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Die Frankfurter Schule 1a: Geschichtlicher Überblick (erster Teil)

von virOblationis
Eigentlich hatte ich nach einem ersten Artikel über die „Dialektik der Aufklärung (1947)“ nur zwei weitere über Horkheimer und Adorno folgen lassen wollen, doch dieser Rahmen erwies sich als zu eng für das Thema Frankfurter Schule, das zum Verständnis unserer neueren Geistesgeschichte doch von erheblicher Bedeutung ist. So beginne ich noch einmal, und zwar mit einem geschichtlichen Überblick über fünfzig Jahre Frankfurter Schule (1923 – 1973). Darauf folgen Einzelportraits und dazu der Artikel über die „Dialektik der Aufklärung“, den ich noch einmal umgearbeitet und vereinfacht habe, um ihn noch leichter verständlich zu machen, damit es niemandem ergehe wie Siegfried Kracauer, der Leo Löwenthal 1955 brieflich mitteilte: „Ich schrieb ihm (sc. Adorno), daß ich stolz sei auf seinen Ruhm, was ihn sicher glücklich machte, und daß ich mit irgendeinem Artikel von ihm [wozu man auch die von Adorno mitverfaßte ‚Dialektik der Aufklärung‘ zählen mag, vO] nun wirklich nichts anfangen könne, worüber er weniger glücklich war. „

 

Fünfzig Jahre Frankfurter Schule (1923 bis 1973)

 

Die Vorgeschichte der Frankfurter Schule begann im badischen Steinsfurt* zwischen Heidelberg und Heilbronn. Dort wurde Hermann Weil 1868 als Sohn einer kinderreichen jüdischen Familie geboren, deren Vorfahren seit dem 18. Jahrhundert im badischen Kraichgau lebten.** Hermann Weil besuchte bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr die Lateinschule im benachbarten Sinsheim, dann erhielt er eine kaufmännische Ausbildung in der Mannheimer Getreidehandelsfirma Isidor Weismann & Co., da auch sein Vater und sein Großvater in dieser Branche tätig waren. Mit achtzehn Jahren bereits stieg Hermann Weil zum Prokuristen auf.

* seit 1973 ein Ortsteil von Sinsheim

** 1940 wurden die Juden aus Baden nach Gurs in Südfrankreich deportiert, wo nach dem Ende des Spanischen Bürgerkrieges (1936 – 1939) das größte französische Internierungslager für Flüchtlinge aus dem Nachbarland eingerichtet worden war; von Gurs wurden die u.a. dort untergebrachten badischen Juden später nach Auschwitz abtransportiert.

1888 wechselte Hermann Weil in eine Antwerpener Getreidehandelsfirma und gründete in ihrem Auftrag eine Zweigstelle im argentinischen Buenos Aires, der Hauptstadt des Landes. 1896 heiratete er eine der Töchter seines früheren Lehrherrn; zwei Kinder wurden dem Paar geboren, 1898 ein Sohn und drei Jahre darauf eine Tochter*.

* Anita Weil, geb. 1901, gest. 1951

Auf Grund gescheiterter Spekultionsgeschäfte machte die Antwerpener Getreidehandelsfirma, für die Hermann Weil arbeitete, 1898 bankrott. Daraufhin gründete der inzwischen dreißgjährige Hermann Weil noch in demselben Jahr mit zweien seiner Brüder eine eigene Getreideexportfirma, Weil Hermanos & Cie. Binnen kurzem gelang es Hermann Weil, zusammen mit zwei anderen Firmen ein Kartell zu bilden, das fast den gesamten argentinischen Getreideexport übernahm und die Preise beinahe nach Belieben diktierte. So erzielte Hermann Weils Firma phantastische Gewinne. – Ein gemeinsames Leben mit seiner Familie gab es allerdings nur zeitweilig, wenn er einmal Urlaub machte. Sonst befaßte Hermann Weil sich mit seinen Geschäften, seine Frau, die nicht einmal spanisch sprach, mit sich selbst, und die beiden Kinder wurden von einer Gouvernante erzogen.

1908 wandelte der vierzigjährige Hermann Weil seine Firma in eine Aktiengesellschaft um und zog mit Frau und Tochter nach Frankfurt. Sein Sohn Felix war bereits im Jahr zuvor dorthin gesandt worden, um das dortige Goethe-Gymnasium zu besuchen.

1913 wurde zum Schicksalsjahr der Familie. Zwar wurde Hermann Weils Villa in der Zeppelinstraße 77 fertiggestellt und konnte bezogen werden, doch seine Ehefrau erlag einem Krebsleiden. – Hermann Weil betätigte sich nun als Berater des Kieler Institutes für Weltwirtschaft, und nachdem der 1. Weltkrieg (1914 – 1918) ausgebrochen war, wurde er wegen seiner Kenntnisse des Welthandels Berater der Admiralität. Als Befürworter des uneingeschränkten U-Bootkrieges (1917 – 1918) stieg Hermann Weil zum Berater Kaiser Wilhelms II.* auf. Dieser soll von Hermann Weils Beratertätigkeit so angetan gewesen sein, daß er ihn in den erblichen Stand eines Freiherrn erheben wollte, was Hermann Weil jedoch ablehnte, da er dazu zum Protestantismus hätte konvertieren müssen.

* 1888 – 1918

Hermann Weil fühlte sich Deutschland, aber auch Argentinien verpflichtet, und so wollte er sich dafür einsetzen, daß die Falkland-Inseln bzw. Malwinen* im Falle einer Niederlage Großbritanniens an Argentinien abgetreten würden.** – Während des 1. Weltkrieges beschlagnahmten die Briten den innerhalb ihres Machtbereiches befindlichen Teil des Auslandsvermögens Hermann Weils im Wert von 33.000 Pfund Sterling, doch mußten sie ihn später herausgeben, da Hermann Weil neben der deutschen auch die argentinische Staatsbürgerschaft besaß.

* span. Malvinas

** 1982 versuchte Argentinien, die Inselgruppe zu erobern, doch siegte Großbritannien.

Hermann Weils 1898 in Buenos Aires geborener Sohn Felix José schloß seine Schulzeit am Goethe-Gymnasium 1916 mit dem Abitur ab. Es ist davon auszugehen, daß er danach wegen seiner argentinischen Staatsbürgerschaft nicht zum Militär eingezogen wurde. Zu einem nicht genau bekannten Zeitpunkt zwischen 1916 und 1918 scheint Felix Weil an der 1914 gegründeten Universität Frankfurt immatrikuliert worden zu sein. Auch das Studienfach bleibt ungewiß, denn später studierte er zwar Nationalökonomie; doch ein Lehrstuhl dafür wurde in Frankfurt erst 1919 als Stiftung des Kaufmanns Karl Kotzenberg* eingerichtet; den Ruf erhielt Franz Oppenheimer, der dort bis 1929 Soziologie und theoretische Nationalökonomie unterrichtete.** Im Jahr 1919 war Felix Weil bereits Student in Tübingen, wo Robert Wilbrandt, ein Vertreter des Genossenschafts-Sozialismus, Nationalökonomie lehrte;*** doch Felix Weil wurde wegen seiner Beteiligung an kommunistischen Umtrieben, die Deutschland in jenem Jahr 1919 erschütterten, aus Württemberg ausgewiesen. So begab er sich wieder nach Frankfurt. Anscheinend bei Franz Oppenheimer schrieb Felix Weil eine Dissertation über die Vergesellschaftung von Betrieben und wurde 1920 promoviert.

* geb. 1866, verarmt gest. 1940, nachdem er z.Z. der Weltwirtschaftskrise bankrott gemacht hatte

** geb. 1864, gest. im us-amerikanischen Exil 1943; nachdem jüdisch-deutsche Oppenheimer 1885 zum Dr. med. promoviert worden war, arbeitete er als praktischer Arzt und wandte sich dann sozialen Fragen zu; 1909 promovierte er zum Dr. phil. und war anschließend als Privatdozent an der Berliner Universität tätig.

*** 1908 – 1916 und 1919 – 1929; geb. 1875, gest. 1954

Nicht lange danach heiratete Felix Weil; die Ehe wurde bereits 1929 wieder geschieden. 1921 trat er zusammen mit seiner Ehefrau eine Reise nach Argentinien an. Während des anschließenden einjährigen Aufenthaltes sollte Felix Weils Eignung für das väterliche Gewerbe begutachtet werden. Der Sohn erwies sich als völlig ungeeignet. Stattdessen nutzte er seine Zeit in Südamerika, um Kontakt zu dortigen Sozialisten aufzunehmen. – Felix Weil gehörte einer jüngeren jüdischen Generation an, die nicht mehr patriotisch oder religiös gesinnt war, sondern zionistisch oder marxistisch.

1922, im Jahr der Rückkehr nach Deutschland, beschloß Felix Weil, künftig marxistische Projekte zu finanzieren. Unterstützung seiner Plänen fand er bei Kurt Albert Gerlach*, der seit 1922 Nationalökonomie in Frankfurt unterrichtete und dem Anarchosyndikalismus anhing. Gemeinsam entwickelten beide den Plan eines Instituts für Sozialwissenschaft, das die Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichem Überbau und ökonomischer Basis untersuchen sollte. – Felix Weil ahmte in gewissem Sinne seinen Vater nach, denn der wirkte nach dem Ende des 1. Weltkrieges als Wohltäter der Stadt Frankfurt. Insgesamt dreiundzwanzig Einrichtungen für Bedürftige unterstützte er, wobei er einzig solchen Maßnahmen jeglichen finanziellen Beitrag verweigerte, die auch Nationalisten und Antisemiten zu Gute kamen.

* geb. 1886, gest. 1923

In seinem Geburtsort Steinsfurt stiftete Hermann Weil eine Haushaltsschule, und auf dem jüdischen Friedhof eines Nachbarortes ließ er von Handwerkern und Künstlern der Umgebung ein Mausoleum für seine Ehefrau, sich selbst und seine Krankenpflegerin errichten. Wenige Wochen nach der Fertigstellung verstarb Hermann Weil, Ehrenbürger der Stadt Frankfurt, im Herbst 1927.

Während der „Reichskristallnacht“ (1938) sollte Hermann Weils Urne anscheinend aus dem Mausoleum entfernt werden, doch ein Bewohner des Ortes brachte sie zuvor in Sicherheit und vergrub sie auf seinem Grundstück. Nach dem Kriege wandte er sich brieflich an einen Enkel Hermann Weils, offenbar einen Sohn der 1901 geborenen Tochter. Dieser hielt sich als us-amerikanischer Beamter von 1949 bis 1954 in West-Deutschland auf. Er zeigte kein Interesse an den sterblichen Überresten seines Großvaters und verwies darauf, daß auch sein Vater Atheist sei; Felix Weils Schwester Anita, offenbar die Mutter des US-Beamten, war damals bereits tot: Sie verstarb 1951. So ist der Ort, an dem die Urne mit der Asche Hermann Weils 1938 heimlich beigesetzt wurde, in Vergessenheit geraten.

*

Aus dem mütterlichen Erbe finanzierte Felix Weil im Mai des Inflationsjahres 1923 eine „Erste marxistische Arbeitswoche“, der keine weitere folgte. Stattdessen bildete sie den Auftakt zur Wirksamkeit der im Februar desselben Jahres gegründeten Frankfurter Schule, des Institutes für Sozialforschung, denn die EMA galt offiziell als erstes Theorieseminar dieser Einrichtung. – Felix Weil und seine Ehefrau* trafen sich über die Pfingsttage mit zwanzig Gleichgesinnten im Bahnhofshotel des thüringischen Geraberg** bei Ilmenau. Zu den Teilnehmern gehörte beispielsweise der später bekannte marxistische Literaturwissenschaftler und Philosoph Georg Lukács***, Volkskommissar jüdischer Herkunft für das Unterrichtswesen der kurzlebigen Ungarischen Räterepublik (1919), sowie der im Zarenreich geborene Richard Sorge****, ein Meisterspion Stalins im 2. Weltkrieg. Im Frühjahr 1923 übernahm Gerlachs ehemaliger Assistent Sorge, der die geschiedene Frau seines Professors geheiratet hatte und ihm zusammen mit ihr nach Frankfurt gefolgt war, um erneut unter Gerlach zu arbeiten, die Organisation der EMA in Geraberg; Sorge wurde 1924 einer der beiden Hauptassistenten des Instituts für Sozialforschung, doch erhielt er nach dem (illegalen) 9. Parteitag der KPD in Frankfurt, bei dem Sorge die Delegation der KomIntern betreut hatte, 1925 den Auftrag, sich nach Moskau zur Zentrale der KomIntern zu begeben und schied damit aus dem Institut aus.

* Deren – gerade im Kraichgau geläufiger – Geburtsname Bachert weist darauf hin, daß sie nicht jüdischer Herkunft gewesen sein dürfte.

** Diese Ortschaft entstand in demselben Jahr 1923 durch Zusammenlegung der beiden Dörfer Gera und Arlesberg.

*** geb. 1885, gest. 1971

**** geb. 1895, gest. 1944; in Japan hingerichtet

Felix Weil hatte seinen Vater – nach dem tödlichen Attentat auf Außenminister Walther Rathenau* – mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer Erforschung der sozialen Ursachen des Antisemitismus veranlaßt, das Frankfurter Institut für Sozialforschung zu finanzieren, das anfangs Hermann-Weil-Stiftung hieß und an die Frankfurter Universität angegliedert wurde; diese verlieh Hermann Weil einen Ehrendoktortitel. – Zwar dachte damals niemand im Institut daran, den Antisemitismus tatsächlich zu thematisieren, dennoch kam es dazu, allerdings erst zwanzig Jahre später im us-amerikanischen Exil.

* geb. 1867, gest. 1922

Wiederum aus seinem mütterlichen Erbe ließ Felix Weil ein Institutsgebäude im Stil der Neuen Sachlichkeit errichten, während sein Vater alle übrigen Kosten für den Unterhalt dieser Frankfurter Schule übernahm. Zwar war dessen Vermögen „in abstoßender, unwürdiger Weise verdient worden“, wie sein Sohn Felix meinte; dies empfand er in bezug auf das Institut jedoch offenbar nicht als problematisch, da er das väterliche Geld ja damit einem guten Zweck zuführte.

Die Hermann-Weil-Stiftung wurde 1924 offiziell eröffnet. Da sie gemäß der Institutssatzung von einem Professor der Frankfurter Universität geleitet werden sollte und der an Diabetes leidende Gerlach inzwischen gestorben war, wurde kurzer Hand auch noch ein Lehrstuhl für wirtschaftliche Staatswissenschaften gestiftet, und der in Wien lehrende „Vater des Austromarxismus“, Carl Grünberg*, erhielt 1923 den Ruf; anschließend übernahm er die Leitung des Frankfurter Instituts. – Nach Grünbergs Auffassung sollte der Marxismus nicht dogmatisch verstanden werden; trotzdem stand Grünberg dem bolschewistischen Regime in Moskau nahe. Das Institut verzichtete auf die Bindung an eine Partei; nur einzelne – vor allem nicht-jüdische – Mitglieder der Frankfurter Schule gehörten der KPD an. Die jüdischen Institutsangehörigen neigten eher nicht-leninistischen Versionen des Marxismus zu.

* geb. 1861, gest. 1940; jüdischer Herkunft, doch zur Übernahme eines Lehrstuhls in Österreich 1909 zum Katholizismus konvertiert

Grünberg war bereits über sechzig Jahre alt und stellte nur eine Übergangslösung dar, bis einer der Jüngeren eine Professur in Frankfurt erreicht hatte; derjenige sollte dann auch das Institut für Sozialforschung leiten. Nun hatte Felix Weil während der EMA Friedrich Pollock* kennengelernt, der Nationalökonomie zuerst in München, dann in Frankfurt bei Oppenheimer studiert hatte und 1923 über die Geldtheorie von Karl Marx promovierte. Fritz Pollock aber, der Sohn eines jüdischen Mitinhabers einer Lederwarenfabrik, war als Jugendlicher aus dem badischen Freiburg im Breisgau nach Stuttgart gezogen, wo er sich mit Max Horkheimer angefreundet hatte, dem Sohn eines jüdischen Kunstwollfabrikanten aus Zuffenhausen***, eines Kommerzienrates und Millionärs. Max Horkheimer verließ das Gymnasium ohne Abitur wie Fritz Pollock; beide unternahmen vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges gemeinsam eine Reise durch Westeuropa. Beide dienten als Soldaten und holten dann das Abitur nach; und während Pollock Nationalökonomie studierte, wandte sich Horkheimer Philosophie und Psychologie zu. Ein Jahr vor Pollock promovierte Horkheimer in Frankfurt bei Hans Cornelius****, einem eigentümlichen Vertreter des Neukantianismus, der auch künstlerische Ambitionen hatte. Pollock und Horkheimer waren fast gleichaltrig, beide Einzelkinder aus nicht sehr streng religiösem Elternhaus. Horkheimer konnte zwar liebenswürdig und gewinnend auftreten, war aber im Grunde kontaktarm, stets das verwöhnte Einzelkind.***** Pollock half ihm, Beziehungen zur Außenwelt zu unterhalten; beider Freundschaft hielt ein Leben lang.

* geb. 1894, gest. 1970

** geb. 1895, gest. 1973

*** seit 1931 Teil Stuttgarts

**** geb. 1863, gest. 1947

***** So dauerte es – trotz des beständig guten Einvernehmens zwischen Horkheimer und Adorno – viele Jahre, bis Horkheimer dem Jüngeren das „du“ anbot.

Durch Fritz Pollock lernte Felix Weil nach der EMA bald auch Max Horkheimer kennen. Alle drei beteiligten sich an der Gründung des Institutes für Sozialforschung. Sie bilden gewissermaßen das Urgestein der Frankfurter Schule. Horkheimer wurde ihr Theoretiker, Pollock und Weil die Organisatoren; so übernahmen die beiden letzteren auch gemeinsam die Geschäftsführung der 1924 von Weil gegründeten Marx-Engels-Archivgesellschaft zur Förderung einer Ausgabe der gesammelten Werke und bezogen dadurch ein regelmäßiges Einkommen, was Weil allerdings kaum nötig gehabt haben wird.

Horkheimer arbeitete an einer Habilitation: Wenn er eine Professur in Frankfurt erlangte, konnte er die Leitung des Instituts übernehmen. 1925 habilitierte sich Horkheimer mit einer Arbeit über Kants Kritik der Urteilskraft. Im Jahr darauf begann er, an der Universität Frankfurt als Privatdozent zu lehren. Die Einkünfte daraus sowie die Bezüge vom Institut benötigte er für den Lebensunterhalt, denn ebenfalls 1926 heiratete Horkheimer seine langjährige Freundin, mit der er bis dahin in „wilder Ehe“ gelebt hatte, die acht Jahre ältere nicht-jüdische Privatsekretärin seines Vaters, Rosa Christine Riekher*, die er Maiden nannte. Damit waren Max Horkheimers Eltern nicht einverstanden und entzogen ihm ihre Unterstützung bis zur Aussöhnung einige Jahre später.

* geb. 1887, gest. 1969

Pollock unternahm anläßlich des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution 1927 eine Rußlandreise und sammelte Material, das er für seine 1928 erfolgende Habilitation an der Universität Frankfurt nutzte; Pollock schrieb über die Planwirtschaft in der UdSSR. – Auch Pollock scheint wie Horkheimer in dieser Zeit geheiratet zu haben; 1939 starb seine Ehefrau. Während Horkheimers Ehe kinderlos blieb, wurde Pollock anscheinend Vater einer Tochter, der späteren zweiten Ehefrau Felix Weils. Übrigens heiratete der verwitwete Pollock 1946 in die Familie Weil ein: Seine zweite Ehefrau Charlotte* könnte eine Cousine Felix Weils gewesen sein.

* geb. 1905, gest. 1983

*

Das Jahr 1928 beendete die früheste Phase der Geschichte des Instituts für Sozialforschung, denn Carl Grünberg erlitt einen Schlaganfall. Man wartete noch ab, ob er sich vielleicht davon erholen würde und übertrug einstweilen Fritz Pollock die stellvertretende Leitung des Instituts. Damit gewann dessen Freund Horkheimer beträchtlich an Einfluß innerhalb der Mitarbeiterschaft; dies bedeutete zugleich eine Schwächung des bis dahin dominierenden leninistischen Marxismus im Institut. Horkheimer akzeptierte den Marxismus lediglich als eine Philosophie, die die eine bestimmte geschichtliche Situation erhellt, aber nicht als ewige Wahrheit, der er sich gänzlich verschreiben wollte; Lenin hatte die gegenteilige Ansicht vertreten: „Die Lehre von Marx ist allmächtig, weil sie wahr ist.“* Vor solcher Dogmatisierung wurde Horkheimer gewiß auch durch die geschichtlichen Erfahrungen des Judentums bewahrt: Auch wenn Juden nämlich dazu beigetragen hatten, die traditionelle, mit dem Christentum verbundene Ordnung erfolgreich zu bekämpfen, schützte sie dies nicht davor, von den Siegern als Mohren behandelt zu werden, die ihre Schuldigkeit getan hatten. Dies hatte sich gerade wieder an dem in der Ukraine geborenen Juden Trotzki gezeigt. Nachdem er entscheidend dazu beigetragen hatte, daß der Marxismus in Rußland triumphierte, wurde Trotzki 1925 entmachtet und 1928 nach Sibirien verbannt.**

* „Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus (1913)“

** 1929 erfolgte die Ausweisung, und 1940 wurde Trotzki im mexikanischen Exil von einem sowjetischen Geheimagenten ermordet.

Als sich 1929 der Gesundheitszustand Grünbergs noch immer nicht verbessert hatte, gab er die Leitung der Frankfurter Schule ab. Grünbergs vom Institut finanzierter Lehrstuhl wurde von der Universität umgewandelt in einen Lehrstuhl für Sozialphilosophie, der dadurch nicht mehr der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Fakultät, sondern nun der philosophischen angehörte. Den Ruf erhielt der Frankfurter Privatdozent Max Horkheimer, der damit die formalen Bedingungen für die Übernahme der Institutsleitung erfüllte; dies war unterstützt worden durch einige Frankfurter Professoren, u.a. den gerade erst dorthin berufenen protestantischen Theologen und religiösen Sozialisten Paul Tillich*, der dem 1929 emeritierten Cornelius – gegen dessen Willen – nachgefolgt war. Doch hatten die für Horkheimers Berufung eintretenden Hochschullehrer schließlich nur deshalb Erfolg, weil die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät für die Abtretung des Grünberg-Lehrstuhls an die philosophische Fakultät mit einer Professur für Nationalökonomie entschädigt wurde, deren Finanzierung Felix Weil übernahm, der das Erbe seines 1927 verstorbenen Vaters angetreten hatte. Auf den neuen Lehrstuhl für Nationalökonomie wurde ein Schüler Franz Oppenheimers berufen, der aus Stuttgart stammende Adolph Löwe**, mit Max Horkheimer bekannt seit Kindertagen und wie dieser jüdischer Herkunft. Übrigens trat die Nachfolge des 1929 emiritierten Franz Oppenheimer auch wieder ein jüdischer Soziologe an, der in Budapest geborene Karl Mannheim***, der – seit 1911 bekannt mit Georg Lukács – z.Z. der Ungarischen Räterepublik als Lehrbeauftragter Philosophie an der Universität Budapest unterrichtet hatte und nach der Niederlage der Revolution über Wien nach Deutschland emigriert war, wo er sich habilitierte (1926). – Letztlich also ermöglichte Felix Weils Maecenatentum Max Horkheimer die Übernahme der Institutsleitung; Fritz Pollock hatte gewiß seinen persönlichen Einfluß auf Felix Weil genutzt, um ihn dazu zu bewegen, Horkheimer den Weg an die Spitze der Frankfurter Schule zu bahnen. Nach der Berufung auf den speziell für ihn geschaffenen Lehrstuhl für Sozialphilosophie (1929) wurde Max Horkheimer Leitender Direktor des Instituts (1930); die offizielle Amtseinführung fand 1931 statt.

* geb. 1886, gest. 1965

** geb. 1893, gest. 1995

*** geb. 1893, gest. 1947

In demselben Jahr 1929, in dem Felix Weil die Weichen für die Zukunft des Instituts gestellt hatte, ließ er sich scheiden und zog von Frankfurt fort nach Berlin; es sei immerhin erwähnt, daß im Oktober jenes Jahres die Weltwirtschaftskrise begann. In Berlin ermöglichte Weil dem Kommunisten Erwin Piscator* die Eröffnung der Zweiten Piscatorbühne am (1929) nach der finanziellen Pleite der Ersten (1927 – 1928), die freilich noch in demselben Jahr 1929 in Konkurs ging. Weil arbeitete in dem Berliner Malik-Verlag John Heartfields** mit, eines langjährigen Mitgliedes der KPD. Schon zuvor hatte Weil andere Künstler gefördert wie den Maler George Grosz***, der 1924 zusammen mit Heartfield und Piscator zu den Gründern des Berliner Künstlerbundes „Rote Gruppe“ gehörte und dessen Feindseiligkeit gegenüber den eigenen Landsleuten sich nicht erst in den verzerrten Darstellungen seiner Gemälde niederschlug, sondern sich bereits während des 1. Weltkriegs gezeigt hatte, da er in einem Brief bekannte: „Ich wohne vor wie nach in dem reizenden, spießigen, honett bürgerlichen Berliner Vorort Südende, und Tag für Tag erhält mein Deutschenhaß durch das unmöglich Häßliche, Unästhetische (jawohl!), schlecht, überaus schlecht Gekleidete seiner deutschesten Bürger, neue sehr lichterloh brennende Nahrung. Hier stehe es für Dich: ,Ich fühle keine Verwandtschaft mit diesem Menschenmischmasch.‘ … – und dabei haben diese Menschen…die positive Macht, sie zwingen Mich zu ihren Diensten, indem sie Mich einfach zu Militärdiensten einziehen oder sonstwie erschießen lassen. … – vom Standpunkt einer ästhetisierenden Anschauung allerdings freue ich mich über jeden Deutschen, der auf dem Felde der Ehre (wie schön) den Heldentod stirbt.“ – 1931 verließ Felix Weil Deutschland. Er reiste wegen Erbstreitigkeiten nach Argentinien, wo er auch Vorlesungen über Nationalökonomie hielt und an der Steuergesetzgebung des Landes mitarbeitete. Vier Jahre lang lebte Weil dort.

* geb. 1893, gest. 1966

** eigentl. Helmut Herzfeld; geb. 1891, gest. 1968

*** eigentl. Georg Groß; geb. 1893, gest. 1959

 

7 Kommentare zu „Die Frankfurter Schule 1a: Geschichtlicher Überblick (erster Teil)“

  • Konservativer:

    Sehr geehrter virOblationis

    Ein lobenswertes Unterfangen Ihrerseits, das uns „Normalsterblichen“ dabei helfen wird, das Phänomen „Frankfurter Schule“ zu entschlüsseln.
    Seinerzeit in meinem Studium empfand ich die verschiedenen Bücher von Adorno und Horkheimer als unlesbar. Da ich diese Schriften für meine Spezialisierung nicht benötigte, verzichtete ich nach kurzem Einlesen darauf, diese Bücher vollständig durchzuarbeiten.

  • virOblationis:

    Sehr geehrter Konservativer!
    „… – so kann in einer Zeit, in der die Propaganda sich an ungezählte Millionen wendet, die Hörerschaft von einer Handvoll Menschen, ja selbst das Netz von Traumfiguren, das sie untereinander bilden, wichtiger sein.“
    Ernst Jünger, „Strahlungen“, Das Zweite Pariser Tagebuch zum 20. April 1943

  • Unke:

    Die Unlesbarkeit ist geradezu ein Merkmal der Geistes-„Wissenschaften“, da hat die Frankfurter Schule kein Patent drauf!
    Darf ich an Niklas Luhmann und seine Jünger erinnern („Systemtheorie“)? Total gaga.

  • virOblationis:

    @ Unke
    Zwar mag die Unverständlichkeit sich seit Adornos Zeiten ausgebreitet haben, so daß die Bücher ganz verschiedener Autoren formal einander gewissermaßen gleichen. Doch kann der – solchermaßen verhüllte – Inhalt der einzelnen Werke ja trotzdem von ganz unterschiedlicher Relevanz sein: Wer wollte den sprachlich schwer zugänglichen Schriften Kants die Bedeutung absprechen!

  • Yvonne:

    Danke für die genaue Recherche! …“Netz von Traumfiguren“… so ist es wohl manchmal.

  • virOblationis:

    @ Yvonne
    Auch Ihr Einspruch hat dazu beigetragen, daß ich die Darstellung noch einmal anders begonnen habe. – Das Institut für Sozialforschung hat eine so umfassende Geschichte, daß die Beschreibung weniger Protagonisten nicht ausreicht. Statt wie zuvor geplant, Biographisches auf die Einzelportraits zu beschränken, bekommt es nun im Überblick über die Geschichte der Einrichtung einen eigenen Teil.

  • […] Die Frankfurter Schule 1a: Geschichtlicher Überblick (erster Teil) […]

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