Die Frankfurter Schule 1b: Geschichtlicher Überblick (zweiter Teil)
von virOblationis
Nachdem das Institut für Sozialforschung seine Tätigkeit begonnen hat, stoßen bis 1933 weitere Personen zur Frankfurter Schule, die ihre Geschichte in der einen oder anderen Weise prägen. So soll im Folgenden – nach Weil, Pollock und Horkheimer – von Löwenthal, Fromm und Marcuse die Rede sein.
1926 war der aus Frankfurt stammende Leo Löwenthal*, Sohn eines jüdischen Arztes, als Spidendiat ins Institut aufgenommen worden. Leo Löwenthal legte sein Abitur zwei Jahre nach Felix Weil am Goethe-Gymnasium der Stadt ab (1918). 1923 reichte er seine Dissertation über Franz von Baader** ein; die Prüfung fand aber erst im Frühjahr 1925 statt, was möglicherweise auch auf Löwenthals Wunsch hin geschah. In der Zwischenzeit nämlich hatte er sich mit Maimonides*** befaßt, Hebräisch gelernt und sich für ostjüdische Flüchtlinge sowie den Hauptausschuß für jüdische Kulturarbeit engagiert. So war Löwenthal auch nach seiner Promotion weiterhin für verschiedene jüdische Organisationen tätig. Ab 1926 wollte er sich als Stipendiat des Instituts habilitieren, doch brach er dieses Unternehmen schließlich ab; vielleicht gab Cornelius‘ Emeritierung (1929) den letzten Anstoß dazu. 1928 bis 1931 untersuchte Löwenthal stattdessen die erzählende deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts unter soziologischem Aspekt, vermochte es aber nicht, seine Abhandlung in eine druckreife Fassung zu bringen. – 1930 stieg Löwenthal zum Hauptassistenten des Instituts auf, und danach gab er auch die ab 1932 erscheinende Zeitschrift für Sozialforschung, ZfS, heraus, das Organ des Instituts, das bis 1941 erschien, zuerst in Leipzig, dann in Paris und zuletzt in New York.
* geb. 1900, gest. 1993
** geb. 1765, gest. 1841; geadelt 1808
*** hebr. Moses ben Maimon, arab. Ibn Maimun, latein. Rabbi Moyses Aegypticus; geb. 1135 oder 1138, gest. 1204
Löwenthal entstammte einem areligiösen jüdischen Elternhaus. Als junger Mann ging er eigene Wege; ihn faszinierte mehr der Zionismus als der Marxismus, und er heiratete eine Frau aus jüdisch-orthodoxer Familie. – Durch Leo Löwenthal fand der gleichaltrige und ebenfalls aus Frankfurt stammende Erich Fromm*, Sohn eines jüdischen Weinhändlers, Aufnahme in das Institut für Sozialforschung. Erich Fromm entstammte einem streng orthodoxen Elternhaus und besuchte die Wöhlerschule, ein Realgymnasium. Er war ein Einzelkind wie Leo Löwenthal anscheinend auch. Als Heranwachsender begeisterte sich Fromm für die alttestamentlichen Propheten; an deren Stelle trat in seinem Denken später der Marxismus. Nach dem Abitur 1918 begann Fromm, in Frankfurt Jura zu studieren, wechselte aber bald zur Philosophie in Heidelberg, wo er 1922 über das jüdische Gesetz promovierte bei Max Webers** Bruder Alfred***, der einige Jahre später auch Karl Mannheims Habilitationsvorhaben begleitete.
* geb. 1900, gest. 1980
** geb. 1864, gest. 1920
*** geb. 1868, gest. 1958
1920 hatte Fromm die ebenfalls in einer jüdisch-orthodoxen Familie aufgewachsene, fünf Jahre ältere Golde Ginsburg* kennengelernt und sich mit ihr verlobt; durch sie lernte er wiederum deren jüdische Jugendfreundin Frieda Reichmann** kennen. Die Verlobung mit Golde Ginsburg wurde gelöst; sie heiratete 1923 Leo Löwenthal,*** Erich Fromm aber 1926 die elf Jahre ältere Frieda Reichmann. Bis dahin hatte Fromm Medizin in München studiert, ohne einen Abschluß zu erreichen, und in Berlin das 1920 gegründete Psychoanalytische Institut besucht. Seine Analyse bei der in Heidelberg praktizierenden Medizinerin und Analytikerin Frieda Reichmann mündete in eine Eheschließung ein;**** noch in demselben Jahr wandten sich Frieda und Erich Fromm von jüdischer Religiosität ab.
* geb. 1895, gest. 1979
** geb. 1889, gest. 1957
*** Nach der Scheidung von Golde Ginsburg heiratete Leo Löwenthal 1953 eine Soziologin, von der er sich zu Beginn der siebziger Jahre scheiden ließ; die letzte Ehe ging Löwenthal 1977 mit einer konfessionslosen Übersetzerin ein, die ihn überlebte.
**** 1931 trennte sich das Paar; die Scheidung erfolgte 1942 im US-Exil. Später ging Fromm noch zwei Ehen ein, die wie die erste kinderlos blieben.
1926 bis 1929 unterzog sich Erich Fromm einer Lehranalyse bei Karl Landauer*, einem Facharzt für Nervenheilunde und Analytiker jüdischer Herkunft. Frieda Reichmann-Fromm, die ihr 1924 eröffnetes Privatsanatorium 1928 schloß, gehörte zu den Mitgliedern des Frankfurter Kreises von Analytikern um Heinrich Meng** und Karl Landauer; durch den letzteren erhielt auch Max Horkheimer seine Lehranalyse (1927 – 1928). Gewiß nicht zuletzt durch die Vermittlung seiner Ehefrau gehörte bald auch Erich Fromm zu dem Frankfurter Kreis, aus dem ein Institut für Psychoanalyse hervorging.
* geb. 1887, gest. 1945 an den Folgen der KZ-Haft
** geb. 1887, gest. 1972
1929 sorgte der zum Ordinarius für Sozialphilosophie ernannte Horkheimer für die Anerkennung des im Februar desselben Jahres offiziell gegründeten Frankfurter Instituts für Psychoanalyse durch die Universität und für dessen Austausch mit dem Institut für Sozialforschung. Das Frankfurter Institut für Psychoanalyse bildete nicht aus, sondern veranstaltete Vorlesungen und Seminare; zugleich befaßte sich Heinrich Meng mit der Therapie der Magersucht.
Durch Löwenthals Vermittlung wurde Fromm 1930 in das Institut für Sozialforschung aufgenommen, wo er sich der Sozialpsychologie zuwandte. In seinem 1930 erschienenen Buch „Das Christusdogma“ suchte Fromm suchte Marx und Freud miteinander zu verbinden. Fromm stellte sich die frühe Kirchengeschichte folgendermaßen vor: Die ersten Christen hätten sich gegen väterliche Autorität in Gestalt der Obrigkeit aufgelehnt, was in ihrem Jesusbild zum Ausdruck gekommen sei. Spätere Christengenerationen erst hätten Jesus Gott angenähert, um sich im 4. Jahrhundert schließlich zu seiner Göttlichkeit zu bekennen. So habe sich die Christusvorstellung gemäß gesellschaftlichem Wandel verändert. – Aus der Rückschau scheint der Versuch, Marx und Freud miteinander in Einklang zu bringen gar nicht unverständlich, wenn man von zwei Grundtrieben des Menschen ausgeht, dem Hunger und der Libido. Marx ist sozusagen für die Stillung materieller Bedürfnisse zuständig wie Freud für die immateriellen bzw. sexuellen. Dem entsprechend unterschied Fromm zwischen einer ökonomischen und einer psychologischen Frage, die es beide im Einklang miteinander zu beantworten galt.
In der UdSSR war Trotzki zwar für eine Anerkennung Freuds eingetreten, doch unter Stalin wurde der Behaviorismus nach Pawlow* gelehrt. Dem entsprechend hatte auch Grünberg Freuds Psychoanalyse verworfen. Mit der Übernahme der Institutsleitung durch Horkheimer, der selbst eine Analyse absolviert hatte, änderte sich die Einstellung der Frankfurter Schule zu Freud; so wurde auch die Aufnahme Erich Fromms in das Institut möglich, die Grünberg gewiß nicht zugelassen hätte.
* Iwan Petrowitsch Pawlow; geb. 1849, gest. 1936
Erich Fromm war nicht der erste, der sich um die Synthese von Marxismus und Psychoanalyse bemühte. Vorangegangen war ihm darin der aus Galizien stammende jüdische Arzt Wilhelm Reich*, der als Knabe den Ehebruch der Mutter aufdeckte, die sich deshalb einige Jahre später umbrachte, während der eifersüchtige Vater depressiv wurde und nach dem Abschluß einer Lebensversicherung seine Tuberkuloseerkrankung bewußt vorantreibend 1914 starb. All dies muß Wilhelm Reich psychisch massiv geschädigt haben. Seine diagnostische Begabung aber führte dazu, daß er fast gänzlich ohne eigene Analyse 1920 als jüngstes Mitglied in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung (WPV) aufgenommen wurde; seine psychische Krankheit zeigte sich allerdings schon damals, und zwar darin, daß eine von Esprit sprühende Liebenswürdigkeit augenblicklich in Rechthaberei und tyrannische Wut umschlug. 1922 promovierte Reich zum Doktor der Medizin und heiratete eine frühere Patientin. Aus den Körperreaktionen während der Psychoanalyse wollte Reich eine naturwissenschaftliche Grundlage der Freud‘schen Therapie konstruieren. Als im Sommer 1927 wegen eines von Sozialisten und Kommunisten als skandalös angesehenen Urteils eine Menschenmenge den Wiener Justizpalast angriff und durch Polizeikugeln über achtzig Beteiligte starben, trat Wilhelm Reich in die KPÖ ein. Drei Jahre später siedelte er nach Berlin über, wurde Mitglied der KPD und der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft DPG) sowie der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Er gründete 1931 den Deutschen Reichsverband für proletarische Sexualpolitik, kurz Sexpol, und entwickelte eine Theorie, wonach die faschistische Ideologie auf Triebunterdrückung beruhe, deren Vertreter aus patriarchalisch strukturierten Familien stammten, während der genital befriedigte Heterosexuelle sich durch Milde und Güte auszeichne; Fromm argumentierte später in bezug auf den autoritären Charakter recht ähnlich, so daß Reich den Vorwurf des Plagiats erhob. – Reich verspann sich in immer abseitigere Theorien, suchte als Therapeut letztlich nur noch, am Körper aufweisbare vollständige orgiastische Potenz zu erreichen, und lehnte Einzeltherapien bei Neurosen wegen ihres massenhaften Erscheinens ab. Reich wurde 1933 aus der KPD sowie der DPV ausgeschlossen, 1934 aus der IPV. Danach verfolgte Reich ab 1936 immer abstrusere Ideen. Er postulierte eine kosmische Lebensenergie, die er Orgon nannte. Im us-amerikanischen Exil wurde Reich wegen Verkaufs des von ihm erfundenen, aber nicht zugelassenen Orgon-Akkumulators am Ende zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt (1956) und verstarb während seiner Haftzeit.
* geb. 1897, gest. 1957
Erich Fromm verließ Frankfurt bereits 1931; wegen einer Tuberkuloseerkrankung hielt er sich ein Jahr lang im Schweizer Davos auf. Nach der Trennung von Frieda Reichmann 1931 wurde die aus Altona* stammende, fünfzehn Jahre ältere Ärztin und Psychoanalytikerin Karen Horney** Fromms Lebensgefährtin; Horney siedelte 1932 in die USA über, um in Chicagos Psychoanalytischem Institut tätig zu werden. Sie ermöglichte es Fromm, dort als Gastdozent zu lehren. Dem kam er bis 1934 nach, dann eröffnete Fromm – als bloßer Laienanalytiker bzw. Nicht-Mediziner – eine psychoanalytische Praxis in New York. – Zugleich gehörte Fromm nach wie vor dem Institut für Sozialforschung an, publizierte in der ZfS und lehrte an der Columbia Universität in New York, an die die Frankfurter Schule als International Institute of Social Research inzwischen angegliedert war, worauf im Folgenden noch näher einzugehen sein wird.
* seit 1937 ein Stadtteil Hamburgs
** geb. Danielson; geb. 1885, gest. 1952
An Jakob Bachofen* anknüpfend setzte Fromm das Matriarchat mit der klassenlosen Gesellschaft gleich, das Patriarchat mit der Klassengesellschaft. Das Matriarchat entspricht danach der Liebe und dem Genuß, das Patriarchat Pflicht und Autorität, das Matriarchat einer Verbindung von Geist und Natur, das Patriarchat dem Bruch des Geistes mit der Natur. Die sexuelle Befriedigung vollziehe sich unter den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen und nehme daher verschiedene Gestalt an. Der von Freud aufgezeigte Ödipus-Komplex sei keine überzeitliche Erscheinung, sondern auf patriarchalische Verhältnisse, also die Klassengesellschaft, beschränkt. – Diese letztere These machte einen Konflikt mit Freud unvermeidlich.
* geb. 1815, gest. 1887
Freud hatte auch einen Gegensatz von hemmungsloser Triebbefriedigung und Kultur postuliert, und Fromm behauptete nun, dieser gelte ebenfalls nur unter patriarchalischen Verhältnissen. Dabei verstand sich Fromm weiterhin als Anhänger Freuds, doch suchte er eben zugleich dessen Lehre mit dem Marxismus zu verschmelzen. – Ein entscheidendes Problem dabei bildet das Verhältnis von Kollektiv und Individuum. Während sich der Marxismus um der Befreiung willen an eine ganze soziale Klasse wendet, geht es Freud um die Therapie einzelner Patienten. Fromm suchte eine mittlere Position einzunehmen, bei der er davon ausging, daß es zwar keine Kollektivseelen gebe, sondern nur einzelne, die aber allesamt von bestimmten gesellschaftlichen Zuständen oder Ereignissen geprägt werden können. So schuf Fromm den Begriff des Sozialcharakters, um den des Individualcharakters zu ergänzen; bei der Ausprägung des Sozialcharakters komme der Familie als psychologischer Agentur der Gesellschaft größte Bedeutung zu.
Der autoritäre Charakter stellt nach Fromm eine Form des Sozialcharakters dar, die zugleich von Masochismus und Sadismus bestimmt wird und in patriarchalischen Gesellschaften verbreitet ist. Mit der Entfaltung der Produktivkräfte wird die Stärkung des rationalen Ich ermöglicht. Die bloß aus dem Über-Ich* abgeleitete Autorität schwindet, die Beherrschung der äußeren wie der inneren Natur nimmt zu. Wenn allerdings die gesellschaftliche Entwicklung mit der Entfaltung der Produktivkräfte nicht Schritt hält, dann wird auch die Entwicklung des Ich behindert; es kann sogar ein Ich-Verlust eintreten und eine verstärkte Unterwerfung unter die im Über-Ich verankerte Autorität erfolgen, wie der Faschismus zeigt. Die anarchische Rebellion gegen alle Autorität ersetzt nur die eine durch eine andere. Allein die Revolution des starken Ich befreit von nicht vernunftgemäßer Autorität. Die rationale, klassenlose Gesellschaft entspricht genitaler Sexualität, und zwar heterosexueller. Unter solchen sozialen Bedingungen stellt die Autorität eine Führung dar, die auf Leistung und Einsatz für die Interessen der Gemeinschaft beruht. – Dies führte Fromm in seinem theoretischen Beitrag zum ersten Teil der von Horkheimer herausgegebenen Untersuchung „Autorität und Familie (1936)“ aus. Es folgte ein zweiter Teil, in dem fast sechshundert Exemplare eines Fragebogens ausgewertet wurden, den Fromm entworfen hatte. Die Auswertung unterschied drei Sozialcharaktere, den autoritären, den revolutionären und den ambivalenten, eine Mischung der beiden zuvor genannten. Die Antworten wurden psychoanalytisch gedeutet, was dazu führte, daß die Schlußfolgerungen den Inhalten der Aussagen mitunter entgegengesetzt waren. Doch immerhin wies man auf diese Weise die Verbreitung des autoritären Charakters innerhalb der deutschen Arbeiterklasse nach.
* Als Über-Ich wird in der Freud‘schen Anthropologie die verinnerlichte moralische Stimme der Gesellschaft genannt, die die Stelle des Gewissens einnimmt.
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In demselben Jahr 1932, in dem Fromm in die USA übersiedelte, fand Herbert Marcuse Aufnahme in die Mitarbeiterschaft des Frankfurter Instituts. – Ebenfalls 1932 erschien Marcuses Werk „Hegels Ontologie und die Grundlegung einer Theorie der Geschichtlichkeit“ in dem zwei Jahre zuvor gegründeten Frankfurter Verlag Klostermann.
Herbert Marcuse stammte aus Berlin-Charlottenburg; 1898 war er als Sohn eines Textilfabrikanten jüdischer Herkunft dort zur Welt gekommen. Herbert Marcuse wurde also in demselben Jahr geboren wie Felix Weil; übrigens war Herbert Marcuses Schwester gleichaltrig mit der Schwester Felix Weils; freilich hatte Herbert Marcuse im Unterschied zu Felix Weil zwei Geschwister, denn 1907 wurde noch ein weiterer Sohn der Familie geboren. – Nach dem Notabitur 1916 wurde Herbert Marcuse zum Militär eingezogen; allerdings blieb er als Angehöriger eines Luftschifferersatzbataillons in Berlin. Nach Kriegsende begeisterte er sich sogleich für die Revolution und gehörte dem Berlin-Reinickendorfer Arbeiter- und Soldatenrat an.
Nach dem Ende des kommunistischen Spartakisten-Aufstandes verließ der 1917 in die SPD eingetretene Marcuse diese Partei wieder. Anschließend nahm er in Berlin ein Germanistikstudium auf, das er in Freiburg mit einer Promotion über den deutschen Künstlerroman abschloß (1922). Herbert Marcuse kehrte nach Berlin zurück, arbeitete in einem Antiquariat mit angeschlossenem Verlag, heiratete 1924 und wurde Vater eines Sohnes*. – Herbert Marcuses Ehefrau Sophie geb. Wertheim**, wohl jüdischer Herkunft wie er, hatte zu Beginn der zwanziger Jahre ebenfalls in Freiburg studiert.
* Peter Marcuse, geb. 1928 – Leo Löwenthals Sohn Daniel war nur wenig älter; er kam 1927 zur Welt.
** geb. 1901, gest. 1951
Nach der Geburt des Sohnes zog die Familie um nach Freiburg, wo Herbert Marcuse bei Husserl* und vor allem Heidegger**, Philosophie zu studieren begann. – Herbert Marcuse wollte sich in Freiburg habilitieren, wobei ihn Heidegger begleitete, doch wurde das Habilitationsverfahren nie eröffnet. Was war der Grund dafür? Dem Katholiken Heidegger, der der Kirche nach seiner Habilitation, da er ihre Stipendien nicht mehr benötigte, den Rücken gekehrt hatte, Antisemitismus zu unterstellen, der ihn Marcuse ablehnen ließ, verfängt nicht; es fehlt nicht nur jeder Beleg dafür,*** sondern es ist dagegen darauf hinzuweisen, daß sich ein Antisemit kaum für Hannah Arendt**** erwärmt hätte, Mitte der zwanziger Jahre eine Studentin jüdischer Herkunft. Sollte Heidegger vielleicht fachliche Bedenken gehegt haben, die ihm „Hegels Ontologie“ ungeeignet erscheinen ließ? Dies ist schon eher denkbar, denn Marcuses Schrift stellte den Versuch einer Verbindung der existentialistischen Philosophie Heideggers mit dem – von Hegel her interpretierten – Marxismus dar. Dies mußte für Heidegger ein ganz fremdartiger Gedanke bleiben, denn seine Philosophie konzentrierte sich gänzlich auf den einzelnen Menschen als unableitbare Größe, wohingegen das Subjekt im Marxismus keine Eigenständigkeit erlangt, sondern vom Objekt her verstanden wird, dessen Basis die ökonomischen Verhältnisse bilden; das Sein bestimmt das Bewußtsein: „Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt“, heißt es im Vorwort von „Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859)“. Um dieses Problem zu lösen, setzte Marcuse das revolutionär gesinnte Proletariat, das bereit ist zur radikalen, die Daseinsbedingungen grundlegend verändernden Tat, an die Stelle des einzelnen Menschen, der sich angesichts seiner Vergänglichkeit dazu entscheidet, seinem Leben selbst einen Sinn zu verleihen, nach Heidegger. Doch ist zu fragen, ob es ein Kollektiv-Ich wie das des Proletariates überhaupt gibt. Sollte dies der Fall sein, wäre es eine in der Geschichte, in einmaliger Situation handelnde Größe, die eine Verbesserung ihrer Daseinsbedingungen erstrebt. Heidegger jedoch denkt übergeschichtlich; aus dem bloßen Dahinleben, will er hervortreten und sein ganzes Dasein selbst begründen. Wenn man dies einer bestimmten Epoche und bestimmten Menschen zuordnet, die innerhalb der Geschichte agieren und einen bestimmten Entschluß fassen oder auch nicht, dann löst sich Heideggers Philosophie vollkommen auf. – Marcuse selbst räumte später das Scheitern des Versuches einer Verbindung von Heideggers Existentialismus und Marxismus ein.
* Edmund Husserl; geb. 1859, gest. 1938
** Martin Heidegger; geb. 1889, gest. 1976
*** Es sei denn, man hält jede Aussage über die Macht des Judentums für antisemitisch, auch wenn sie nur irgendwo einmal am Rande auftaucht.
**** Johanna Arendt; geb. 1906, gest. 1975
So resignierte Marcuse anscheinend und verließ Freiburg 1932 ohne Habilitation. Edmund Husserl stellte ihm ein an Kurt Riezler*, den Vorsitzenden des Kuratoriums der Universität Frankfurt, gerichtetes Empfehlungsschreiben aus. Kurt Riezler, ein ehemaliger Politiker sowie Diplomat, hatte angesichts des Unrechts durch den Versailler Friedensvertrag (1919) die liberale DDP** verlassen und der Politik insgesamt den Rücken gekehrt; Riezler lehrte danach als Honorarprofessor in Frankfurt. Er wandte sich nun an Horkheimer wegen des ihm von Husserl empfohlenen Marcuse. Dieser übertrug Löwenthal die Aufgabe, das Aufnahmegespräch zu führen, das dann erfolgreich verlief.
* geb. 1882, gest. 1955
** Deutsche Demokratische Partei
Marcuse wurde allerdings nicht in Frankfurt für das Institut tätig, sondern in Genf, wo sich mittlerweile auch Pollock aufhielt. – Sogleich nach seiner Übernahme der Institutsleitung hatte Horkheimer die Gründung von Zweigstellen des Instituts im Ausland veranlaßt und das Stiftungsvermögen in die 1931 gegründete Genfer Filiale transferiert; weitere Zweigstellen bestanden in London (bis 1936) und Paris (bis 1940); Horkheimer besaß weit mehr Geschäftssinn als die beiden Nationalökonomen Pollock und Weil.
Um das Frankfurter Institut selbst ins Ausland zu verlegen, sandte Horkheimer Julian Gumperz* in die USA, um das Terrain zu sondieren; dieses Beispiel illustriert das Vermittlung erheischende, „dialektische“ Verhältnis zwischen Horkheimer und der Außenwelt. – Gumperz, Sohn einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die USA ausgewanderten und dort zu Reichtum gekommenen jüdischen Familie, die nach dem 1. Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrte, hatte sich der KPD angeschlossen und 1923 bereits an der EMA teilgenommen; wie Felix Weil die argentinische, so besaß Julian Gumperz die us-amerikanische Staatsbürgerschaft. Gumperz ging bereits als Student im Frankfurter Institut aus und ein,** promovierte 1929 in Nationalökonomie und wurde Pollocks Mitarbeiter. Zuvor hatte sich Gumperz zusammen mit seiner Lebensgefährtin Hede Eisler*** einige Zeit in den USA aufgehalten (1926 – 1927), aber anscheinend nicht aus rein privaten Gründen: Gumperz, seit 1925 für die Öffentlichkeitsarbeit der KPD zuständig, hatte diese Funktion 1926, und zwar wohl vor Antritt der Reise, aufgegeben, doch gehörte er noch 1927, als er zum Frankfurter Institut kam, zu den Herausgebern der Parteizeitung „Rote Fahne“; als Gumperz in New York Kontakt zur dortigen sowjetischen Nachrichtenagentur herstellte, wird er dies im Auftrag der Partei getan haben. Gumperz verfügte nicht über so reichliche Mittel wie Weil; als ihm 1927 das Geld ausging, kehrte er nach Deutschland zurück. Noch in den USA heiratete er Hede Eisler, numehrige Gumperz, die die us-amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt und sich noch weiter dort aufhielt, als Mitarbeiterin eines Waisenhauses. Als sie 1928 zurückgekehrte, ließ sich das Paar scheiden. Der Grund dafür könnte darin bestanden haben, daß Julian Gumperz mit der KPD brach, wenn auch noch nicht mit dem Marxismus, während sich Hede Gumperz, die wie Richard Sorge an der EMA teilgenommen hatte, sich von diesem für den sowjetischen Geheimdienst anwerben ließ. Julian Gumperz blieb auch im US-Exil Mitarbeiter des Instituts bis zu jener Zeit, da er es wie die meisten anderen zu verlassen hatte. Gumperz hatte als Börsenmakler Anteil an der Verwaltung des Stiftungsvermögens. 1941 machte er sich selbständig; vom Marxismus hatte Gumperz sich inzwischen endgültig abgewandt.
* geb. 1892, gest. 1972
** Unter den Studenten hieß es „Café Marx“; nach dem Kriege wurde in der BRD daraus ein „Café Max [Horkheimer]“.
*** Hedwig geb. Tune, gesch. Eisler; geb. 1900, gest. 1981
Der Kontakt, den Gumperz 1933 zur Columbia-Universität in New York hergestellt hatte, erwies sich als überaus wertvoll: Als Horkheimer 1934 dorthin reiste, wurde ihm sogleich die Möglichkeit eröffnet, sein in Deutschland von der nationalsozialistisch dominierten Regierung im Vorjahr geschlossenes Institut an die Columbia-Universität angegliedert wiederzueröffnen. So wurde New York der Hauptsitz des International Institute of Social Research; ab 1936 bot es zusätzlich zu seiner Forschungstätigkeit Vorlesungen und Seminare an.
1934 übersiedelte Horkheimer in die USA. Noch in demselben Jahr folgten im Pollock, Marcuse und Löwenthal; Fromm, der in New York eine Praxis eröffnete, stieß aus Chicago hinzu. Weil schloß sich ihnen 1935 an, nachdem er Argentinien verlassen hatte. – 1940 erhielten Horkheimer, Pollock, Löwenthal, Fromm und Marcuse die us-amerikanische Staatsbürgerschaft.