Inhaltsverzeichnis

Der Ochlos

von virOblationis

Die Fertigstellung des Artikels „Die Frankfurter Schule 5: Marcuse“ wird noch etwas Zeit brauchen. Daher zwischendurch etwas anderes. – Ökonomische Globalisierung, Einmischung des Staates in private Belange, das Verlangen bestimmter politischer Kreise nach „Zuwanderung“ aus verschiedenen Teilen der Welt, einst begründet als Gewährung von Asyl für Verfolgte, dann als Notwendigkeit wegen der demographischen Entwicklung und schließlich nur noch dargestellt als nötiger Arbeitskräftezuzug oder als eben hinzunehmende, aus welchen Ursachen auch immer sich vollziehende „Migration“ – all das sind Kennzeichen unserer Gegenwart. Die Tatsachen sind jedem bekannt und unumstritten. Aber wie sieht der Zusammenhang aus, in dem sie stehen? Ist das eine Ursache des andern, gehören alle genannten Tatsachen als Elemente zu einem System, oder sind sie unabhängig voneinander? Wenn man eine Antwort auf diese Frage hätte, wäre es leichter, eine Gegenstrategie zu entwickeln.

*

Am heutigen Tage jährt sich zum fünfzigsten Male der „Marsch auf Washington“. In Zeitungsartikeln und Fernsehbeiträgen, die im Netz zu finden sind, wird darauf hingewiesen. 200.000 Menschen versammelten sich 1963 in der Hauptstadt der USA, um ein Ende von Rassentrennung und Diskriminierung zu verlangen. Martin Luther King hielt seine berühmte Rede „I have a dream“. – Was mich nur stutzig gemacht hat, ist – neben der Teilnahme zahlreicher  Prominenter aus der „Kulturindustrie“ – die Direktübertragung des Ereignisses im Fernsehen, die sich auch US-Präsident Kennedy anschaute. Dies erweckte in mir den Eindruck einer Inszenierung. Verstärkt wurde dies dadurch, daß man am Ort der Rede die Worte „I have a dream“ inzwischen in den Stein einer Fußbodenplatte gehauen hat, wie um das Geschehen für die Ewigkeit zu bewahren.

Inzwischen dürfte klar sein, daß das Ereignis vor fünfizig Jahren Teil eines politischen Bestrebens gewesen ist, das auf weit mehr zielt, als bloße Beseitigung von Diskriminierung. Mittlerweile wird nämlich immer wieder das Argument vorgebracht, man müsse Gleichheit herstellen und dazu ungleich behandeln bzw. vorgeblich oder tatsächlich Diskriminierte bevorzugen; dieses Argument begegnet in verschiedenen Bereichen und dient dazu, bestimmte Gruppierungen zu privilegieren, im Falle schwarzer US-Amerikaner z.B. an den Universitäten. – Warum geschieht dies?

*

In bezug auf die Gesellschaftsordnung des 20. Jahrhunderts scheint mir Lenins Analyse in „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus (1917)“ weithin zutreffend, wenn ich sie aus dem Zusammenhang der marxistischen Ideologie herauslöse. Lenin benutzte für das genannte Werk vor allem zwei Quellen: John Atkinson Hobsons „Imperialism (1902)“ und Rudolf Hilferdings „Das Finanzkapital (1910)“. Von Hobson übernahm Lenin auch die – nicht sehr glückliche – Bezeichnung Imperialismus, für eine Phase des Kapitalismus, die sich nicht nur durch Krieg um Vorherrschaft auszeichnet, wie man meinen könnte, wenn von „Imperialismus“ die Rede ist, sondern durch eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung, und zwar den Monopolkapitalismus, der in den staatsmonopolistischen Kapitalismus übergeht, wie Lenin in „Staat und Revolution (1917)“ mehrfach sagt; daraus bildete sich die Bezeichnung „Sta[ats]Mo[nopol]Kap[italismus]“, die neutraler ist als „Imperialismus“.* In dieser Spätphase des Kapitalismus verschmilzt die auf Großindustrie und Banken geschrumpfte Klasse der Kapitalisten personell mit dem Staatsapparat, deren Elite heute oft „politische Klasse“ genannt wird. Dazu sei angemerkt, daß Lenin hätte stutzig werden können, wäre er selbstkritischer gewesen, angesichts der Tatsache, daß der Staatsapparat zuvor von den Kapitalisten personell getrennt war, wo doch nach marxistischer Auffassung der Staat im Dienste der „herrschenden Klasse“ tätig ist. Gerade die personelle Eigenständigkeit der politischen Klasse ist aber aus meiner Sicht eine Bedingung dafür, daß sie nicht ausschließlich die Interessen einer einzigen gesellschaftlichen Gruppierung vertritt, sondern auch offen ist für die Anliegen der übrigen.

* Was Lenin allerdings Hilferding vorwirft, nämlich daß er in der Geldtheorie irre, scheint gerade nicht der Fall zu sein: Hilferding geht davon aus, daß der Komplex aus Industrie und Banken, in bezug auf den man von Staatsmonopolkapitalismus sprechen kann, vom Finanzkapital dominiert wird. (Allerdings gelingt es die Erdölindustrie noch immer, ihre Vertreter ins Amt des US-Präsidenten zu befördern, s. Bush Sen. und Jun.) Lenin vermochte sich wohl nicht vorzustellen, daß die Produktion materieller Güter, zum bloßen Investitionsprojekt von Banken werden könnte, doch ist dies seit den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts im „Westen“ Wirklichkeit geworden.

Warum geht die personelle Eigenständigkeit der politischen Klasse, die Lenin m.E. ganz zutreffend beobachtet, verloren? Der Grund scheint mir in dem Schrumpfen derjenigen Gruppierung zu bestehen, die der Marxismus-Leninismus als herrschende Klasse bezeichnet, in der zunehmenden Monopolisierung, der auch unser Kartellamt nicht immer wirksam entgegenzutreten vermag; mittelständische Unternehmen geraten ins Hintertreffen. Angesichts einer solchen Entwicklung wird die Gruppe derer, die die Richtung der Politik im Staate größtenteils bestimmen, immer kleiner, und in einer parlamentarischen Demokratie wächst die Gefahr, daß sich jenseits ihrer Interessen Mehrheiten bilden; von daher scheint eine Verschmelzung mit der politischen Klasse als Verbreiterung der Basis durchaus sinnvoll. Doch sie löst das Problem nicht grundsätzlich, da ihr noch immer zu wenige Personen angehören.

Es galt also, eine Strategie zu entwickeln, um eine Schicht von Personen zu konstituieren, die ein vitales Interesse an der Aufrechterhaltung der bestehenden Verhältnisse hat. Wenn ausreichender Wohlstand vorhanden ist, so eignet sich dazu die Gruppe der sozial Deklassierten, die im Gefolge der Zerstörung traditioneller sozialer Bindungen (und gleichzeitig zunehmender Tendenz zu totaler Herrschaft) beständig wächst; wenn dieses Prekariat durch Sozialleistungen der werktätigen Bevölkerung, der Selbständigen und Unternehmer nicht nur wohltätige Nothilfe erhält, sondern mit materiellen Gütern so reichlich ausgestattet wird, daß es den Vergleich mit Geringverdienern nicht zu scheuen braucht, dann wird es sein Interesse sein, dieses System der Versorgung aufrechtzuerhalten.

*

In den USA gibt es die große Gruppe von Bürgern, deren Vorfahren afrikanischer Herkunft gewesen sind und denen in der Vergangenheit durch den Sklavenstatus schweres Unrecht zugefügt worden ist. Wenn man die Nachfahren nicht nur mit den weißen Bürgern gleichstellte, sondern ihnen Vorrechte einräumte, mußten sie natürlicher Weise ein Interesse an der Beibehaltung dieses Zustandes gewinnen; oben ist darauf hingewiesen worden, wie sich diese Bevorzugung mittlerweile verwirklicht hat. – Da die USA den übrigen Staaten des „Westens“ stets als Vorbild dienten, ließ sich auch dort eine zukünftig zu privilegierende Schicht nicht-europäischer Herkunft installieren, in Großbritannien rekrutiert aus verschiedenen asiatischen, afrikanischen und karibischen Kolonien, in Frankreich durch Afrikaner südlich und nördlich der Sahara und in der BRD durch Türken.* Deren Privilegierung schlägt sich auch in der Rechtsprechung nieder, die Anfeindungen gegen sie sehr hart sanktioniert und sie zugleich als Täter schont; die Beispiele sind zu geläufig, als daß noch eines angeführt werden müßte**

* In Großbritannien und Frankreich konnte dies durch Unrecht gegenüber den ehemaligen Kolonialvölkern begründet werden, in der BRD stand dafür nur „Auschwitz“ als anti-rassistisches Absolutum zur Verfügung.

** Auch die Bevorzugung u.a. des weiblichen Geschlechts (Quote etc.) gehört in diesen Zusammenhang. – In den USA spricht man ganz allgemein von affirmative action.

Diese erste Gruppe zu Privilegierender bildete nur den Auftakt zur Einwanderung der Angehörigen verschiedenster Völkerschaften. Deutlich zeigt sich dies wieder in den USA, wo die 1924 gesetzlich beschränkte Einwanderung ab 1965 schrittweise erleichtert wurde, wobei die kulturelle Verwandtschaft mit der dort lebenden Bevölkerung gerade kein Kriterium mehr bildet, seit 1990 Länder- und nachfolgende Hemisphärenquoten durch eine pauschale, global geltende Zahl ersetzt wurde. – Wieder diente dies als Vorbild für die Zuwanderung verschiedenster Menschen in die übrigen Staaten des „Westens“ nach 1989.

So entstand aus einheimischem Prekariat und fremdstämmigen Einwanderern eine Schicht von Privilegierten, die ein Interesse an der Aufrechterhaltung der herrschenden Oligarchie hat;* je deutlicher die Privilegierung ausgesprägt ist, desto geringer wird die Neigung sein, sich zu assimilieren. Im Unterschied zu dem einheimischen Volk (samt Assimilierten), das man – unter verschiedenen Gesichtspunkten – griechisch als Demos oder Laos** bezeichnen kann, bildet die Schicht der Unterstützer der Herrschenden eine nicht-homogene Gruppe, die daher Ochlos, Menge, genannt werden darf. – Dieses (finanzkapitalistische) System wird spätestens dann zusammenbrechen, wenn der Demos nicht mehr in der Lage sein wird, den beständig wachsenden Ochlos zu finanzieren.***

* Hinzu kommt die Alte Linke, die 1989 sozusagen ihre Heimatbasis verloren hat und nun einerseits Sozialingenieure für den Ochlos stellt und deren weniger intelligente Mitglieder andererseits eine Knüppelgarde gerade derjenigen bilden, die sie zu bekämpfen vorgeben.

** Demos bezeichnet das Volk vor allem in politischer Hinsicht, Laos in militärischer.

*** Eine zweite Strategie zur Absicherung der Macht bei personell abnehmender Größe bildet die Delegation von Entscheidungsbefugnissen an nicht-gewählte Institutionen, aber das ist ein eigenes Thema.

2 Kommentare zu „Der Ochlos“

  • Jan:

    Divide et impera. Die Schichten, die Macht ausüben, sind doch gar nicht mehr an irgendeinen Nationalstaat gebunden. Die Linke, im herkömmlichen Sinne, ist tot. Sie haben ja gut beschrieben, wie die Frankfurter Schule ihren Verlauf nahm. Das ist m.E. eine ganz neue Strömung, die mit dem alten, ethonzentrisch denkenden Marxismus nichts mehr zu tun hat.

  • virOblationis:

    @ Jan
    Mir scheint, daß schon die antiken Römer einen Ochlos unterhielten, zwar nicht vom Staat bezahlt, aber von einzelnen Politikern. Da es nach den Kriegen gegen Karthago in der Spätzeit der Republik viele von ihrem Land vertriebene Bauern in der Hauptstadt gab, die nichts mehr besaßen außer ihrem Bürgerrecht wurde ihnen (abgesehen vom bezahlten Militärdienst ab ca. 100 v. Chr.) vielfach Unterstützung zuteil vor allem vor Wahlen. Da sich die Kandidaten für bestimmte Ämter bei den Wählern beliebt zu machen hatten, veranstalteten sie z.B. Spiele, bei denen jeder Besucher außer der Unterhaltung noch Brot und Wein erhielt; vgl. „Brot und Spiele“. Auf diese Weise ergab sich bei den Besitzlosen ein Interesse an der Aufrechterhaltung des politischen Systems. Ohne Unterstützung hätte ihre Neigung zum Umsturz gefährlich anwachsen können.

Kommentieren