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Die Frankfurter Schule 3: „Dialektik der Aufklärung“ (neue Fassung)

von virOblationis

Im us-amerikanischen Exil veränderte sich die ideologische Ausrichtung es der Frankfurter Schule. Dort wandten sich die meisten vom Marxismus ab, und das Institut trennte sich von zahlreichen Mitarbeitern, so daß schließlich kaum mehr als Horkheimer, Adorno und Pollock übrigblieben. Die beiden Erstgenannten begannen 1944 gemeinsam einen Text zu verfassen, der 1947 unter dem Titel „Dialektik der Aufklärung“ erschien. Das Buch war Pollock gewidmet; Horkheimer und Adorno hatten ursprünglich geplant, es bereits zu Pollocks fünfzigstem Geburtstag 1944 drucken zu lassen. – Horkheimer und Adorno kehrten 1949 nach Frankfurt zurück, Pollock im Jahr darauf. Horkheimer und Adorno wurden 1949 Professoren der Frankfurter Universität, Pollock 1951.

In den sechziger Jahren verbreitete sich die inzwischen vergriffene „Dialektik der Aufklärung“ in Studentenkreisen durch Raubkopien, was auf ihren geistigen Einfluß hindeutet. Daraufhin erfolgte 1969 eine zweite Auflage. Der Text wurde dafür noch einmal durchgesehen, aber nur von Schreibfehlern gereinigt, nicht wesentlich verändert. Die einzige Erweiterung bildet These VII im vorletzten Teil des Buches. Auch die zweite Auflage der „Dialektik der Aufklärung“ ist wiederum Pollock gewidmet, und zwar anläßlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstages 1969.

Wenn man die Zeit bis 1949 als frühere und mittlere Phase Horkheimers und damit der Frankfurter Schule ansieht, dann bildet die „Dialekt der Aufklärung“ eine Art Grunddokument, das die mittlere Phase abschließt, gemeinsam verfaßt von den beiden Protagonisten der im US-Exil personell geschrumpften Frankfurter Schule, Horkheimer und Adorno, eine einzigartiges Phänomen in der Geschichte in der Philosophie. So verdient dieses Werk also aus verschiedenen Gründen eine gesonderte Betrachtung.

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Die Übereinstimmung von Horkheimer und Adorno in philosophischer Hinsicht – beide suchten, wenn auch mit unterschiedlicher Ausrichtung, einen Abstand zwischen Subjekt und Objekt kritisch herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten und gebrauchten auf Grund ihrer Vertrautheit miteinander teilweise dieselben philosophischen Begriffe – ermöglichte es ihnen, die „Dialektik der Aufklärung“ gemeinsam zu verfassen. In der „Dialektik der Aufklärung“ steht die Natur an der Stelle der sonst immer wieder thematisierten gesellschaftlichen Realität. Es geht es darum, daß das Individuelle als Subjekt mittels Allgemein-Begriffen die Natur als Objekt zu unterwerfen sucht und sich damit angeblich selbst der Natur ausliefert: Um sich (als Individuelles) dem Zugriff (des Allgemeinen) zu entziehen, fordert die „Dialektik der Aufklärung“, vom Begriff, der sich durch die Bestimmung mittels Verallgemeinerung des Bezeichneten konstituiert, Abstand zu nehmen; denn die Bestimmung legt den Bestimmenden auf Aussagen fest, die wiederum kritisiert werden könnten, und die Verallgemeinerung wird angeblich dem Besonderen alles Individuellen nicht gerecht. So schlage die Herrschaft des Begriffs auf denjenigen bzw. die Natur desjenigen zurück, der ihn gebraucht; es ist also genau genommen nicht die Natur, der sich das menschliche Subjekt im Gebrauch von Begriffen ausliefert, sondern der Begriff und damit die Vernunft. – Stets kritisierendes Subjekt zu bleiben und sich nicht als Objekt selbst einer Kritik auszusetzen, entspricht dem Anliegen der Kritischen Theorie Horkheimers; dies steht im Einklang mit der Forderung der „Dialektik der Aufklärung“ nach Abwendung vom Begriff, und es stimmt wiederum überein mit der Nichtidentität von Subjekt und Objekt bzw. Besonderem und Allgemeinem nach Adorno, wenn sie von der „Dialektik der Aufklärung“ auch weniger als Tatsache ausgegeben, sondern eher gefordert wird.

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Als ich die „Dialektik der Aufklärung“ erstmals las, überkam mich ein ungutes Gefühl, das ich aber nicht in Worten klar auszudrücken vermochte. Auch ein Bekannter, der von Adornos „Minima Moralia (1951)“ schwärmte, sagte sinngemäß: „Ich verstehe einfach nicht, was die ,Dialektik der Aufklärung aussagen will.“ Der Grund dafür besteht in der Darstellungsweise: Sätze werden lediglich assioziativ miteinander verbunden. Manches ist nur angedeutet oder ungenau umschrieben. Dieses Verfahren hat seinen Grund: Einerseits möchte die „Dialektik der Aufklärung“ grundsätzlich alles kritisieren, ohne sich selbst der Kritik auszusetzen: Sepien machen sich mit Hilfe der von ihnen versprühten Tinte unsichtbar. Andererseits scheut man sich vor exakter Begrifflichkeit, um eine vorgebliche Herrschaft des Begriffs anzuprangern: Die Verfasser behaupten, die begriffliche Erfassung der Natur habe zur Herrschaft des Begriffs über die Natur geführt, damit aber auch über diejenige des Menschen, was von der „Dialektik der Aufklärung“ unzutreffend als Herrschaft der Natur ausgegeben wird. Die „Dialektik der Aufklärung“ schaltet mit dem Begriff aber zugleich die Vernunft aus, was den Trieben Tür und Tor öffnet; letzteres entspricht der Intention Horkheimers. Daneben führt die Abwendung vom Begriff zur Trennung von erkennendem Subjekt und der Natur als zu erkennendem Objekt; dadurch entzieht sich das Subjekt als das Individuelle dem Anspruch des Begriffs, der stets Allgemeines bezeichnet, und dies entspricht der Intention Adornos.

Die Unklarheit des Textes war gewiß auch eine Ursache dafür, daß die „Dialektik der Aufklärung“ erst ganz allmählich wirken konnte, dafür aber in nachhaltigster Weise. Der leichteste Zugang zu dem, was Horkheimer und Adorno schreiben, ergibt sich m.E. durch die Vergegenwärtigung des – aus stoischer Wurzel erwachsenen – traditionell katholischen bzw. scholastischen Begriffes menschlicher Freiheit: Die vernunftlose Natur ist der Notwendigkeit unterworfen, so daß u.a. Tiere ihren Trieben zu folgen haben. Die Vernunft gibt dem Menschen Freiheit, da er ihnen nicht ausgeliefert ist, sondern wählen kann, ob er den Trieben folgen will oder nicht; freilich gelingt dies dem unter der Erbsünde stehenden Menschen nur unzulänglich. – Die Konzeption von Natur-Notwendigkeit und Geist-Freiheit wurde in modifizierter Form von verschiedensten Philosophen übernommen.

Die „Dialektik der Aufklärung“ weist einen defizitären Begriff von Vernunft auf: Sie kennt keine Welt des Geistigen und damit keine Eigenständigkeit der Vernunft, sondern nur eine auf die Natur bezogene. Um die Natur zu beherrschen, verbindet sich die Vernunft [in Gestalt des Begriffs] mit der Natur: Wenn sie die Natur danach [mit Hilfe von Begriffen] regiert, wird die Vernunft gewissermaßen zur Funktion der Natur. – Das ist freilich eine kaum nachzuvollziehende Behauptung: Wie sollte eine Verbindung von Natur und Vernunft zu Stande kommen, wenn beide ganz verschieden sind, und wenn die Natur der Vernunft [in Gestalt des Begriffs] unterworfen wird, wieso sollte sich das Verhältnis dann umkehren?

Konsequent erscheint höchstens der Gedanke der beiden Verfasser, daß die Unterwerfung der Natur unter die Vernunft [bzw. den Begriff] nicht auf die äußere Welt beschränkt bleibt, sondern auch die Natur des Menschen einschließt, also das, was er abgesehen von der ihm gegebenen Vernunft ist. Der Mensch unterwirft indirekt seine eigene Natur, also sich selbst der Vernunft als etwas der Natur [mit ihren Trieben] Fremdem. – Warum geschieht dies?

Die Vernunft muß sich gemäß der „Dialektik der Aufklärung“ auf die Natur ausbreiten, um den Menschen aus seiner „Naturverfallenheit“, also der Notwendigkeit, zu befreien, der er ausgeliefert ist; allein die Vernunft kann ihn befreien. Doch sie führt Subjekt und Objekt auf Grund des Erkennens des Objekts durch das Subjekt aus ihrer ursprünglichen Einheit [der Notwendigkeit] in eine Situation der Zertrennung, die es zu überwinden gelte; der Mensch tritt sozusagen aus der Natur heraus. Dies ist ganz traditionell gedacht: In der Natur besteht Notwendigkeit, nur der Geist in Gestalt der Vernunft gewährt Freiheit davon. – Im Widerspruch dazu wird jedoch von den Verfassern der „Dialektik der Aufklärung“ ebenso behauptet, daß sich die vom Subjekt ausgehende Vernunft mit dem natürlichen Objekt verbinde, und die Folge davon sei, wie oben schon erwähnt, daß zugleich mit der Aufhebung der naturgegebenen Notwendigkeit die Natur des Menschen von der Vernunft ergriffen wird; da der Mensch in der „Dialektik der Aufklärung“ aber von seiner Natur her verstanden wird und die Vernunft ihm nur wie ein ihm überlassenes Instrument zur Befreiung dient, unterwirft er sich bei der Befreiung von der Notwendigkeit der ihm im Grunde fremden Vernunft: Es entsteht dadurch eine neue Art von Notwendigkeit, die mit der alten, natürlichen vergleichbar ist. Deshalb muß sich der Mensch beim Vollzug der Verbindung der ihm gegebenen Vernunft mit der Natur beständig kritisieren, sich also von sich selbst als Vernunftbegabtem distanzieren, um der durch die Verbindung von Vernunft (Subjekt) und Natur (Objekt) unausweichlichen „Verdinglichung“ (des Subjekts) und damit erneuter Unfreiheit [unter der Herrschaft der Vernunft] zu entgehen.

Ungewollt zeigen die beiden Autoren damit, daß alle diejenigen, die den Menschen als Triebwesen verstehen, ihn der natürlichen Notwendigkeit überlassen, denn das was in der „Dialektik der Aufklärung“ als Lösung angeboten, das ständige Kritisieren des eigenen Tuns, wirkt kaum überzeugend. Menschliche Freiheit gibt es nur dort, wo der Mensch als Vernunftswesen verstanden wird, das sich mit Hilfe der von ihm gebildeten Begriffe die ihn umgebende wie die eigene Natur erkennt und sich von ihr bzw. der eigenen Natur nicht beherrschen läßt.

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Was ist unter dem Begriff zu verstehen? Nun, das Erkennen des Subjekts geschieht mittels des Allgemeinen. Man stellt z.B. fest, daß es lauter einander in bestimmten Punkten gleichende Dinge gibt, so etwa aus dem Boden Hervorwachsendes, das im Herbst eingeht und im Frühjahr wiederaufsprießt, und spricht von Pflanzen. Damit hat man das Allgemeine erfaßt, aber jede Pflanze hat auch wieder ihre Besonderheiten. Durch letztere wird jedes einzelne Exemplar zu etwas Individuellem. Demnach, so meinen Horkheimer und Adorno, müßten im Erkennen diese Besonderheiten dem, was als Allgemeines erkannt worden war, gleichgestellt, ja vorgezogen werden, so daß man letztlich einer Welt von lauter einzelnen individuellen Dingen im Erkennen [und nachfolgend im Benennen] gerecht wird. Dies geschieht nicht, denn es ist unmöglich. Unsere Sprache benennt wohl den einzelnen Menschen mit einem Eigennamen, weil er ein selbständig erkennendes und wollendes Subjekt ist, nicht aber z.B. einen bestimmten Stein: Dieser ist lediglich ein Vertreter seiner Art. Für unser Sprechen ebenso wie unser Erkennen ist das Allgemeine konstitutiv. Darum wären Begriffe selbst dann unverzichtbar, wenn tatsächlich alles aus lauter individuellen Dingen bestünde: Wir würden diese – auf Grund der Komplexität der Weltwirklichkeit – nie als solche verstehen und bezeichnen können. – Aber, so Horkheimer und Adorno, weil dies nicht geschieht, wird man im Erkennen den Dingen nicht gerecht, da man sie eben nur als Vertreter einer Art, also unter dem Aspekt des Allgemeinen, betrachtet. Alle als Objekt wahrgenommene Natur wird dadurch vom Subjekt, das sich als Individuum versteht, abgespalten, und das Subjekt, das mit der Natur nicht mehr vereint, aber doch eigentlich ein Teil der Natur ist, ist dieser und damit sich selbst entfremdet.

So wird eine der Natur – und damit auch der Natur des Menschen – nie gerechtwerdende Herrschaft des Allgemeinen postuliert, die zur Trennung von Subjekt und Objekt geführt habe. Sie habe bereits in frühester Zeit begonnen, nämlich mit den Mythen, die die Welt erklären. Nach einer Phase des Christentums, das Erlösung durch Opferung der Vernunft anstrebte, kam die Aufklärung. Sie vollendet sich mit der Ablösung von Allgemeinbegriffen durch Zahlen, mit Hilfe derer die Wirklichkeit erfaßt, die Natur als Steinbruch genutzt wird, um die Welt zu erbauen, die das entfremdete Subjekt zum Selbst-Erhalt braucht.

Selbst-Erhalt habe ich, anders als Horkheimer und Adorno, getrennt geschrieben, um damit anzuzeigen, daß es um etwas anderes geht, als man gemeinhin darunter versteht. Mit „Selbst“ meinen die Autoren der „Dialektik der Aufklärung“ nicht einfach als das Subjekt selbst, sondern als dessen entfremdeten Zustand. Die „Selbst-Erhaltung“ erhält deshalb den Zustand der Entfremdung aufrecht. – Dieser spiegelt sich in der Gesellschaft wider, indem die Herrschenden mit den Beherrschten so verfahren wie alle ins Gesamt mit der Natur; dies schließt die eigene Natur bzw. den Körper des Menschen ein. Im Verhältnis zum eigenen Körper als Teil der entfremdeten Natur spiegelt sich nach Auffassung der „Dialektik der Aufklärung“ das Verhalten der im Staat Herrschenden gegenüber den Beherrschten wider. Als Subjekt und Objekt noch nicht voneinander getrennt waren, bestand das menschliche Verhalten darin, die körperlichen Bedürfnisse zu stillen. In entfremdeten Verhältnissen findet die Rückwendung zu diesem Zustand ihren Ausdruck im Genuß und in der Absage an jede Form der Askese; zugleich herrscht gegenüber dem anderen Entfremdeten Mitleid. M.a.W. wenn man nicht [mit Adorno] damit beschäftigt ist, Kritik zu üben, wendet man sich [mit Horkheimer] der Befriedigung der eigenen animalischen Triebe zu und hat für alle, die dies nicht tun, nur Bedauern übrig.

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Die Gesellschaft der vollendeten Aufklärung ist der Faschismus mit seiner radikalen Beseitigung alles Individuellen, und die liberalen Gesellschaften des Westens befinden auf dem Wege dorthin, aufgehalten nur durch die Kritik alles Bestehenden, die das Verschwinden des Individuellen verhindert, das exemplarischen Ausdruck im Judentum finde. – Wenn man von dem erst im weiteren Verlauf des Buches erwähnten Judentum absieht und „Totalitarismus“ an die Stelle des „Faschismus“ setzt, erscheint die Argumentation stringenter: Mit der Zerstörung aller traditionellen, sozialen Strukturen durch den Liberalismus sieht sich der Mensch ganz sich selbst überlassen. Er darf sich beliebige Ziele setzen und sie nach seinem individuellen Glück strebend zu realisieren suchen, denn es fehlen objektive Größen, hier: der Moral, zur Bewertung. Damit aber eine Gesellschaft aus lauter Einzelgängern noch irgendwie zusammengehalten wird, benötigt sie im Gegenzug immer totalitärere Methoden von Seiten des Staates: Der übersteigerte Individualismus schlägt um in Totalitarismus als radikale Beseitigung alles Individuellen.

Die Auffassung der „Dialektik der Aufklärung“ vom Faschismus ist immerhin noch kompatibel mit der marxistischen-leninistischen, wonach der Faschismus die terroristische Herrschaftsform derselben Bourgeoisie ist, die – durch die äußeren Umstände weniger bedrängt – mittels des Parlamentarismus regiert. Die „Dialektik der Aufklärung“ geht jedoch zugleich darüber hinaus, indem sie der bürgerlichen Gesellschaft eine innere Gesetzmäßigkeit zuschreibt, die konsequenter Weise zum Faschismus führt, der nicht bloß eine durch ungünstige äußere Bedingungen veranlaßte Notlösung darstellt. So skandierten Demonstranten in der BRD um 1970: „Kapitalismus – führt zum Faschismus, / Kapitalismus – muß weg!“ und „USA – SA – SS!“ Man sieht daran, wie tief das Denken der „Dialektik der Aufklärung“ in die Köpfe jüngerer Intellektueller eingedrungen war, so daß es bereits in Schlagworten Ausdruck fand; genau genommen war es mehr Adorno als Horkheimer, dem man in der Frage des Verhältnisses von Liberalismus und Faschismus folgte. Horkheimers Position wich nämlich von derjenigen der „Dialektik der Aufklärung“ ab. Im ersten Kapietl des 1947 erschienenen Buches „Eclipse of Reason“* heißt es zwar, es gebe eine „Tendenz des Liberalismus in Faschismus umzuschlagen“, doch die Ausführungen Horkheimers zu diesem Thema dort widersprechen dem: Darin zeigt sich nämlich der Faschismus als Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudrehen, nicht als Vollendung der Aufklärung. Nach Horkheimers „Eclipse of Reason“ läßt sich die geschichtlich überholte Volksgemeinschaft des Faschismus deshalb nur noch durch Terror verwirklichen; sie wird damit gerade gegen die „Tendenz“ der Geschichte durchgesetzt, die mit der Vereinzelung der Menschen im Liberalismus bereits darüber hinweggegangen ist.

* „Eclipse of Reason (1947, dtsch. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, 1967)“

Übrigens waren die Mitglieder der ab 1970 entstandenen linksterroristischen RAF* davon überzeugt, daß der Faschismus bereits herrsche; sie wollten ihn durch ihren Terror zwingen, sich unverhüllt zu zeigen, so daß die Revolution als Reaktion gegen die offensichtlich gewordene Unterdrückung befördert würde. Adorno, der das spätere Geschehen nicht mehr erlebte und daher allenfalls erahnen konnte, klagte bereits angesichts der zunehmenden Studentenunruhen und der durch ihn veranlaßten Räumung des Instituts durch die Polizei am 31. Januar 1969: „Ich habe ein theoretisches Denkmodell aufgestellt. Wie konnte ich ahnen, daß Leute es mit Molotow-Cocktails [- also durch mit brennbarer Flüssigkeit gefüllte Flaschen -] verwirklichen wollen.“ Wie recht er damit hatte, zeigte sich ab 1970, als sich die RAF bildete, ein Jahr nach Adornos Tod; zwei Brandanschläge des Jahres 1968 auf Frankfurter Kaufhäuser hatten den Auftakt zu deren terroristischen Aktionen dargestellt.

* Rote Armee Fraktion

Auch das Motiv der RAF, stellvertretend Widerstand gegen den Faschismus zu leisten, worin die Generation der Eltern versagt habe, ist mit Adornos Denken verbunden, da er als einer der ersten die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung verkündete und Auschwitz zum Synonym dafür erklärte.* Zusammen mit der Unterstellung einer Kollektivschuld ergab dies die geistige Grundlage einer Ideologie, als deren Schlagwort „Auschwitz“** diente. Dabei hatte Adorno die rebellierenden deutschen Studenten der zweiten Hälfte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts ausdrücklich mit den verfolgten Juden der NS-Zeit gleichgesetzt; nach der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg*** hatte Adorno im Soziologischen Seminar verkündet, „daß die Studenten heute die Rolle der Juden spielen“, und auch später wurde er „dieses Gefühl nicht los“. Solche Aussagen aus dem Munde eines damals weithin anerkannten, ja berühmten Philosophen verstärkten die Verkennung der Wirklichkeit auf Seiten der politischen Linken in Deutschland gewiß erheblich. Daher darf man die RAF zwar keineswegs auf Adorno zurückführen, doch hat sein öffentliches Wirken ein gerüttelt Maß zur Entstehung der geschichtlichen Situation beigetragen, aus der die RAF hervorging.

* Von Adorno wurde 1949 die (zwei Jahre darauf in „Kulturkritik und Gesellschaft“ veröffentlichte) Behauptung aufgestellt, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“. Und 1966 ging er (in den „Meditationen zur Metaphysik“ der „Negativen Dialektik“) darüber hinaus, indem er ganz grundsätzlich fragte, „ob nach Auschwitz noch sich leben lasse“.

** Später verdrängte der (einem us-amerikanischen Fernsehfilm von 1978 entnommene) Begriff „Holocaust“ die Bezeichnung „Auschwitz“ zunehmend.

*** geb. 1940, gest. 1967; er wurde in den Hinterkopf geschossen von einen West-Berliner Polizisten, der für die Ost-Berliner Staatssicherheit gearbeitet hatte, wie sich 2009 herausstellte.

5 Kommentare zu „Die Frankfurter Schule 3: „Dialektik der Aufklärung“ (neue Fassung)“

  • MartinP:

    Hin und her. Fakt ist, dass die Frankfurter Schule letztendlich auch sozialistisch/kommunistisch ist!

  • Unke:

    Es ist ja mittlerweile so, dass, wenn sich bei meiner Bank oder Versicherung die AGB ändern (idR w/aufsichtsrechtlicher Vorgaben, BTW) mir das Institut eine Broschüre zukommen lässt in der die Änderungen aufgeführt werden.
    Das fände ich auch hier ganz praktisch: könnte man dem eine Anleitung voranstellen, in der die Änderungen gegenüber alten Fassung zusammengefasst werden?

  • Unke:

    nicht „Anleitung“, sondern Einleitung. Sorry.

  • Carl Sand:

    @MartinP

    Dass die Theorie des Staatsmonopolkapitalismus von Lenin stammt, ändert nichts daran, dass sie richtig ist.

    Aufgabe dieser Artikelserie ist, den Bruch zwischen Marxismus alter Schule und dem neuen „liberalen“ Totalitarismus aufzuzeigen, der auf der Basis der Franklfurter Schule errichtet worden ist und dessen Protagonisten sich nicht nur mit dem internationalen Kapital (ausser rethorisch) längst ausgesöhnt haben – zu dessen Speerspitze sie geworden sind.

    Ihr antikommunistischer Reflex mag einem Platitüdenkonservatismus der 50er Jahre geschuldet sein – und ist insoweit richtig, dass jeder Kommunismus auch totalitär ist – aber bedenken Sie:

    Die „DDR“ hat wenigstens nicht versucht, ihr eigenens Volk auszurotten!

    Und darum geht es, vor diesem Hintergrund müssen alle anderen Diskussionen verblassen.

  • virOblationis:

    @ Unke
    Wenn einer der Leser eine solche Übersicht zusammenstellen würde, wäre mir das willkommen. – Mir selbst fehlt es ein wenig an Zeit dafür und auch die Motivation, weil ich mich auf das noch zu Schreibende konzentriere.

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