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Die Frankfurter Schule 1c: Geschichtlicher Überblick (dritter Teil)

von virOblationis

Nun endlich richtet sich der Blick auf Adorno bzw. Wiesengrund, wie er bis zur Erlangung der us-amerikanischen Staatsbürgerschaft 1943 hieß. Auf dessen Erscheinen haben die Leser der beiden vorangegangenen Abschnitte zur Geschichte der Frankfurter Schule vielleicht schon gewartet. Doch er trat eben erst spät in das Institut ein, einige Jahre nach 1933. Daher erwähne ich ihn erst jetzt. Seinen Werdegang zu betrachten lohnt, da er die philosophischen Grundsätze Wiesengrund-Adornos verständlicher erscheinen läßt.

Vier Jahre vor Herbert Marcuse scheiterte Theodor Wiesengrund, der sich später Adorno nannte, mit einem Habilitationsversuch in Frankfurt, den Hans Cornelius begleitete. Cornelius wandte sich gegen die Eröffnung eines Habilitationsverfahrens, da ihm Wiesengrunds 1927 verfaßtes Werk „Der Begriff des Unbewußten in der transzendentalen Seelenlehre“ zu unselbständig erschien, d.h. es referierte allzu sehr bloß Cornelius‘ Philosophie.

Der als junger Mann sehr ansehnliche Wiesengrund betrachtete die eigene Person als einzigartig, ja unvergleich; dies zeigte sich, als er 1928 aus Wien heimkehrte, um sich in Frankfurt rasch zu habilitieren, was Leo Löwenthal dort schon seit 1926 betrieb. Da Hans Cornelius dieses Unternehmen begleitete, fürchtete Wiesengrund, sich nicht schnell genug habilitieren zu können, während er von seinen Eltern zu einem Jurastudium gedrängt wurde; so fragte er bei Siegfried Kracauer* brieflich an, ob er nicht Leo Löwenthal dazu bewegen könne, von einer Habilitation abzusehen, damit Cornelius sozusagen die nötigen freien Kapazitäten hätte, um sich seines Falles anzunehmen. Dies erledigte sich dadurch, daß Cornelius Wiesengrunds wohl mit allzu heißer Nadel genähten „Begriff des Unbewußten“ als nicht geeignet ansah.

* geb. 1889, gest. 1966

Theodor Wiesengrund kam als einziges Kind einer Sängerin mit korsisch-genuesischen Wurzeln und eines jüdisch-deutschen Vaters, eines Weingroßhändlers, 1903 in Frankfurt zur Welt; im Elternhaus lebte außerdem eine unverheiratete Schwester der Mutter, eine Pianistin, die sich später in Italien niederließ. Gemäß der Religion seiner katholischen Mutter wurde Theodor Wiesengrund getauft; der Vater war zu diesem Zeitpunkt bereits zum Protestantismus konvertiert. Beeindruckt vom Religionsunterricht in der Schule ließ sich Theodor Wiesengrund konfirmieren. 1921 schloß er den Besuch des Gymnasiums mit dem Abitur ab und begann sogleich, in Frankfurt Philosophie, Musikwissenschaft, Psychologie und Soziologie zu studieren. 1924 promovierte Wiesengrund bei Cornelius mit einer in kürzester Zeit verfaßten Dissertation über die Philosophie Husserls und zog nach Wien, um ein Studium der Kompositionslehre bei Alban Berg* aufzunehmen, den er in Frankfurt kennengelernt hatte. In Wien schloß sich Wiesengrund aber zugleich dem Schönberg-Kreis an, der weiterhin bestand, obwohl Schönberg** selbst als Leiter einer Meisterklasse von der Preußischen Akademie der Künste nach Berlin berufen worden war (1925). Einerseits wollte Wiesengrund schönbergisch komponieren, andererseits studierte er bei Alban Berg; dies gefiel Schönberg noch weniger als Berg.

* geb. 1885, gest. 1935

** Arnold Schönberg; geb. 1874 als Sproß einer jüdischen Familie Wiens, gest. 1951

In späteren Texten feierte Adorno zwar noch immer Schönbergs Atonalität, doch dessen Wende zur Zwölftonmusik kritisierte er. In „Die Philosophie der neuen Musik (1949)“ beschrieb Adorno einen schlichten Gegensatz zwischen Schönberg und Strawinsky*, den er mir nichts, dir nichts auf gesellschaftlich-politische Verhältnisse übertrug. Beide Komponisten stehen nach Adorno für einen Typus. Schönberg repräsentiert die Atonalität, die sich weigert, die Dissonanzen innerhalb der Gesellschaft musikalisch aufzuheben; darin erkennt sich Adorno wieder. Allerdings ist dies bei Schönberg in die Zwölftonreihe als neues System eingemündet, wodurch sich Schönberg schließlich doch wieder mit der musikalischen Tradition verbindet und die mit der Atonalität erlangte Freiheit nach Adornos Auffassung preisgibt. Strawinsky aber steht für jene, die zu alten Formen zurückkehren und gesellschaftliche Widersprüche ignorierend das musikalische Pendant des Faschismus bilden. – Schon in den dreißiger Jahren hatte Wiesengrund in der ZfS als Kennzeichen moderner Musik entdeckt, daß sie nicht als Ware auf den Markt ausgerichtet sei; m.a.W. es mag sie niemand hören. Die Unterhaltungsmusik hingegen ist eine Ware; zu ergänzen wäre: – die auf dem Markt angeboten, von vielen Menschen erworben und gern konsumiert wird. Nach Wiesengrund soll die Unterhaltungsmusik mit dem Schicksal versöhnen, also das Leben trotz der stets garstigen Gegebenheiten angenehmer machen; ein ganz widerwärtiger Gedanke, gilt es doch, stets das Bestehende fortwährend zu kritisieren, um von ihm Abstand zu gewinnen.

* Igor Strawinsky; geb. 1882, gest. 1971

*

Das Jurastudium blieb Theodor Wiesengrund offenbar dadurch ersprart, daß es ihm 1929 gelang, Mitarbeiter der Wiener Musikzeitschrift „Anbruch“ zu werden; als solcher wohnte er aber weiterhin in Frankfurt. In aggressivem Ton* propagierte Wiesengrund Schönbergs Werke als radikale Antithese zur musikalischen Tradition. Doch Schönberg selbst betrachtete sich als deren Vollender und betrieb darum Wiesengrunds Entfernung aus der Mitarbeiterschaft der Zeitschrift, die 1930 denn auch erfolgte. – Auf die Ende der vierziger Jahre erschienene „Philosophie der neuen Musik“ reagierte Schönberg mit dem Satz: „Ich habe den Menschen nie leiden können.“

* Zur Aggressivität Wiesengrunds vgl. auch das Pseudonym „Hektor Rottweiler“, worunter er 1936 für die ZfS schrieb.

Nach dem vergeblichen Versuch, als Musikkritiker Fuß zu fassen, verfaßte Wiesengrund noch einmal ein philosophisches Werk, um sich in Frankfurt zu habilitieren; es setzte sich mit der Philosophie Sören Kierkegaards* auseinander, die damals viel beachtet wurde, da man in ihr einen Vorläufer der Existenzphilosophie sah. Cornelius‘ Nachfolger Tillich, der sich mit Horkheimer, Pollock und Löwenthal rasch anfreundete, begleitete das endlich von Erfolg gekrönte Unternehmen. Wiesengrund wurde Privatdozent an der Universität Frankfurt (1931).

* geb. 1813, gest. 1855

Während seines Philosophiestudiums war Theodor Wiesengrund 1922 erstmals Max Horkheimer begegnet, der in jenem Jahr bei Cornelius über Kant promovierte. Mit Leo Löwenthal war Wiesengrund seit etwa derselben Zeit bekannt; er hatte ihn über den gemeinsamen Freund Siegfried Kracauer kennengelernt. Bereits als Gymnasiast hatte Wiesengrund Kants „Kritik der reinen Vernunft (1781)“ gelesen, und zwar zusammen mit dem vierzehn Jahre älteren Kracauer; während dieser philosophischen Bemühungen war Wiesengrund mit Hilfe Kracauers auf den grundlegenden Unterschied zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen gestoßen. Der aus weniger begüterter jüdischer Familie stammende, stotternde und schüchterne Kracauer, ein promovierter Architekt und nebenberuflicher Journalist, hielt sich nach Kriegsende mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, bis er im Sommer 1921 zum festen Mitarbeiter der damals kulturell bedeutenden Frankfurter Zeitung aufstieg, während Wiesengrund die Schule abschloß und das Studium aufnahm. Kracauer, nicht frei von homoerotischen Neigungen, bewunderte den Jüngeren, der so selbstbewußt und eloquent auftrat. – Als Angehörige des Lehrkörpers der Universität Frankfurt werden sich Horkheimer und Wiesengrund ab 1931 regelmäßig begegnet sein; aus der bloßen Bekanntschaft begann sich mit zunehmender Vertrautheit, eine Freundschaft zu entwickeln.

Tillich hatte noch im Januar 1933 „Die sozialistische Entscheidung“ veröffentlicht, in der er den Nationalsozialismus mit der Romantik verbunden sah, die dieser zu überwinden habe, um entweder in Konservatismus und Rationalismus abzugleiten oder seine revolutionären Elemente in den Sozialismus als wahre prophetische Bewegung zu überführen, die ihnen Erfüllung verheißt. Das Buch wurde bald verboten und Tillich als einem religiösen Sozialisten die venia legendi entzogen. Dasselbe widerfuhr Horkheimer als einem Juden und Wiesengrund als einem Halbjuden; genau genommen war letzterer eigentlich überhaupt kein Jude, zumindest nach Auffassung der talmudischen Halaka, d.h. des religiösen Gesetzes im Talmud, denn als Jude gilt dort nur, wer entweder von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder unter rabbinischer Aufsicht konvertierte, während sich Theodor Wiesengrund ganz im Gegensatz dazu konfirmieren ließ.

Tillich emigrierte 1933 in die USA, wo er bis 1934 an der Columbia-Universität unterrichtete, danach am New Yorker Union Theological Seminary; 1955 wurde Tillich nach Harvard berufen, 1962 nach Chicago. – Als das Institut für Sozialforschung in Frankfurt geschlossen wurde, zog Horkheimer vorerst nach Genf, dann weiter nach Paris. 1934 reiste er in die USA, und nachdem die Columbia-Universität zum neuen Hauptsitz des Institutes geworden war, übersiedelte Horkheimer nach New York. Wiesengrund blieb vorerst in Deutschland. Er veröffentlicht einige Aufsätze über Musik in der Vossischen Zeitung, doch bot sich ihm keine berufliche Perspektive. So immatrikulierte Wiesengrund sich 1934 in Oxfords Merton-College, verbesserte sein Englisch und bestritt den Unterhalt wieder mittels der Zuwendungen der Eltern; zugleich behielt er seinen Wohnsitz in Deutschland. Mehrere Möglichkeiten eröffneten sich Wiesengrund: Wenn er es schaffte, in Oxford zum Doktor der Philosophie zu promovieren, konnte er an der dortigen Universität eine Anstellung erhalten; andernfalls ließen die verbesserten Englischkenntnisse eine berufliche Tätigkeit auch in den USA zu. Sollte schließlich in Deutschland des NS-Regime seine Macht verlieren, konnte er nach Frankfurt zurückkehren und wieder dort lehren.

Den Kontakt zu anderen Exilanten unterhielt Wiesengrund durch Briefkorrespondenz aufrecht. Vor allem mit Horkheimer tauschte er sich häufig aus. Wiesengrund publizierte in der ZfS und wäre gern in die Mitarbeiterschaft des Institutes aufgenommen worden. Dies erwies sich angesichts der finanziellen Lage aber als schwierig, da das Stiftungsvermögen durch Pollocks Verwaltung abgenommen hatte.

Wie vertraut das Verhältnis zwischen Wiesengrund und Horkheimer Mitte der dreißiger Jahre bereits war, verdeutlicht eine kurze Passage eines Briefes von 1935 aus Oxford nach New York: „… es wird Sie nicht wundern, wenn es mich traurig macht, daß Sie philosophisch mit einem Mann (sc. Marcuse) arbeiten, den ich schließlich für einen durch das Judentum verhinderten Faszisten halte; denn weder konnte er sich [während seines Studiums 1928 bis 1932] über Herrn Heidegger Illusionen machen, [der sich 1933 bis 1934 positiv zum Nationalsozialismus äußerte, bevor er sich davon abwandte, und] dem er (sc. Marcuse) laut Vorwort des Hegelbuches alles zu verdanken hat, noch etwa über seinen Verleger, Herrn Klostermann* aus dem Tatkreis[, d.h. von den Leuten um Hans Zehrer**, den Chefredakteur der Monatsschrift „Die Tat“, die eine national wie sozial ausgerichtete „Dritte Front“ propagierte, welche – den Sieg des Nationalsozialismus bzw. des Bolschewismus verhindernd – das liberale Parteiensystem überwinden sollte].“ Marcuse hatte Frau und Kind; als er 1932 Mitarbeiter des Instituts wurde, worum ihn Wiesengrund noch 1935 so sehr beneidete und daher diffamierte, war Marcuse wie Millionen andere arbeitslos. Wiesengrund hingegen lehrte als Privatdozent an der Frankfurter Universität; seine Einkünfte werden nicht üppig gewesen sein, aber immerhin hatte er in dieser so schweren Zeit eine bezahlte Beschäftigung. Freilich wurde Wiesengrund die venia legendi 1933 entzogen, doch unterstützten ihn seine Eltern daraufhin wieder.

* Gemeint ist der Verlagsgründer Vittorio Klostermann, geb. 1901, gest. 1977.

** geb. 1899, gest. 1966

Über den „Futterneid“ hinaus wird es aber auch einen weltanschaulichen Grund für Wiesengrund gegeben haben, Marcuse als Faschisten zu beschimpfen, denn dieser war eben Marxist und stand daher den herrschenden Verhältnissen kritisch gegenüber, doch hatte er keine Schwierigkeiten, sich zu einer künftigen Harmonie zwischen den Menschen sowie zwischen Mensch und Natur in der klassenlosen Gesellschaft zu bekennen. Dies mußte Wiesengrund ein Greuel sein, denn es entsprach seiner Grundüberzeugung, daß es niemals zu einem Einklang des einzelnen Menschen mit der Welt um ihn her kommen werde. Daher mußte ihm Horkheimers Auffassung des Marxismus so überaus sympathisch sein, denn Horkheimer benutzte diese Lehre als Instrument zur Kritik am Bestehenden, ohne ihr letzte Wahrheit zuzuerkennen; daher konnten die Vorhersagen des Marxismus für die Zukunft auch unberücksichtigt bleiben, während man ihn für die eigene Kritische Theorie und damit für die Gegenwart benutzte. Tatsächlich ließ Horkheimer die Gestalt des Zukünftigen im Gegensatz zu anderen Marxisten unbestimmt, da sich mit der geschichtlichen Entwicklung auch die Vorstellungen davon – über den Marxismus hinausgehend – entwickeln würden. Die Kritische Theorie Horkheimers eröffnete Wiesengrund die Möglichkeit, sich marxistischer Gedanken zu bedienen, ohne sich den Marxismus zu eigen zu machen. – Welchen Anklang ein solches Vorgehen in der Mitte der dreißiger Jahre fand, illustriert das Beispiel Tillichs, der in „On the Border (1936, dtsch. Auf der Grenze, 1962)“ schrieb, daß es geboten sei, „Marxismus und Psychoanalyse…zur Sichtbarmachung menschlicher Existenz…[zu] benutzen“, ohne sie als Gesamtideologie zu übernehmen.

Der rege Briefwechsel zwischen Wiesengrund und Horkheimer ging weiter, und schon 1936 äußerte sich Horkheimer erfreut darüber, daß sich Wiesengrund weiterhin zum Institut hielt, dem er ja nicht angehörte; es war offenbar, daß Horkheimer ihn als ständigen Mitarbeiter gewinnen wollte, was dem Wunsche Wiesengrunds entsprach. Wenn auch die Mittel des Instituts, die für die Unterstützung zahlreicher Emigranten genutzt wurden, die Anstellung Wiesengrunds nicht sogleich zuließen, so suchte Horkheimer doch anscheinend nach einer Möglichkeit, Wiesengrund zumindest eine vergleichbare Tätigkeit in den USA zu vermitteln. Mitte 1937 lud er Wiesengrund für zwei Wochen zu sich nach New York ein, um ihm einen Arbeitsvertrag beim „Princeton Radio Research Project“ anzubieten, das – angegliedert an die Princeton Universität in New Jersey – durch Paul Lazarsfeld*, einen in die USA emigrierten jüdisch-österreichischen Soziologen, geleitet und von der Rockefeller-Foundation finanziert wurde; um auf Wiesengrunds Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen, sollte er nicht als Assistent, sondern als selbständiger Mitarbeiter tätig werden. Obwohl Wiesengrund ein geregeltes Einkommen begehrte, kehrte er erst einmal nach England zurück, heiratete und trat mit seiner Ehefrau** eine Europareise an. Damit endeten 1937 die Jahre Wiesengrunds in Oxford. Zu Beginn des Jahres 1938 ließ sich Wiesengrund mit seiner Ehefrau in New York nieder, um die Tätigkeit für das „Princeton Radio Research Project“ aufzunehmen.

* geb. 1901, gest. 1976

** Margarete, genannt Gretel, Wiesengrund, später Adorno, geb. Karplus; geb. 1902, gest. 1993; eine Protestantin; die Ehe blieb kinderlos wie die Horkheimers.

Wiesengrunds Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen kann am Beispiel seiner gescheiterten Mitwirkung am „Princeton Radio Research Project“ verdeutlicht werden: Von Beginn an betrachtete sich Wiesengrund als Leiter des gesamten Forschungsprojektes, obwohl er nur eine Halbtagsstelle besetzte. Wiesengrund belehrte andere, obwohl er sich als unkundig in bezug auf empirische Forschung erwies, die er dialektisch mit der Theorie verbinden wollte. Tatsächlich suchte Wiesengrund – vollkommen undialektisch – seine theoretischen Auffassungen axiomatisch voranstellend die Empirie danach zu beurteilen. – Wie der lästigen Empirie, so verhielt sich Wiesengrund auch anderen Menschen gegenüber: Da er genau wußte, was recht und unrecht, gut und schlecht ist, belehrte er sie wortreich darüber. Dabei galten für ihn selbst ganz und gar nicht dieselben Maßstäbe wie für die anderen Menschen.

Als Ergebnis seiner Tätigkeit überreichte Wiesengrund endlich ein Manuscript, das keine Anerkennung fand, weil es sich bloß um ein schwer verständliches Theoriepapier handelte; es erschien in erweiterter Form 2006 unter dem Titel „Current of Music“. Als Wiesengrund keine weiteren Arbeitsergebnisse ablieferte, wurde er entlassen – und als ständiger Mitarbeiter des von Horkheimer geleiteten Institutes in New York angestellt. Er war sich wohl schon zuvor sicher gewesen, daß dies geschehen würde, daß Horkheimer ihn nicht fallen lassen würde, denn schon 1935 war Wiesengrunds Einfluß auf den Institutsleiter so groß, daß er gegen Löwenthal das Erscheinen eines ihm nicht genehmen Aufsatzes Walter Benjamins* über Paris als Hauptstadt des 19. Jahrhunderts in der ZfS verhindern konnte. Wiesengrund blieb Horkheimer für dessen Hilfsbereitschaft in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre stets dankbar; er verhielt sich in den USA Horkheimer gegenüber geradezu devot und auch später stets loyal. Gegenüber keinem Angehörigen des Institutes außer Horkheimer zeigte sich Wiesengrund sonst als umgänglicher Zeitgenosse. Dafür nannte Horkheimer ihn seinen Freund, mit dem er sich schließlich duzte.

* geb. 1892, gest. 1940

Nachdem Theodor Wiesengrund 1938 endlich Mitarbeiter des Instituts geworden war, folgten ihm seine Eltern 1939 ins US-Exil. Sie ließen sich in New York nieder und blieben dort, während ihr Sohn später nach Kalifornien zog.

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Felix Weil, der 1935 nach New York übersiedelte, unterstützte das Institut finanziell, dem er nach wie vor angehörte. Seine Abwendung vom Marxismus angesichts des stalinistischen Terrors im Zuge der „Moskauer Schauprozesse“ (1936 – 1938), bei der auch Bekannte Weils ihr Leben verloren, leitete eine weltanschauliche Umorientierung des inneren Kreises der Mitarbeiter des Institutes ein.

Wiesengrund fiel der Verzicht auf marxistische Auffassungen nicht schwer. Horkheimer war auf Grund seiner Kritischen Theorie ohnehin ein heterodoxer Marxist, und er veröffentlichte stets wenig; zwischen 1938 und 1944 kam dies fast völlig zum Erliegen. Pollock diagnostizierte nunmehr einen aus dem Monopolkapitalismus, wie er auch in den USA herrsche, hervorgegangenen Staatskapitalismus in der UdSSR wie im nationalsozialistischen Deutschland; dies übernahm Horkheimer. Löwenthal vollzog seine Abwendung vom Marxismus anscheinend in aller Stille. Fromm beschrieb den autoritären Charakter nun mehr im Sinne einer defizitären Persönlichkeit und ließ den pro-marxistischen Aspekt wegfallen. Allein Marcuse blieb Marxist; seine Reaktion auf die veränderte geistige Atmosphäre im Institut bestand darin, daß er sich nun im Anschluß an Fromm mit der Psychoanalyse auseinandersetzte.

1939 verließ Fromm das Institut, dem die finanziellen Mttel zu seiner Weiterbeschäftigung fehlten, wie es hieß. Fromm ging unter Protest gegen Wiesengrunds Mitgliedschaft. Wie dieser nämlich in Briefen an Horkheimer gegen Marcuse gearbeitet hatte, so auch gegen Fromm. Wiesengrund warf Fromm vor, Freuds Theorie verändert und damit verschlechtert zu haben; Horkheimer schloß sich dem an. – Was aber war damit eigentlich gemeint? Äußerungen aus den vierziger Jahren zeigen, was Wiesengrund dazu bewogen hatte, gegen den Leiter der sozialpsychologischen Abteilung des Instituts zu intriguieren: Fromm habe die Psychoanalyse mit der Soziologie verbunden und damit aus einer Therapie für lauter individuelle Fälle eine allgemeine Theorie gemacht, nach der der Einzelne im Allgemeinen aufgehe. Daß auch Freuds Psychoanalyse eine Anthropologie impliziert und nicht aus lauter Einzelaspekten besteht, leugnete Wiesengrund einfach.

Später kam es auch zu einer Auseinandersetzung zwischen Marcuse und Fromm. Während dieser als Therapeut eine möglichst rasch spürbare Verbesserung des Verhältnisses zwischen dem Patienten und dessen Umwelt anstrebte, erwartete Marcuse als Philosoph die Versöhnung von Subjekt und Objekt eher in der Zukunft. Marcuse wirkte später als Hochschullehrer, und aus Fromm wurde nicht nur ein populärer Schriftsteller, sondern ebenfalls ein Professor; zuerst unterrichtete er an verschiedenen Universitäten in den USA, dann in Mexico City, wo Fromm eine Praxis eröffnet hatte (1949). Seit 1957 engagierte er sich politisch auf Seiten der Atomwaffengegner, und 1965 gab er den Sammelband „Socialist Humanism“, Sozialistischer Humanismus, heraus, der u.a. Beiträge von Herbert Marcuse und Ernst Bloch (geb. 1885, gest. 1977) enthielt.

Bereits 1941 erschien ein Buch von Fromm, das weite Verbreitung fand, „Escape from Freedom (1941, dtsch. Die Furcht vor der Freiheit, 1966)“. Darin wird der autoritäre Charakter als Persönlichkeitsproblem des Einzelnen dargestellt, der sich vor der ihm wie anderen gegebenen Freiheit fürchtet; darum flieht er vor ihr und damit vor einer pluralen Wirklichkeit in Konformismus oder sogar in autoritäres Denken und autoritäre Strukturen, weshalb der autoritäre Charakter potentiell faschistisch ist. Mit Blick auf die Reformationszeit suchte Fromm seinen Ausführungen eine geschichtliche Dimension zu verleihen, womit er formal an das „Christusdogma (1930)“ anknüpfte; mit der Reformation habe der Aufbruch zur Freiheit, der die mittelaterliche Ordnung hinter sich ließ, begonnen. Fromms Begriff der menschlichen Freiheit liegt das traditionelle Verständnis als Freiheit zum Guten zu Grunde; möglicherweise trug auch dies zur Popularität der „Furcht vor der Freiheit“ bei.

Es folgte weitere sehr populäre Bücher, vor allem „The Art of Loving (1956, dtsch. Die Kunst des Liebens, 1956)“ und „To Have or to Be? (1976, dtsch. Haben oder Sein, 1976)“. „The Art of Loving“ setzt bei der Bewußtwerdung des Menschen an, der erkennt, daß ihn seine Begabung mit Vernunft aus einer animalischen Verbundenheit des Lebendigen herausgeführt hat; seine Individualität bedeutet Trennung von allem übrigen Dasein, die er nur durch einen Willensakt liebend überwinden kann. Fromm will Subjekt und Objekt also mittels des Willens wiedervereinen. Darin zeigt sich sein jüdisches Erbe, die Religion des Gesetzes, die sich nach Kräften um ein Leben nach den Geboten bemüht, aber die fortwährende Angewiesenheit der durch die Erbsünde gebrochenen Existenz nicht begreift und darum von Selbstgerechtigkeit bedroht ist. Zwar faßt Fromm gemäß christlicher Lehre das Liebesgebot als das höchste auf und als Zusammenfassung des gesamten Gesetzes*, doch meint er eben, es reiche der gute Wille, um dies zu erfüllen; die kirchliche Gnadenlehre als Fundament des Tugendlebens, ohne die das menschliche Bemühen gänzlich unzureichend bleibt, ist Fromm fremd. Um ihm aber Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist hervorzuheben, daß Fromm von der Vorstellung des Menschen als eines durch seine Triebe beherrschten Wesens sich gelöst und zur Wertschätzung der Vernunft sowie des Willens gefunden hat. – Aus den einander entgegengesetzten Sozialcharakteren Fromms von 1936 sind vierzig Jahre später zwei verschiedene Existenzweisen geworden: An die Stelle des autoritären Charakters ist die Existenzweise des Habens getreten, an die Stelle des revolutionären Charakters die des Seins. Die dem Sein gemäße Existenz fragt nicht nach Privateigentum, Konsum und Macht, sondern richtet sich ganz darauf aus zu lieben. Aus der klassenlosen Gesellschaft von 1936 ist die des neuen Menschen geworden, die dann Wirklichkeit wird, wenn ein tiefgreifender Wandel den Charakter [einer immer größeren Zahl von Menschen] vom Haben zum Sein hin verändert.

* s. Paulus in Gal. 5, 14

Nach einem Herzinfarkt (1968) zog sich Fromm aus der Öffentlichkeit zurück. 1974 übersiedelte er in die Schweiz, um im beschaulichen Tessin die letzten Lebensjahre zuzubringen, wie vor ihm Pollock und Horkheimer. Dort ließ sich wohl gut über den „Wille[n] zu geben, zu teilen und zu opfern“* philosophieren.

* „Der Wille zu geben, zu teilen und zu opfern“ lautet ein Zwischentitel in „Haben oder Sein“.

5 Kommentare zu „Die Frankfurter Schule 1c: Geschichtlicher Überblick (dritter Teil)“

  • Hildesvin:

    Und, nun? Soll ich vor Ehrfurcht erstarren? Vor des Kaisers neuen Kleidern? Der ist nackig.

  • Frankfurter Schule, Marxismus, Political Correctness, Sozialismus/Kommunismus: Alles deutsche Erfindungen, für die ich mich schäme!

    Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Haha, China, USA und England sind nun in fester Hand einer deutschen Ideologie! Ätsch!
    Russland konnte sich befreien.

  • Kint:

    Danke!
    Auch schon vorab für Teil 4, für´s WE vorgemerkt.
    Hatte mich an die Frage erinnert, woher der (geänderte) Name Adorno wohl stammen mag.
    Es kam, wie´s kommen musste: Per Wikipedia oder Suchmaschine wurde ich geholfen. 🙂 Mit der Angabe, Theodor W. habe den mütterlichen Namen (Adorno) drangehängt / angenommen.

    Ist dem so?
    Wissen Sie – oder weiß jemand – Grund oder Anlass?
    Was hatte dies ggf. mit der US-Staatsbürgerschaft zu tun?

    Merci. Schönes WE!

  • virOblationis:

    @ Kint
    Der vierte Teil gibt Aufschluß und Deutung.

  • Kint:

    Ja… danke.
    hab nicht aufgepasst. 🙂

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