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Die Frankfurter Schule 5: Marcuse

von virOblationis

Im Sommer 1947 sandte der in die USA zurückgekehrte Marcuse nach einem Besuch bei Heidegger in der französischen Besatzungszone einen Brief sowie ein Hilfspaket an seinen ehemaligen Philosophielehrer, obwohl Heidegger vor Marcuse kein Bekenntnis einer Wandlung, also der Reue, abgelegt hatte, was Marcuse noch immer von ihm erwartete, wie er nun schrieb. Denn das „[NS-]Regime…[habe] Millionen meiner Glaubensgenossen (sc. Juden) in die Gaskammern geschickt“ und der „begeisterte[n] Verteidigung des Nazistaates und des Führers“ habe sich Heidegger doch 1933/1934 schuldig gemacht. – Bemerkenswert erscheint die Formulierung, die sämtlichen [sechs] Millionen getöteten Juden den Tod in der Gaskammer zuschreibt, obwohl Marcuse doch nicht wirklich davon ausgehen konnte, daß nicht zumindest etliche auf andere Weise umgekommen waren. Offenbar hat er zwei Sätze zu einem einzigen verkürzt: Von Millionen toten Juden sprach Adorno schon 1944*; die Rede von Gaskammern zur Tötung von Juden dürfte 1945 hinzugekommen sein. Daß Marcuse sie in diesem Zusammenhang „Glaubensgenossen“ nennt, wird auch kaum seiner eigenen Ausdrucksweise zuzuschreiben sein. Weist diese unreflektierte Übernahme von so etwas wie feststehenden Wendungen darauf hin, daß Marcuse sich – außer im Brief an Heidegger – gedanklich wenig mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung auseinandersetzte?

* Minima Moralia, Erster Teil Nr. 33

Hatte man 1933/1934 etwa schon absehen können, in welcher Weise das NS-Regime während eines künftigen Krieges entarten würde? – Auf diese Frage geht Marcuse in seinem ersten Brief nicht ein, sondern verweist daruf, daß er auch ohne seine jüdische Abstammung „von Anfang an anti Nazi“ gewesen wäre, und dieselbe Haltung hätte Heidegger eben auch zeigen müssen; da er dies nicht tat, bleibe ihm nur das Bekenntnis seiner endlich vollzogenen Wandlung, und dieses stehe immer noch aus.

Aus der Rückschau betrachtet erscheint es so, als ob 1947/1948 zwei bekannte Philosophen erst im mündlich geführten Gespräch und dann brieflich einander in einer Kontroverse gegenübertraten; aber so stellte es sich zu jener Zeit nicht dar. Damals war Heidegger ein darbender, mit Lehrverbot belegter Professor, dessen Söhne sich in sowjetischer Kriegsgefangenschaft befanden, und Marcuse trat ihm als Vertreter der us-amerikanischen Besatzungsmacht gegenüber;* nach seiner geheimdienstlichen Tätigkeit leitete er inzwischen die Sektion Zentrales Europa im US-Außenministerium. Daß Marcuse später auch als Philosoph an Universitäten unterrichten würde, war 1947 noch nicht abzusehen, denn mit seinem Versuch einer Habilitation war er ja 1932 gescheitert.

* Einer der beiden Söhne Heideggers kehrte im September 1947 heim, nachdem Marcuse seinen ersten Brief abgesandt hatte, der andere 1949.

Wenn man sich fragt, mit welchem Recht Marcuse als ehemaliger Schüler Heideggers von diesem ein Reuebekentnis verlangt, dann mag man auf Marcuses jüdische Herkunft verweisen: Doch war es üblich, daß ein Jude nach dem Ende des Krieges privat von irgendeinem Deutschen eine Versicherung geistiger Wandlung forderte? Dann müßte solches vielfach nachzuweisen sein. – Natürlich kannten Heidegger und Marcuse einander persönlich, denn angesichts der geringen Anzahl der Studenten konnte dem Professor kein Gesicht eines regelmäßigen Hörers entgehen, und da Marcuse sich habilitieren wollte, dürfte er öfter mit Heidegger gesprochen haben.

Die gescheiterte Habilitation Marcuses wird in dem Briefwechsel mit Heidegger zwar nicht erwähnt, doch könnte sie den Hintergrund bilden für den Besuch des ehemaligen Studenten bei seinem Lehrer und die folgenden Briefe. Dies wird öfter vermutet, denn man muß sich ja fragen, warum Marcuse so viel Initiative zeigte, um einen bestimmten Menschen, mit dem er sonst kaum zu tun hatte, zum Bekenntnis [des Irrtums und] der Wandlung zu bringen. – Heidegger hatte 1932 Marcuses Scheitern im Fache Philosophie miterlebt, und nun versuchte Marcuse anscheinend, Heidegger das Eingeständnis seines eigenen Scheiterns als Philosoph abzuringen.

Offenbar konnte Marcuse in fachlicher Hinsicht keinen Vorwurf gegen Heidegger erheben: Warum hätte er dies sonst unerwähnt gelassen? Also suchte er nicht, Heidegger als Philosophen zu kritisieren, sondern ihn als solchen ganz und gar zu disqualifizieren. Dazu gebrauchte Marcuse als Anrede in seinem Brief aus dem Sommer 1947 „Lieber Herr Heidegger“, also die Übersetzung von „Dear Mr. Heidegger“, nicht etwa: „Sehr geehrter Herr Professor“ o.ä. Marcuse sprach Heidegger nämlich als einen „Nazi Ideologen“ an, denn der „allgemeine Menschenverstand…weigert sich, in Ihnen (sc. Heidegger) einen Philosophen zu sehen, weil er Philosophie und Nazismus für unvereinbar hält.“ Heidegger wird nur dann weiterhin als [irrender] Philosoph gelten, wenn er ein „öffentliches Bekenntnis Ihrer (sc. seiner) Wandlung und Verwandlung“ ablegt. Dadurch könnte er die Identifizierung seiner Person und seines Werkes mit dem Nazismus, die seine Philosophie zunichte macht, „bekämpfen“; und Marcuse fügt als Repräsentant der bedeutendsten west-alliierten Besatzungsmacht hinzu: „wir können sie nur dann bekämpfen“.* Verweigert Heidegger das Bekenntnis, dann verfällt seine Philosophie [zusammen mit dem Nazismus] der „Auslöschung“.

* kursiv von mir, vO

Heidegger antwortete im folgenden Winter; die Versorgungslage war nicht mehr ganz so katastrophal wie ein Jahr zuvor, da tausende Deutsche vor den Augen der Besatzungsmächte verhungerten und erfroren. Heideggers Brief fehlt die Anrede. Den Inhalt des Hilfspaketes habe er an frühere Schüler verteilen lassen „zur Beruhigung Ihrer (sc. Marcuses) Freunde“, die ihr Unverständnis geäußert hatten angesichts der Großmut Marcuses gegenüber einem Unterstützer des NS-Regimes, was Marcuse in seinem Brief zu erwähnen nicht vergessen hatte. – Das 1946 über Heidegger verhängte Lehrverbot der französischen Besatzungsmacht wurde erst 1949 aufgehoben. Der Philosoph hatte also ausreichend Gelegenheit und Anlaß, sich mit seinem Verhalten während der NS-Zeit auseinanderzusetzen.

Statt auf Marcuses Forderung einzugehen und seine geistige Wandlung zu beteuern, sucht Heidegger sein Verhalten aus der geschichtlichen Situation des Jahres 1933 heraus zu erklären. Er habe die neue Regierung nach der „Machtergreifung“ begrüßt, da er auf „Aussöhnung sozialer Gegensätze und eine Rettung abendländischen Denkens vor den Gefahren des Kommunismus“ gehofft habe. – Damit entlarvt Heidegger sich nach Marcuses Auffassung schon, denn die UdSSR war ja während des Krieges mit den USA verbündet, zumindest nach 1941.* Der Marxist Marcuse entgegnete Heidegger, der „,…Kommunismus…[sei] ein wesentlicher Bestandteil dieses Daseins…!“ – Statt von einer Rettung des abendländischen Denkens schreibt Marcuse von der „,Rettung des abendländischen Daseins…“, da er Heidegger ungenau zitiert, und im Anschluß daran spricht Marcuse vom Kommunismus als einem wesentlichen Bestandteil dieses [abendländischen] Daseins.

* Gemeint ist: nach dem Beginn des Rußlandfeldzuges 1941; das Bündnis zwischen Großbritannien, den USA und der UdSSR wurde 1942 offiziell beschlossen.

Marcuses Antwort aus dem Frühjahr 1948 ist wieder bzw. nun erst recht mit „Lieber Herr Heidegger“ überschrieben. Heidegger hatte in seinem Brief darauf hingewiesen, daß er den Nationalsozialismus zwar durch eine Rektoratsrede [im Mai] 1933 begrüßt und [im November 1933] einen Wahlaufruf für eine Studentenzeitung verfaßt, sich aber bereits 1934 enttäuscht abgewandt und „unter Protest gegenüber Staat u. Partei mein (sc. Heideggers) Rektorat nieder[gelegt]“ hätte. Seit diesem Zeitpunkt sei seinen Schülern klar gewesen, daß er ein Gegner des Regimes war; öffentlich konnte er sich aus Gefahr für Leib und Leben – auch das seiner Familie – nicht entsprechend äußern. Nach Kriegsende aber wie viele ehemals überzeugte Nationalsozialisten einen Gesinnungswandel zu beteuern, sei ihm unmöglich gewesen, da er mit diesen Leuten nichts gemein habe. – Marcuse weist den uneinsichtigen Heidegger in seiner Antwort zurecht: „…der Beginn [1933 enthielt] schon das Ende [des Regimes mit all den Schrecken, die es schließlich verbreitete]…“ „War nicht diese Liqudierung [des abendländischen Daseins durch den Nationalsozialismus sogar] schon…lange vor 1933 offenbar?“

Heidegger geht von der Verweigerung der Reue zum Vorwurf über: Die Millionen getöteter Juden vergleicht er mit den [zwei Millionen toten] Ostdeutschen, [die im Zuge von Flucht und Vertreibung ums Leben gekommen sind. Da die nationalsozialistische Regierung während des Krieges zum Terrorregime entartete, das Massenmord an den europäischen Juden beging, vergleicht Heidegger ihr Verhalten mit dem der Alliierten in bezug auf Ostdeutschland und fügt hinzu:] Dieses vollzieht sich vor den Augen der Weltöffentlichkeit, während der nationalsozialistische Terror geheimgehalten wurde. – Marcuse leugnet die alliierten Verbrechen einfach: Der massenhafte Tod von Ostdeutschen unter alliierter Herrschaft wird zu „vielleicht…einigen Ausnahmefällen“. Im übrigen könnte man [die Verbrechen der Alliierten mit den nationalsozialistischen] nur vergleichen, wenn Lager wie „Auschwitz und Buchenwald mit allem, was darin vorging“ weiter betrieben worden wären. Von den Sowjets im ehemaligen KZ Sachsenhausen weiß Marcuse offenbar nichts und ebensowenig von dem Kriegsgefangenenlager der US-Amerikaner auf den Rheinwiesen: Beide Einrichtungen kosteten viele tausend Deutsche das Leben. Aber Marcuse hätte dies vermutlich damit gerechtfertigt, daß sie bei der Rettung des „abendländischen Daseins“ ums Leben kamen, während die Nationalsozialisten töteten, um das abendländische Dasein zu liquidieren, womit sie Gegenmaßnahmen selbst heraufbeschworen.

Da Heidegger uneinsichtig bleibt, kennzeichnet ihn Marcuse als mutmaßlich unverbesserlichen Nazi, bei dem „die Saat auf fruchtbaren Boden gefallen ist“. – Heidegger hat sich in Marcuses Augen nicht nur als Philosoph disqualifiziert. Ihm droht die Aberkennung seiner menschlichen Natur, die sich durch die Vernunftbegabung, den Logos, auszeichnet: „Stehen Sie (sc. Heidegger) nicht…außerhalb der Dimension, in der überhaupt noch ein Gespräch zwischen Menschen möglich ist – außerhalb des Logos?“

*

Herbert Marcuse war schon über fünfzig Jahre alt, als er zu unterrichten begann. Während seiner Zeit im us-amerikanischen Staatsdienst 1942 bis 1951 hatte er sich intensiv mit dem Werk des 1939 verstorbenen Sigmund Freud auseinandergesetzt. Als Lehrbeauftragter hielt Marcuse nun Vorlesungen an der Washington School of Psychiatry (1950/1951); diese nutzte er als Vorarbeiten zu einem Buch, das einige Jahre später unter dem Titel „Eros and Civilization (1955)“ erschien. – Dann fand Marcuse eine Beschäftigung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Russian Institute der New Yorker Columbia Universität (1952/1953), woraus eine Studie über die Sowjetunion hervorging, „Soviet Marxism (1958, dtsch. Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, 1964)“.

1954 stieg Marcuse zum Professor auf: Er unterrichtete nun Politische Wissenschaften an der privaten Brandeis Universität in Waltham (Massachusetts). Dort entwickelte Marcuse seine Gesellschaftstheorie: An die Stelle der mißlungenen Synthese von Marx bzw. Hegel und Heidegger des Jahres 1932* trat nun die von Marx und Freud; am Ende scheiterte auch sie, denn vom Marxismus blieb bei Marcuse nur wenig übrig, doch dafür erwuchs daraus eine Lehre, welche die Anliegen der Frankfurter Schule in eine neu entstehende politische Bewegung verpflanzte. In den USA war dies die – vor allem von Studenten getragene – Ablehnung des Vietnamkrieges sowie die schwarze Bürgerrechtsbewegung, in der BRD die – wiederum vor allem studentische – Auflehnung der „Achtundsechziger“ gegen das elterliche Establishment als Auschwitz-Tätergeneration, durch die man (vergebens) von der kollektiven Schuld freizukommen suchte; in Westeuropa wandte sich währenddessen die „junge Generation“ im Zuge der Dekolonialisierung von den eigenen Vorfahren ab wegen des an den Kolonialvölkern begangenen Unrechts.

* Danach hatte sich Marcuse noch einmal mit Hegel auseinandergesetzt. 1941 erschien „Reason and Revolution. Hegel and the Rise of Social Theory (1941, dtsch. Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie, 1962)“. Darin blieb er mit seiner Auffassung des Faschismus, der aus einem imperialistischen Monopolkapitalismus entstehe, welcher die Macht ergreife, um die Vertreter des Sozialismus auszuschalten, dem orthodoxen Marxismus-Leninismus Moskauer Provenienz eng verbunden.

Während der zehn Jahre an der Brandeis Universität erschienen Marcuses Hauptwerke „Eros and Civilization. A Philosophical Inquiry into Freud (1955)“ und das seiner zweiten Ehefrau gewidmete „One-Dimensional Man. Sudies in the Ideology of Advanced Industrial Society (1964)“. – 1951 verstarb Marcuses Ehefrau, und 1956 heiratete er die Witwe eines ehemaligen Mitarbeiters des Instituts für Sozialforschung, der wie Marcuse während des 2. Weltkrieges (1939 – 1945) in den us-amerikanischen Auslandsnachrichtendienst OSS* übernommen worden war. Marcuses zweite Ehefrau starb 1972 wie die erste einundzwanzig Jahre zuvor an Krebs; 1976 ging Marcuse die Ehe mit einer vierzig Jahre jüngeren Jüdin aus New York ein, die in seinem Sinne „Unlearning Racism Workshops“ veranstaltete und 1988 ebenfalls an Krebs verstarb.

* OSS, Office of Strategic Services, Bureau für strategische Dienste

Wegen seiner umstürzlerischen Ansichten erhielt Marcuse schließlich keine Vertragsverlängerung mehr an der privaten Brandeis Universität. So wurde er an die staatliche Kalifornische Universität San Diego* berufen. Seit 1965 lehrte Marcuse Professor dort. In demselben Jahr erschien der den Studenten der Brandeis Universität gewidmete Aufsatz „Repressive Tolerance (1965)“, und ebenfalls 1965 erhielt Marcuse eine Honorarprofessur an der Freien Universität West-Berlin. Die deutsche Übersetzung von „Eros and Civilization (1955)“ erschien zeitgleich unter dem Titel „Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud (1965)“. Es folgte zwei Jahre darauf die deutsche Übersetzung von „One-Dimensional Man (1964)“ unter dem Titel „Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1967)“. Nicht nur unter us-amerikanischen Studenten wurde Marcuse populär. Auch in der BRD und Westeuropa hatte er zahlreiche Anhänger, und immer wieder erschienen Interviews mit ihm und Artikel über ihn in der Zeitschrift „Der Spiegel“, vor allem 1967 bis 1969. – Marcuse wurde 1969 emeritiert und starb 1979 während eines Besuches in West-Deutschland am Starnberger See, wo er Habermas besuchte.

* University of California, San Diego

Nach seinem Tod wurden Marcuses sterbliche Überreste verbrannt, die Urne in den USA jedoch nicht beigesetzt. Stattdessen entschlossen sich die Hinterbliebenen 2003 endlich zu einer Bestattung auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte. Dort gibt es zahlreiche Ehrengräber; u.a. haben dort Hegel sowie Fichte ihre letzte Ruhstätte gefunden, aber auch Brecht – und nun Marcuse.

*

Wenn der frühe Horkheimer von Marxismus sprach und hinsichtlich der klassenlosen Gesellschaft an uneingeschränkte Befriedigung der Triebe dachte, so stand ihm Marcuse dabei, wie seine späteren Ausführungen zeigen, gedanklich ganz nahe. Ausführlicher äußerte sich Marcuse zur Triebbefriedigung nach erfolgter Auseinandersetzung mit den Schriften Freuds. Marcuse suchte in „Eros and Civilization“ als Freud-Exeget dessen verschiedene Aussagen über die Triebe des Menschen auf einen einheitlichen Begriff zu bringen und Freuds These eines Gegensatzes von Kultur und unbeschränkter Triebbefriedigung zu revidieren. Daher lautet der Untertitel von „Eros and Civilization“: „A Philosophical Inquiry into Freud“, Eine philosophische Untersuchung von Freud[s Werk].

Marcuse schließt sich an Freuds Darstellung an, wonach es neben der Libido, dem Eros, auch einen Todestrieb gibt, den Thanatos;* zuvor sprach Freud ausschließlich von der Libido oder stellte ihr den Selbsterhaltungstrieb gegenüber. Während der Eros zur Verbindung mit anderen antreibe, separiere der Zerstörungstrieb, er strebe nach Auflösung von Bindungen; dies verschweigt Marcuse wohlweislich, da er auf eine andere Interpretation des Thanatos (sowie des Eros) aus ist. Freud erwähnt nämlich auch, daß der Todestrieb die unnatürlichen Möglichkeiten einer Rückkehr in den anorganischen Zustand abwehre, also einen vorzeitigen Tod; doch schließe er mit seiner Neigung nicht nur zur Destruktion anderer, sondern auch seiner selbst, die Rückkehr zum Anorganischen ein. Dies nimmt Marcuse auf: Der Todestrieb nach Freud ziele auf die Rückkehr zum Anorganischen.

* erstmals in Freuds „Jenseits des Lustprinzips (1920)“

Doch Marcuse geht noch weiter durch die Behauptung, dies gelte auch für den Eros. Beide Triebe stellten nämlich einen Spannungszustand dar und durch ihre Befriedigung kehre ein Zustand ein, der dem Anorganischen gleiche, dem Nirwana bzw. dem Tode. Dies sei der gemeinsame Ursprung der Triebe. – Leben ist nach Marcuse „organische Materie“*. Das Nirwana wird als Negativität [im Sinne anorganischer Materie] charakterisiert. Der Todestrieb bedeutet eine „Negation des Seins“**. Bemerkenswerter Weise spricht Marcuse in Blick auf die Triebe auch vom „Drang, zum Nirwana des Mutterschoßes zurückzukehren“***, woraus ersichtlich wird, daß er sich den vorgeburtlichen Zustand als einen anorganischen bzw. toten vorstellt.****

* Triebstruktur und Gesellschaft, V. Philosophisches Zwischenspiel

** ebd.

*** Triebstruktur und Gesellschaft, III. Der Ursprung der unterdrückenden Kultur (Phylogenese)

**** Nach Marcuse ist das Nirwana jenseits der Erfüllung irdischen Glücks, doch man muß fragen, worin dies bestehen soll, wenn „Dasein…dem Wesen nach Streben nach Lust“, Triebstruktur und Gesellschaft, V. Philosophisches Zwischenspiel) ist und die befriedigte Lust ins Nirwana führt.

Marcuse geht auch auf Freuds triadische Anthropologie* ein, wonach das Es den Bereich des Unbewußten darstellt, dem das Über-Ich als Repräsentant der Außenwelt erst in Gestalt der Eltern, dann des Gewissens gegenübertritt. Das Ich als „,Auswuchs des Es“** bildet den Vermittler, der Triebwünsche verwirft, die zur Selbstzerstörung führen würden. Marcuse merkt dazu an, daß das Es nach zeitlich und räumlich uneingeschränkter Triebbefriedigung verlangt;*** und damit kommt Marcuse zu einer der Hauptthesen seines Buches: Ursprünglich diene der gesamte Körper der Lustbefriedigung, nicht nur das Genitale. „… die Sexualität ist von Natur aus ,polymorph-pervers.“**** Unter den Bedingungen der Kultur aber werden die sexuellen Partialtriebe dem „Primat der Genitalität“ und damit der „Fortpflanzungsfunktion“+ unterworfen. Der „Fortschritt zur Genitalität“ entspreche der „Grundschicht der Verdrängung“++; die Partialtriebe haben danach nur noch Hilfsfunktion und werden darüber hinaus als Perversionen denunziert.

* erstmals in Freuds „Das Ich und das Es (1923)“)

** Triebstruktur und Gesellschaft, II. Der Ursprung des unterdrückten Individuums (Ontogenese)

*** Marcuse geht davon aus, daß die unterdrückten Triebe unter den Bedingungen der Kultur als Unbewußtes weiterleben. Im Gedächtnis seien Erinnerungen an Glücksmomente aus früher Kindheit aufgehoben, welche Wiederholung verlangen. Die Psychoanalyse lege sie frei.

**** Triebstruktur und Gesellschaft, II. Der Ursprung des unterdrückten Individuums (Ontogenese)

+ Triebstruktur und Gesellschaft, II. Der Ursprung des unterdrückten Individuums (Ontogenese)

++ ebd.

Marcuse rekonstruiert die Ereignisse der Frühzeit gemäß Freuds „phylogenetische[r] Hypothese“*, versteht sie aber symbolisch.** – Die Rede von einer Urhorde nach Freud dürfte Marcuse um so leichter gefallen sein, als neben Freud, der sich auf Darwins „primal horde“*** bezieht, auch Engels recht ähnlich dachte, indem er von einer klassenlosen Gesellschaft der Vergangenheit ausging, die er freilich nicht von einem Urvater dominiert wähnte.****

* Triebstruktur und Gesellschaft, III. Der Ursprung der unterdrückenden Kultur (Phylogenese)

** s. dazu vor allem Freuds „Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939)“

*** s. „The Descent of Man (1871)“

**** s. „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats (1884)“, hier: Kap. II Die Familie, wo der Begriff Urhorde nicht verwendet wird, da Engels nicht Darwin folgt, sondern Lewis H.[enry] Morgan (geb. 1818, gest. 1881), so daß Engels von einem promiskuitiven Zusammenleben aller Angehörigen in der gesellschaftlichen Urformation ausgeht.

Nach Freud besaß der Vater der Urhorde das Frauen- und damit das Lustmonopol. – Dabei versäumt es Marcuse anzumerken, daß seiner Ansicht nach schon der Urvater in seiner Beschränkung auf genitale Sexualität die Triebe zu unterdrücken hatte, also darauf verzichten mußte, z.B. Lust zu gewinnen im Spiel mit seinen Köteln.* Währenddessen hatten seine Söhne alle Arbeit zu verrichten.

* Marcuse erwähnt, indem er Freud zitiert, ausdrücklich „die koprophilen Triebanteile“, Triebstruktur und Gesellschaft, II. Der Ursprung des unterdrückten Individuums (Ontogenese). Als nicht-genitale Formen der Sexualität nennt Marcuse an anderer Stelle „die Koprophilie und die Homosexualität… [sowie den] Sadismus“, Triebstruktur und Gesellschaft, X. Die Verwandlung der Sexualität in den Eros.

Nach erfolgreicher Rebellion verzehrten die Söhne gemeinsam den Urvater. Dann entstand ein lang anhaltender Streit um das Erbe in der Bruderhorde: Man beschloß schließlich gemeinsam die Beschränkung der Triebbefriedigung, wobei jeder Sohn zum Vater wurde innerhalb seiner kleinen Familie. So ließ sich die ursprüngliche väterliche Ordnung aufrechterhalten. Der Urvater aber wurde vergöttlicht.

„In der Ödipussituation wiederholt sich die Ursituation unter Umständen, die von Anfang an den dauernden Sieg des Vaters sicherstellen. Aber sie sichern auch das Leben des Sohnes und seine künftige Fähigkeit, den Platz des Vaters einzunehmen.“* Der Sohn wird zum Vater werden: Dabei handelt es sich um einen tw. Triebverzicht und tw. Befriedigung unter den Bedingungen von Monogamie und Privateigentum. Der Ödipuskomplex erfolgt aus der „erfolglose[n] oder unvollständige[n] Auflehnung gegen ihn (sc. den Vater).“**

* Triebstruktur und Gesellschaft, III. Der Ursprung der unterdrückenden Kultur (Phylogenese)

** ebd.

Die Aggression gegenüber dem Urvater führte nach Freud zum Mord an ihm, die Liebe zu ihm zur Reue und damit zum Schuldgefühl. Danach erwachte Aggression immer aufs Neue, doch das Schuldgefühl verhinderte die Wiederholung des Vatermordes.* Das bleibende Schuldgefühl und damit die Hemmung des Todestriebes begründete die Kultur, d.h. hier: Moral und Recht.

* s. Freuds „Das Unbehagen in der Kultur (1930)“

Bei Freud stehen Kultur [bzw. Ratio] und Triebe in einem Gegensatz zueinander. „Sigmund Freuds These, daß Kultur und Zivilisation auf der permanenten Unterjochung der menschlichen Triebe beruhen“*, will Marcuse korrigieren. Nach Freud nämlich ist die Kultur und damit der Triebverzicht durch die Lebensnot, [griechisch] ananke, bedingt. Dieser Lebensnot liegt Mangel in ökonomischem Sinne zu Grunde. Nach Freud stehen natürlicher Weise nicht genügend materielle Güter zur Verfügung, so daß Triebenergien sublimiert und auf die Arbeit umgelenkt werden müssen; Freud hält diese Notwendigkeit für überzeitlich. Marcuse hingegen meint, inzwischen seien die Produktivkräfte so hoch entwickelt, daß die materiellen Bedürfnisse mit immer geringerem Arbeitsaufwand zu befriedigen seien; im Zentrum der Kultur sieht Marcuse die Technik.

* Triebstruktur und Gesellschaft, Einleitung

Freud spricht vom Realitätsprinzip, das an die Stelle des Lustprinzips tritt. Marcuse differenziert, indem er das Realitätsprinzip im allgemeinen von dem Realitätsprinzip unter den Bedingungen der [Klassengesellschaft] im besonderen als dem Leistungsprinzip unterscheidet. Außerdem kämen zu dem ohnehin nötigen Maß an Triebverzicht eine zusätzliche Unterdrückung in Form der Herrschaft des Menschen über den Menschen: Nach Marcuse findet die gesellschaftliche Teilung innerhalb der Urhorde, die dem Vater Triebbefriedigung gewährte und den Söhnen die Arbeit für den Lebensunterhalt auferlegte, ihre Fortsetzung in der sozialen Hierarchie [der Klassengesellschaft].

Die Kultur fordert traditionell in hohem Maße eine Sublimierung des Eros für die notwendige Arbeit. Dadurch werden gleichzeitig vorhandene Aggressionen zwar einerseits nicht mehr ausreichend an den Eros gebunden und dadurch neutralisiert, doch andererseits vermag Arbeit den Überschuß aggressiver Triebenergie umzusetzen: In der Technik als Beherrschung der Natur sind die aggressiven Impulse deutlich erkennbar. „…die aggressive…Naturbeherrschung [zielt] letzten Endes auf die Beherrschung des Menschen durch den Menschen.“* Auch Marcuse spricht von einer „Dialektik der Aufklärung“**, da die Wissenschaft Zerstörung statt der erhofften Freiheit gebracht habe.

* Triebstruktur und Gesellschaft, V. Philosophisches Zwischenspiel

** Triebstruktur und Gesellschaft, III. Der Ursprung der unterdrückenden Kultur (Phylogenese)

Die zunehmende Beherrschung der Natur läßt die ursprüngliche Not immer weiter abnehmen. Die aufzuwendende Arbeit wird geringer, mehr Triebenergie kann freigesetzt werden. Daher habe die sexuelle Freizügigkeit zugenommen. – Andererseits wird die Herrschaft totaler. Der Staat setzt sich zunehmend an die Stelle der Familie. Der einzelne wird immer vollständiger erfaßt, während es ihm materiell besser geht als den Früheren. Aggressionen werden auf Non-Konformisten gelenkt.

Um dem zu entgehen, ist eine unterdrückungslose Kultur anzustreben, in der die Triebe sich frei entfalten, wobei der Eros den Todestrieb neutralisiert, [so daß die Motivierung zur Knechtung der Natur entfällt und danach diejenige des Menschen durch den Menschen].* – Frei gewählte Arbeit befriedigt, aufgezwungene, d.h. entfremdete, kaum. Ohne die zusätzliche Unterdrückung des Menschen durch den Menschen und angesichts der hoch entwickelten Produktivkräfte ist eine mühelose Befriedigung matereller Bedürfnisse möglich.

* Warum geschieht dies nicht schon jetzt, da doch, wie zuvor festgestellt, bereits mehr Triebenergie freigesetzt werden kann, so daß die sexuelle Freizügigkeit zugenommen hat? – Auf diese Frage geht „One-Dimensional Man“ ein, das im Folgenden betrachtet werden wird.

Wenn die Herrschaft des Menschen über den Menschen entfällt, dann dient das Leben des Menschen, [d.h. sein Körper,] nicht mehr als „Arbeitsinstrument“ und es kommt zur Entstehung eines „nicht repressiven Realitätsprinzips“*, das an die Stelle des Leistungsprinzips tritt. Es kommt nach der Überwindung des Mangels zu einer „Umwandlung von Arbeit in Spiel“**. Von der entfremdeten Arbeit geht die Gesellschaft über zum „freien Spiel(s) menschlicher Fähigkeiten“***. Der Körper, der nicht mehr als Arbeitsinstrument dient, wird „resexualisiert“, so daß es zum „Wiederaufleben der prägenitalen polymorphen Sexualität“**** kommt. Der gesamte Körper wird „Substrat der Sexualität“+.

* Triebstruktur und Gesellschaft, VII. Phantasie und Utopie

** ebd.

*** ebd.

**** Triebstruktur und Gesellschaft, X. Die Verwandlung der Sexualität in den Eros

+ ebd.

Der Todestrieb verliert seine Destruktivität, denn er braucht sich nicht mehr gegen „Leiden und Unterdrückung“* aufzulehnen. – Zu fragen bliebe, worin denn dann der Todestrieb noch seinen Ausdruck findet: Offenbar nur noch darin, daß er dem Eros übergeordnet diesem die Richtung weist, denn von Natur aus ist der Eros dem Todestrieb untertan und strebt wie dieser zum Nirwana. Erst die lustfeindliche Kultur bringt den Eros in einen Gegensatz zum Todestrieb. Unter solchen Bedingungen geht es umgekehrt zu. Der an die höchste Stelle gesetzte genital beschränkte Eros zielt nun auf Selbsterhaltung durch Fortpflanzung, und der sich gegen Leiden und Unterdrückung wehrende Todestrieb wird dem Eros unterworfen, um „aggressive Impulse [zu] liefern [als] die Energie für die…Beherrschung…der Natur…“** Mit dem Ende der Herrschaft des Menschen über den Menschen wird sich das natürliche Verhältnis der Triebe wiederherstellen. Der Eros wird dem Thanatos wieder untergeordnet sein. Dann streben die Triebe des Menschen gemeinsam das Nirwana, den Tod, an.

* Triebstruktur und Gesellschaft, II. Der Ursprung des unterdrückten Individuums (Ontogenese)

** ebd.

Am Ende seines Buches scheint Marcuse vor den Konsequenzen der eigenen Utopie zurückzuscheuen, denn er räumt ein, daß hemmungsloses Ausleben der Triebe „individuelle Konflikte im Streben nach Befriedigung“* zwischen den einzelnen Menschen auslösen würde, wenn nicht – wunderbarere Weise – der Trieb sich selbst beschränkte.** – Plötzlich steht alles Kopf, und das Über-Ich wirkt im Dienste des Es. Diese völlig unerwartete Kehre im bisherigen Gedankengang wird lediglich mit Hinweis auf gelegentliche Äußerungen Freuds begründet.

* Triebstruktur und Gesellschaft, XI. Eros und Thanatos

** Später leugnete Marcuse solche individuellen Konflikte nicht mehr, sondern verwies darauf, daß sie in einer befriedeten Gesellschaft gewaltfrei gelöst würden.

In der Kritik an Marcuses „Eros and Civilization“ ist hervorzuheben, daß vor allem der Hunger als weiterer Grundtrieb ihm widerspricht: Während Eros und Thanatos den Menschen natürlicher Weise zum Nirwana als dem Anorganischen ziehen, ruft der Hunger zum Essen auf und damit zum Leben. Ein Wesen aber, das von Natur so beschaffen wäre, daß seine Grundtriebe es ständig zwischen dem Wunsch zu leben und zu sterben hin- und herrissen, dürfte zu kaum mehr in der Lage sein, als orientierungslos durch die Welt zu taumeln.

*

1938 verteidigte Marcuse den Hedonismus in seinem Aufsatz „Zur Kritik des Hedonismus“, der in der Zeitschrift für Sozialforschung erschien.* Allerdings hätten frühere Hedonisten nur das Glück des einzelnen gefordert, während sie die geschichtliche und gesellschaftliche Dimension, in welcher der einzelne lebt, unbeachtet ließen. Nach Marcuse gehört zur Voraussetzung des Glücks des einzelnen die Freiheit aller. Bis dies verwirklicht sei, gebe es nur einzelne subjektive Glücksmomente, die freilich auch falschen, der Vernunft widersprechenden Bedürfnissen entspringen können.

* ZfS Nr. VII, 1 (1938)

Mit den gesellschaftlichen Bedingungen einer Verwirklichung der freien Triebbefriedigung befaßte sich Marcuse ausführlich in dem Buch „One-Dimensional Man“. Darin bezog er sich des Öfteren ausdrücklich auf Adorno; Marcuse suchte Anschluß an die Kritische Theorie und deren Ablehnung alles Bestehenden. Auch in der Form knüpfte Marcuse an Adorno an: Obwohl seine Sprache viel schlichter ist, bemühte sich auch Marcuse nun um zumindest ein gewisses Maß an Unverständlichkeit.

Marcuse geht in „One-Dimensional Man“ davon aus, daß sich die technologische Rationalität* als ein falsches Denken auf die Beherrschung der Natur richtet und damit auch auf diejenige des Menschen, seine Triebe. Mittels Wissenschaft und Technik wird die Herrschaft über die Natur verwirklicht, aber sie erstreckt sich auch über den Menschen. Sie erfaßt sämtliche Angehörige der fortgeschrittenen Industriegesellschaft als einer technischen, d.h. von der Technik geprägten, Gesellschaft. – Dieser Ausgangsgedanke knüpft an Aussagen der „Dialektik der Aufklärung (1947)“ an.

* engl. technological rationality

Die fortgeschrittene Industriegesellschaft ging nach Marcuse aus der vortechnischen Gesellschaft hervor. Für die Zukunft erwartet er eine vom falschem Denken befreite nachtechnologische Gesellschaft. Diese kann nur dadurch entstehen, daß die gegenwärtig bestehenden Verhältnise nicht bloß reformiert, sondern von Grund auf verändert werden.

Zu der Zeit der Entstehung des Buches, also zu Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts, bestand nach Marcuse eine „Allianz von Geschäftswelt und organisierter Arbeiterschaft“*, so daß innerhalb der Gesellschaft keine Opposition vorhanden ist; Marcuse spricht daher von Totalitarismus. – Die Emanzipation des vierten Standes innerhalb des Systems stellte für Marcuse ein grundsätzliches Problem dar, weil dadurch seinem Wunsch nach Umsturz das revolutionäre Subjekt verloren gegangen war.

* Der eindimensionale Mensch, 2. Die Abriegelung des Politischen

Marcuse verweist darauf, daß der Marxismus als Kritische Theorie des 19. Jahrhunderts kein Ansporn zur Veränderung mehr ist, denn „das ,Volk‘, früher das Ferment gesellschaftlicher Veränderung, ist ,aufgestiegen‘, um zum Ferment gesellschaftlichen Zusammenhalts zu werden“*, d.h. der vierte Stand hat bis zum Beginn der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts seine Stellung innerhalb des Systems erheblich verbessern können. Aber anstatt dies zu würdigen, kritisiert Marcuse, daß die Arbeiterschaft kein Interesse mehr an einem Umsturz hat, denn er setzt voraus, daß alles Bestehende abgelehnt werden muß; damit zeigt sich Marcuse als Vertreter der Kritischen Theorie. Er geht allerdings zugleich davon aus, daß in der Negation immer etwas Positives steckt, daß also das Negieren am Ende etwas Positives hervorbringt, wie Marcuse an anderer Stelle sagt;** das hätte Adorno vehement bestritten. Außerdem müßte Marcuses Positive doch der Negation verfallen, sobald es sich an die Stelle des von ihm Negierten gesetzt hat.

* Der eindimensionale Mensch, 10. Beschluß

** s. „Das Ende der Utopie (1967)“

In vortechnologischer Zeit mußte sich, so Marcuse, die Mehrheit der Menschen ganz der Arbeit widmen, um die lebensnotwendigen Güter zu produzieren. Eine Minderheit blieb von Arbeit verschont. Sie nahm die Freiheit des Denkens und der Rede für sich in Anspruch, und ihre Philosophie beschränkte sich nicht auf die empirische Realität. Marcuse führt Platon und Aristoteles an, doch hat deren wahres Sein jenseits der phainomena nichts mit Marcuses Triebreich zu tun, sondern „negiert“ es.

Nach Marcuse war die Minderheit in vortechnischer Zeit auch in der Lage, Kunstwerke zu schaffen, die zwar einerseits unter den Bedingungen des Bestehenden entstanden, aber andererseits inhaltlich darüber hinausgingen. – Marcuse führt das Folgende nicht aus, setzt es aber voraus: Diese Kunstwerke phantasierten nach seiner Auffassung einerseits so hohe Produktivität herbei, daß kein Mensch mehr zu arbeiten hätte, ersehnten also das Schlaraffenland. Andererseits müßten sie Marcuses Utopie eines unbegrenzten Auslebens polymorpher Perversion zum Gegenstand gehabt haben.

In vortechnologischer Zeit existierten Wunschbilder, die sich im Widerspruch zu den bestehenden Verhältnissen befanden. Sie waren durch die von Arbeit freie Minderheit hervorgebracht worden. Der Gedanke liegt nahe, daß Marcuse vermutet, heute könne solches nicht mehr gelingen, weil alle, die der Gesellschaft als Unternehmer oder Arbeiter angehören, arbeiten; indem er dies unausgesprochen läßt, entzieht sich Marcuse der (marxistischen) Kritik, nach der die Unternehmer keine Arbeit leisten. – Die in Philosophie und Kunst zum Ausdruck gebrachten Wunschbilder entsprechen einer zweidimensionalen Kultur, die einerseits das Bestehende widerspiegelt und andererseits darüber hinausgeht. All das ist mittlerweile destruiert worden. Es herrscht eine eindimensionale Kultur, die sich auf das Bestehende beschränkt und nicht in Opposition dazu tritt, also rein affirmativ ist.

Die Entsublimierung* hat oppositionelle und transzendierende Elemente der Kunst beseitigt, indem sie frühere Wunschvorstellungen in bezug auf die Produktivkräfte mit Hilfe der Technik verwirklicht hat; sie sind entsublimiert worden, was zu einer besseren Versorgung mit materiellen Gütern und zu einer Verringerung der Arbeitszeit geführt hat. Doch ist dies unter repressiven Bedingungen geschehen, also angesichts der immer noch währenden Unterdrückung [der Natur] des Menschen. Sogar das, was ihm größere Befriedigung schaffen sollte, die vermehrte sexuelle Freiheit, trägt nur dazu bei ihm, ihm sein Leben mit falschem Bewußtsein angenehm erscheinen zu lassen. Die früheren Wunschvorstellungen aber, die in der Kunst ihren Ausdruck gefunden hatten, sind nun gegenstandslos geworden sind; ihre Entsublimierung trägt zur Repression, zur Unterdrückung bei: Daher spricht Marcuse von repressiver Entsublimierung.

* engl. desublimation

In diesem Zusammenhang ist auf Marcuses Verkehrung des Toleranzbegriffes in „Repressive Tolerance (1965, dtsch. Repressive Toleranz, 1965)“ zu verweisen. Da die Toleranz im üblichen Sinne das Bestehende nicht total negiert, trägt sie zur Repression bei und ist deshalb in Wahrheit eine repressive Toleranz. Marcuse fordert daher Toleranz, die die Repression nicht hinnimmt; was er befreiende Toleranz nennt ist eigentlich eine falsch etikettierte In-Toleranz, und dies gibt Marcuse auch ausdrücklich zu: „Befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links.“ Die Rechtfertigung: „…hätte man [vor 1933] die demokratische Toleranz aufgehoben, … , so hätte die Menschheit die Chance gehabt, Auschwitz und einen Weltkrieg zu vermeiden.“* – Die Bezugnahme auf „Auschwitz“ (in Repressive Toleranz wie in Der eindimensionale Mensch, 10. Beschluß) verweist wiederum auf Adorno.

* Repressive Toleranz

Die technologische Rationalität hat die fortgeschrittene Industriegesellschaft hervorgebracht. Als „Ideologie [verkörpert sie] sich nunmehr im Produktionsprozeß selbst“*, und dieser ist durch die Technik bestimmt: „Wird die Technik (jedoch) zur umfassenden Form der materiellen Produktion, so umschreibt sie eine ganze Kultur…“** – Irgendwann jedoch wird die auf Unterwerfung der Natur abzielende technologische Rationalität ihre Möglichkeiten ausgeschöpft und damit ihre vollendete Gestalt erreicht haben. Wenn dann aber „Befriedung“ an Stelle des Vorherigen zum Zweck der Technik wird, ändert sich deren Verhältnis zur Natur. Es verwirklicht sich eine befreiende Herrschaft über die Natur, und damit ändert sich das Verhältnis der Menschen zur eigenen Natur und zueinander. Dann erfolgt der Umschwung zur nachtechnologischen Gesellschaft. Diese behielte die technologische Grundlage, aber die technologische Rationalität würde „von ihren [bisherigen] ausbeuterischen Zügen befreit“***. Dies wird eine Entsublimierung ermöglichen, die umfassende Triebfreiheit gewährt, welche nicht im Dienste der Repression steht.

* Der eindimensionale Mensch, 7. Der Triumph des positiven Denkens: eindimensionale Philosophie

** Der eindimensionale Mensch, 6. Vom negativen zum positiven Denken: technologische Rationalität und die Logik der Herrschaft

*** Der eindimensionale Mensch, 9. Die Katastrophe der Befreiung

Wer aber soll der Träger des Umsturzes sein, wenn die Zeit reif ist, zur nachtechnischen Gesellschaft überzugehen? – Weil sich das Proletariat nicht agitieren läßt, richtet sich Marcuses Blick auf das von Marx Lumpenproletariat genannte Element der Bevölkerung sowie auf noch in vortechnischer Zeit lebende Völkerschaften; auf letztere setzte Marcuse 1964 noch keine allzu großen Hoffnungen,* doch dies änderte sich im weiteren Verlauf der sechziger Jahre. In „One-Dimensional Man“ heißt es, wenn in vortechnischer Zeit lebende Völkerschaften binnen kürzester Zeit in eine fortgeschrittene Industriegesellschaft hinübergeführt werden sollen, fehlt ihnen die Gelegenheit, sich allmählich darauf einzustellen, so daß sie die Möglichkeit haben könnten, im Widerstand dagegen eine nachtechnologische Gesellschaft hervorzubringen. – Das Beispiel des – auch wegen seiner Gebietsverluste im 1. Weltkrieg (1914 – 1918) – weitgehend deindustrialisierten Rußlands unter bolschewistischer Herrschaft (1917 – 1991) spricht allerdings dagegen. Marcuse selbst räumt ein, daß der Ostblock zu Begin der sechziger Jahre keine Alternative zur fortgeschrittenen Industriegesellschaft darstellt, obwohl die UdSSR zu dem Zweck gegründet wurde, das Nachfolgemodell der fortgeschrittenen Industriegesellschaft zu bilden. So seien auch die kommunistischen Parteien im Westen zur Opposition innerhalb der herrschenden Verhältnisse geworden.

* s. 2. Die Abriegelung des Politischen

Die [arbeitenden] Angehörigen der fortgeschrittenen Industriegesellschaft sind alle von demselben falschen Denken durchdrungen. Von ihnen wird die revolutionäre Veränderung nicht ihren Ausgang nehmen. Deshalb rücken die „Geächteten und Außenseiter“ ins Blickfeld, außerdem „die Ausgebeuteten* und Verfolgten anderer Rassen und anderer Farben [im Inland], die Arbeitslosen und Arbeitsunfähigen.“** Ihnen fehlt nur noch das revolutionäre Bewußtsein. Ihre Erhebung kann der Anfang vom Ende der herrschenden Verhältnisse sein. Sie sind wie Barbaren, die das Imperium [nicht von außen, sondern von innen her] bedrohen. Diesen [innerhalb des Systems] Hoffnungslosen ist die „Große Weigerung“ zuzutrauen, eine „absolute(n) Weigerung“***, welche die Negation des Totalitarismus darstellt und dessen Ende fordert.

* Den Begriff der Ausbeutung verwendet Marcuse nicht in marxistischem Sinne, da er ihn sonst auf die Arbeiterschaft anwenden müßte, was er ja gerade vermeidet.

** Der eindimensionale Mensch, 10. Beschluß

*** ebd.

Statt auf das Allgemeine setzt Marcuse seine Hoffnung – an Adorno anknüpfend – auf das Besondere. Er gesteht „unterdrückte[n] und überwältigte[n] Minderheiten“ ein „,Widerstandsrecht‘…[zu], das bis zum Umsturz geht.“* Marcuse meint sogar, in dieser Sache auf das Naturrecht verweisen zu können. – Am Ende des Aufsatzes „Repressive Tolerance“ wird die Gewaltanwendung legitimiert, weil sie sich gegen die Kette der Gewalttaten des Unterdrücker-Staates richte, um sie für immer zu beenden. So sagte Marcuse im Sommer 1967 seinen Hörern im Saal der Evangelischen Studentengemeinde der Freien Universität West-Berlin: „Wir müssen eine Gesellschaft schaffen, die ihre Konflikte ohne Gewalt löst, die frei ist von jeglicher Triebunterdrückung und in der die totale Negation der judäochristlichen [Arbeits-]Moral vollendet ist.“ Tags darauf, am 11. Juli 1967, fügte er im Auditorium maximum hinzu, ohne die „Dritte Welt“, d.h. die ehemaligen Kolonialvölker, gebe es keine Revolution. Damals stieß dies auf wenig Verständnis, denn die „Dritte Welt“ schien weit entfernt: Was aber bleibt zu tun, wenn das revolutionäre Potential, die sozialen Randgruppen zusammen mit der revolutionären Intelligenz der Studentenschaft, nicht ausreichen zur Schaffung der nachtechnischen Gesellschaft?

* Repressive Toleranz

 

 

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