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Faule Früchte

von virOblationis

Nun wird endlich auch der Vorname des Täters bekannt, und es bestätigt sich die – angesichts des Tatgeschehens bereits gehegte – Vermutung, daß es sich um einen Einheimischen gehandelt hat: Ein gewisser Hans B. erschoß den amtierenden Hamelner Landrat und danach sich selbst. Den Anlaß dafür bildete anscheinend ein jahrelanger Rechtsstreit wegen irgendeiner Belanglosigkiet, manche melden, es sei Gartenzaun gewesen.

Abgesehen von dem Schrecken und der Fassungslosigkeit, die ein solches Verbrechen hervorruft: Es läßt auch Rückschlüsse auf den Zustand der Gesellschaft zu, in der es sich ereignet hat, wenn man dieses Verbrechen nicht ausschließlich als furchtbaren Einzelfall betrachtet, sondern als Symptom der herrschenden Verhältnisse, wodurch allerdings die persönliche Schuld nicht zu relativieren ist. Es handelt sich bei dem Täter von Hameln keinesfalls um einen Einzelfall, sondern um einen besonders brutales Beispiel des Vorgehens gegen einen Repräsentanten des Staates, seiner Verwaltung: Wie viele Behördenmitarbeiter haben bereits Erfahrungen mit Gewalttätigen gemacht! Vor nicht langer Zeit gab es den Mord an einer Angestellten eines „Job-Centers“ – doch verschieben wir die Perspektive nicht auf importierte Kriminalität, sondern bleiben bei derjenigen der Einheimischen! Woher stammt deren steigende Gewaltbereitschaft gegenüber Behördenmitarbeitern?

Betrachten wir den Fall des Hans B.! Er suchte sich, vermeintlich Recht zu schaffen, das man ihm verweigerte. Der Täter hatte den Maßstab zur Beurteilung der Bedeutung eines Gartenzauns offenbar völlig verloren. – Ist dies nicht bezeichnend für eine Zeit, in der die für alle geltenden Normen immer weiter erodieren? Anything goes. Jeder folgt seinem individuellen Lebensentwurf. Familien sind nicht durch das Muster von Vater, Mutter und Kindern bestimmt, sondern sollen überall dort sein, wo Kinder leben; diese wiederum werden immer weitgehender den individuellen Eltern entzogen und stattdessen kaserniert, damit die – geschlechtsneutral formuliert – Erziehungsberechtigten „Jobs“, d.h. von der Art der Tätigkeit her beliebige, aber möglichst hoch bezahlte Lohnarbeit, übernehmen können, womit sie – unabhängig voneinander – ihrer jeweiligen „Karriere“ nachgehen.

Nicht nur allgemein verbindliche Normen werden immer weiter abgeschwächt, sondern auch sämtliche sozialen Strukturen traditioneller Art verlieren ihre Verbindlichkeit. Wenn die einzelnen immer weitgehender sich selbst überlassen sind, werden sie ihre eigenen Wertvorstellungen entwickeln, und daß sie damit überfordert sind, zeigt sich eben in krassester Weise, wenn sie meinen ihr Gartenzaun oder etwas anderes im Grunde Belangloses sei von existentieller Bedeutung für sie. – Dies entspricht der herrschenden Ideologie, die Rechte nur dem einzelnen (auf Grund der Menschenrechte) zuerkennt, nicht – oder nur dem vorigen untergeordnet – hingegen Familien und Staaten bzw. deren Oberhäuptern. Die Gesellschaft soll aus lauter Individuen bestehen, und der Staat verhält sich entweder liberal, indem er sie gewähren läßt, oder totalitär, indem er die einzelnen Individuen zu dirigieren sucht, aber traditionelle soziale Strukturen fehlen in beiden Fällen.

Es gibt Spielfilme, die die Selbstjustiz verherrlichen, wohl vor allem aus den USA. Da ich nur wenige nach dem Ende der sechziger Jahre gedrehte Spielfilme kenne, vermag ich dazu nichts weiter zu sagen. Sie tragen sicherlich dazu bei, den nötigen Respekt vor den Vertretern des Staates abzubauen, doch wäre es billig, Verbrechen einfach auf die Leinwand bzw. den Bildschirm zurückzuführen. Sie zeigen ja meist nur an, was ohnehin als Stimmung vorherrscht. Selbst die vereinte Medienmacht würde nur begrenzte Erfolge erzielen, wenn sie gegen ihr widrige äußere Verhältnissen angeht. Um die Menschen so nachhaltig zu Einzelindividuen zu machen, die der Gefahr ausgesetzt sind, sich nicht mehr recht orientieren zu können, bedarf es einer sehr langen und tiefgreifenden Entwicklung.

Das Motiv des Menschen, dem sein Recht vorenthalten wird und der darum meint, es sich selbst verschaffen zu müssen, findet sich schon in Kleists* Kohlhaas. Natürlich stellt die Novelle es so dar, daß Kohlhaas wirklich schweres Unrecht zugefügt worden ist, welches er nicht hinnehmen will; aber genau so dürfte sich auch Hans B. gesehen haben.

* Kleist ist auch sonst nicht unproblematisch, wie schon sein Lebensende zeigt.

Gerät auf der Suche nach den Wurzeln des Hamelner Verbrechens das absolut gesetzte Individuum ins Blickfeld, so verweist dies auf einen Ursprung der gesamten Problematik im Beginn der Neuzeit; schnelle Lösungen sind von daher nicht zu erwarten. Der Nominalismus lehrte, es gebe in der Welt nur individuelle Einzeldinge, die begrifflich geordnet werden, doch habe diese Ordnung keine Grundlage in der Natur; letztlich bleibt sie also willkürlich, und warum sollte man dann nicht zwei Väter und Kinder unter dem Begriff Familie zusammenfassen?

Auf religiösem Gebiet trug der Nominalismus entscheidend zur Herausbildung des Protestantismus bei: Es gibt nur lauter Individuen, unmittelbar zu Gott; daher auch das verbreitete Wort, vor Gott seien alle Menschen gleich. – Ohne jemandem persönlich zu nahe treten zu wollen: Protestantismus ist in meinen Augen religiöser Liberalismus. Es fehlt ihm die Auffassung, daß der mystische Leib Christi aus lauter verschiedenen Gliedern besteht, wonach man sich als eines davon verstehen kann, von Anfang an angewiesen auf andere, die die Taufe vornehmen, die religiöse Erziehung gewährleisten, die weiteren sakramentalen Gnaden vermitteln etc.

 

2 Kommentare zu „Faule Früchte“

  • WilhelmZwo:

    Sehr geehrter virOblationis,

    im Kern kann ich mich ihrer Aussagen anschließen.
    Doch werde ich sie jetzt um einen Aspekt erweitern.
    Wir erleben in diesen Zeiten eine Reglementierung und Pressionen im täglichen Bereich, besonders dem Ordnungs -und Waffenrecht betreffend, das meist die alteingesessenen, autochtonen Gesellschaftsschichten betrifft.
    Exsessive Vorfälle des individuellen Missbrauches des Waffenrechtes dienen unseren staatstragend Funktionseliten dazu den freien Bürger immer weiter zu entmündigen.
    Vielleicht liege ich nicht ganz falsch in der Annahme, daß eine Angst davor besteht Gegenreaktionen von der Nochmehrheitsbevölkerung zu erleben, die in dem realen gesellschaftlichen Umfeld ihre Dekonstruktuion und bewußt betriebene Zerstörung erfährt.
    Ich wage zu behaupten, daß sich eine unbändige unterschwellige Wut breitmacht bei allen denjenigen, die die „Bereicherung“ im täglichen Leben „genießen.
    Aus dieser Erfahrung heraus leiten irritierte Charaktäre das Recht ab gegen ihre, überspitzt gesagt, erlebte Unterdrückung Selbstjustiz zu üben.
    Für alle Beteiligten sehr, sehr tragisch.
    Vieleicht ein Sympton für eine sterbende sich auflösende Gesellschaft.
    Mein Axiom: Sterbendes Volk und sterbende Kultur.

  • virOblationis:

    Sehr geehrter WilhelmZwo!
    Was Sie schreiben, scheint mir einleuchtend. – Halten Sie das gestrige römische Attentat für einen vergleichbaren Fall?

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