Argen läge; mitnichten! Die Muttergottes wird dort sicherlich höher geehrt als bei uns, und die Moral wird eher verteidigt als hier. Die heutige Attacke der halbnackten Wilden, die mühelos unter jeder noch so niedrigen Kulturschwelle hindurchmarschieren, hat dies auf ganz eigene Weise bestätigt.

Die ausländischen Gäste gehören zwar nicht notwendig zum deutschen Staatskult, können aber mühelos integriert werden. Sie sind diejenigen, die hier und jetzt die Vergöttlichten leibhaftig abbilden, vielleicht vergleichbar mit dem hellenistischen Herrscher als epiphane, d.h. sichtbar erscheinende Gottheit.

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Vor einiger Zeit suchte ich den Kniefall Willy Brandts zu ergründen und kam zu dem Ergebnis, daß er vor überlebenden Naziopfern kniete, um die deutsche Kollektivschuld ihnen gegenüber zu bekennen. – Angesichts meiner obigen Überlegungen, meine ich den Kniefall noch besser zu verstehen: Er kniete bei einer sozusagen nach Warschau verlegten Zeremonie des deutschen Staatskultes nicht einfach vor Menschen, sondern als Büßer vor solchen, die zu den sichtbaren Gottheiten gehören, hinter denen die Vergöttlichten stehen, die Entsühnung gewähren können.

 

 

4 Kommentare zu „Staatskult 1: Unter Göttern“

  • Konservativer:

    Sehr geehrter virOblationis
    Ihre „Staatskult“ Aufsätze haben mich zum weitergehenden Nachdenken angeregt. Danke.

  • virOblationis:

    @ Konservativer
    Vielen Dank für Ihre anerkennenden Worte, verehrter Konservativer. – Zum Verständnis der drei Staatskult-Beiträge darf ich vielleicht noch anmerken, daß ich versucht habe, ein bestimmtes Phänomen gedanklich zu erfassen, was mir aber nur sukzessiv gelang: Ich hatte anfangs gar nicht geplant, drei Teile zu verfassen.

  • Konservativer:

    Sehr geehrter virOblationis
    Je länger und je intensiver ich mich mit Metaebenen befasse, desto mehr stellt sich mir das Problem, eindeutige, zu 100% valide Schlußfolgerungen zu erarbeiten. Oftmals fehlen mir, zumindest nach meiner persönlichen Einschätzung, verschiedene „Steinchen“ um das „Mosaik“ zu vervollständigen. Teileinsichten und mein „Bauchgefühl“ müssen oftmals für Stellungnahmen hinreichen (etwaige Irrtümer meinerseits sind inbegriffen).
    Das zu mir.
    Aufgrund des von Ihnen gewählten Themas will ich zwei Bücher empfehlen, die zwar tagesaktuell weniger interessant sind, dennoch Nahrung für weiterführende Denkprozesse bieten (was ja ein Wert für sich ist). Beide Bücher sind von Paul Veyne, den bekannten Althistoriker aus Frankreich.

    Paul Veyne – „Die griechisch-römische Religion – Kult, Frömmigkeit und Moral“

    http://www.damals.de/de/19/Religion-ohne-Moral.html?aid=185656&cp=59&action=showDetails

    Paul Veyne – „Als unsere Welt christlich wurde (312 – 394): Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht“

    http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/paul-veyne-als-unsere-welt-christlich-wurde-312-394-aufstieg-einer-sekte-1791524.html

  • virOblationis:

    Sehr geehrter Konservativer!

    Es fällt meiner Meinung nach weit leichter, die Vergangenheit zu überschauen als die Gegenwart, denn viele Historiker u.a. Denker haben sich bereits die Mühe gemacht zu ergründen, was wesentlich an einem Zeitalter war, wie einzelne bedeutsame Faktoren einander zugeordnet waren und uns die Ergebnisse ihrer Studien mitgeteilt. In der Gegenwart fällt es mir viel schwerer, den (als Handlungsanleitung nötigen) Überblick zu gewinnen, weil der zuvor genannte Abstand fehlt. Doch können wir aus der Geschichte Lehren ziehen: Indem wir sehen, wie sich Menschen einer bestimmten Epoche verhalten haben, was für eine Rolle gesellschaftliche Institutionen dabei gespielt haben etc. können wir Vergleiche mit der Gegenwart anstellen, um unser Verständnis für diese zu vertiefen. Auch von daher also: Vielen Dank für Ihren Hinweis auf Veyne.

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