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Nach der Frankfurter Schule 1a: Habermas (1. Teil)

von virOblationis

Ernst Habermas wuchs in Gummersbach bei Köln auf, wo sein Vater, ein ehemaliger protestantischer Geistlicher, das örtliche Lehrerseminar leitete, eine Ausbildungsstätte für Volksschullehrer im preußischen Staate. Es handelte sich bei Friedrich Habermas, dem Vater von Ernst Habermas, um einen früheren Pfarrer der Evangelischen Kirche der Union, die 1817 auf Veranlassung des preußischen Königs aus Lutheranern und Reformierten gebildet worden war. Friedrich Habermas war 1889 auf Grund eines Streites um den rechten Platz für einen Kirchenneubau mit einem Teil seiner Gemeinde aus der Landeskirche ausgetreten. Die neu konstituierte Freie Evangelische Gemeinde von Oberrahmede bei Lüdenscheid kehrte jedoch aus Geldnot 1894 in die Landeskirche zurück; noch in Oberrahmede wurde Friedrich Habermas Sohn Ernst 1891 geboren.*

* Ernst Habermas; geb. 1891, gest. 1972

Da Jürgen Habermas, der Enkel, sich später zwar wiederholt mit Calvinisten (und Wiedertäufern) als Protestanten befaßte, aber – so weit ich sehe – nicht mit Lutheranern, könnte dies ein Hinweis darauf sein, daß sein Großvater Friedrich Habermas dem reformierten bzw. calvinistischen Zweig der Kirche der Union angehörte oder deren geistiger Haltung zumindest nahestand. Tatsächlich existierte von 1636 bis 1809 eine Evangelisch-Reformierte Gemeinde zu Mettmann, wo Friedrich Habermas das Lehrerseminar einige Jahre lang leitete, und zwar nach derselben Tätigkeit zu Hilchenbach, das seit 1581 calvinistisch war ; Gummersbach allerdings hatte etwa 1570 das lutherische Bekenntnis angenommen. Dazu sei noch angemerkt, daß Friedrich Habermas als Sohn eines Lehrers und Organisten im thüringischen Neuenhof zur Welt gekommen ist, daß aber die heutige Verteilung des Namens Habermas in Deutschland darauf hinweisen könnte, daß die Familie ursprünglich aus der Kurpfalz stammte, einem der Schwerpunkte des Calvinismus in Deutschland.

Als preußischer Seminardirektor nach 1894 veröffentlichte Friedrich Habermas noch ein Buch zur „Religion (1901)“ und ab 1898 auch mehrere zum Thema Kurzschrift, z.B. „Die Bedeutung und gegenwärtige Stellung der Stenographie sowie deren anzustrebende Förderung durch Einführung ins Lehrerseminar und in den Lehrerberuf (1898)“. Friedrich Habermas leitete zwischen 1894 und 1899 das Lehrerseminar zu Hilchenbach, dann bis 1904 das Evangelische Lehrerseminar Mettmann* und anschließend dasjenige zu Gummersbach. 1911 verstarb der 1860 geborene Friedrich Habermas dort. – Sparsam, streng, streitbar und stur: Diese Eigenschaften charakterisierten sein Regiment im Hause und im Seminar.

* Das Gebäude dient heute als Rathaus.

Ernst Habermas wuchs als ältestes von sieben Geschwistern auf. Er diente während des 1. Weltkrieges (1914 – 1918) als Freiwilliger. Danach unterrichtete er an der Gummersbacher Oberrealschule. Im Inflationsjahr 1923 heiratete Ernst Habermas die aus Düsseldorf stammende Tochter des Besitzers einer kleinen Brauerei mit angeschlossener Gastwirtschaft. Ernst Habermas, der bis dahin an der örtlichen Oberrealschule für Jungen unterrichtet hatte, schied aus dem Schuldienst aus und promovierte im Fach wirtschaftliche Staatswissenschaften. Er wurde Geschäftsführer der Gummersbacher Zweigstelle der Remscheider Bergischen Industrie- und Handelskammer. In Düsseldorf kamen seine drei Kinder zur Welt, zwei Söhne und eine Tochter, da die Mutter ihre Kinder nur in ihrer Heimatstadt zur Welt bringen wollte. So wurde 1929 dort auch der zweite Sohn Jürgen geboren. – Während weite Teile Deutschlands unter der Weltwirtschaftskrise litten, blieb die Familie, in der Jürgen Habermas zusammen mit einem älteren Bruder und einer jüngeren Schwester aufwuchs, von jener Not weitgehend verschont.

Jürgen Habermas besuchte die Gummersbacher Oberrealschule und diente im Kriege* ab 1943 im Jungvolk als Sanitäter, wo er zum Stammfeldscher aufstieg, der andere Jungen in Erster Hilfe unterwies; ein Vorbild mag ihm die Mutter gewesen sein, die während des 1. Weltkrieges als Krankenschwester im Lazarett tätig gewesen war. Jedenfalls gehörte Jürgen Habermas weiterhin dem Jungvolk an; er brauchte nicht mit vierzehn Jahren in die eigentliche Hitler-Jugend zu wechseln und blieb dadurch von etwaigen Kampfeinsätzen verschont. Zwar sollte er im Februar 1945 wie zuvor sein älterer Bruder zur Wehrmacht eingezogen werden, während sich der Vater wieder als Freiwilliger gemeldet hatte, doch Jürgen Habermas verbarg sich so lange vor den Feldjägern, bis die US-Amerikaner die Gegend besetzten. – 1949 legte er das Abitur an der vier Jahre zuvor in ein Gymnasium umgewandelten Gummersbacher Oberrealschule ab und begann, in Göttingen Philosophie zu studieren. Nach einem Semester in Zürich wechselte Jürgen Habermas nach Bonn, um dort zu promovieren.

* Gemeint ist der 2. Weltkrieg (1939 – 1945).

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Noch bevor Habermas sein Studium der Philosophie mit einer Dissertation abschloß, verfaßte er einige Artikel für die FAZ, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, so im Sommer 1953 eine Auseinandersetzung mit Heidegger*, von dessen Philosophie Habermas nachhaltig geprägt worden war. Der Artikel „Mit Heidegger gegen Heidegger denken. Zur Veröffentlichung von Vorlesungen aus dem Jahr 1935 [betreffend die Einführung in die Metaphysik]“** erregte einiges Aufsehen und machte Adorno erstmals auf den jungen Habermas aufmerksam; dessen Kritik an Heidegger mochte ihm zugesagt haben, auch der Anlaß, den sie hatte.

* Martin Heidegger; geb. 1889, gest. 1976

** FAZ Nr. 170 vom 25. Juli 1953

In der Vorlesung aus dem Sommersemester 1935 ist an einer Stelle von der „inneren Wahrheit und Größe dieser (sc. der nationalsozialistischen) Bewegung“ die Rede. Dabei wird der Kontext nicht beachtet, wenn nicht bemerkt wird, daß Heidegger diese Worte gerade dazu benutzt, um Kritik am real existierenden Nationalsozialismus bzw. dessen Philosophie mit ihren „Fischzüge[n] in (diesen) trüben Gewässern der ,Werte und der ,Ganzheiten“ zu ummanteln und sie dadurch in der damaligen Situation überhaupt möglich zu machen. Freilich gibt es vereinzelte Hinweise darauf, daß Heidegger bei der „inneren Wahrheit und Größe“ an ein persönliches Idealbild des Faschismus als Zusammenkunft „der planetarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen Menschen“* gedacht haben mag, dem er trotz der ihm widersprechenden Wirklichkeit bis 1945 verbunden blieb. Insofern wäre die hernach immer wieder beanstandete Formulierung als Bezeugung einer überholten Position zu verstehen, die unter bestimmten geschichtlichen Umständen gebraucht worden war. Doch dadurch, daß sie 1953 unkommentiert übernommen wurde, war für Habermas eine rote Linie überschritten: Ihm schien, Heidegger, dem er durch seine philosophische Ausbildung doch nahestand, sei ein Nationalsozialist gewesen und wolle sich dem nun wieder annähern. Um dies festzustellen, bedurfte es in Habermas‘ Augen nicht mehr, als der einen Bemerkung von der „inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung“.

* Möglicherweise tauchten die negativen Aspekte in Heideggers Verständnis von Technik erst nach 1945 auf, so daß es seitdem ambivalent erscheint. Oder hatte er vom idealen Faschismus erwartet, was er 1949 im vierten seiner Bremer Vorträge, der „Kehre“, in eine mögliche Zukunft verlegte?

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Habermas merkte gelegentlich an, in seiner Biographie seien Kriegsende und Pubertät zeitlich zusammengefallen. Auch wenn er dies nicht weiter ausführte, scheint klar zu sein, was er damit meinte: Die Zeit vermehrter geistiger Eigenständigkeit, die eine Wendung gegen die mit der vergangenen Kindheit verbundenen Eltern einschließt, fiel bei Habermas zusammen mit der Aufrichtung der Herrschaft der westalliierten Besatzungsmächte. Während sein Vater, Parteigenosse seit 1933, nach der Entlassung aus us-amerikanischer Kriegsgefangenschaft 1946 bei der Entnazifizierung als „Mitläufer“ eingestuft wurde, wandte sich der heranwachsende Habermas von seiner Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland ab und sah sich dabei den Besatzern wie mächtigen Freunden persönlich verbunden. Am Rundfunkgerät verfolgte er die Nürnberger Prozesse, und im Kino wurde ihm angesichts von alliierten Dokumentarfilmen, die nach der Befreiung der Konzentrationslager gedreht worden waren, nachträglich klar, daß er unter einem verbrecherischen Regime aufgewachsen war.

„Dann habe ich gesehen, daß Heidegger, in dessen Philosophie ich gelebt habe, 1935 diese Vorlesung gehalten hat und sie ohne ein Wort der Erklärung – das war das, was mich eigentlich erschüttert hat – veröffentlichte.“ So äußerte sich Habermas 1979 in einem Interview zu seinem Artikel von 1953. – Habermas hat später stets rücksichtslos alles bekämpft, was er für nationalsozialistisch hielt, zudem dasjenige, was 1933 bis 1945 nur irgendwie damit in Zusammenhang gestanden hatte, ins Besondere den Konservatismus. Habermas betrachtet zumindest den deutschen Konservatismus als zutiefst mit dem NS-Regime verquicktes Phänomen, was er in seinem Briefwechsel mit dem Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer*, einem SPD-Mitglied, am 19. September 1977 folgendermaßen zum Ausdruck brachte: Der – nach Habermas lediglich individuelle und von linker Theorie gar nicht inspirierte – Terror der RAF** werde benutzt, um „den Konservatismus vom Makel seiner Verfilzung mit dem bürokratischen Terror [des NS-Regimes] reinzuwaschen“. Zugleich versuche die politische Reaktion, die „radikale Aufklärung durch eine denunziatorische Verbindung mit dem individuellen Terror der RAF in eben die moralische Diskreditierung hineinzupeitschen.“ Nicht einmal angesichts der damals aktuellen Morde des „deutschen Herbstes“ schwächte Habermas seine haßerfüllte Sprache gegenüber allem Rechten ab. Dies fand gewissermaßen seine Fortsetzung und einen deprimierenden Höhepunkt im sog. Historikerstreit von 1986 bis 1987.

* geb. 1928, gest. 2005

**Rote Armee Fraktion – Nach Habermas ist solcher Terror der gwöhnlichen Kriminalität von „Randgruppen“ zuzurechnen, Theorie des kommunikativen Handelns IV. Von Lukács zu Adorno: Rationalisierung als Verdinglichung 2. Die Kritik der instrumentellen vernunft (1) Theorie des Faschismus und der Massenkultur.

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In einem Artikel für die FAZ, der am 6. Juni 1986 erschien, griff der Historiker Ernst Nolte* auf Gedanken zurück, die er bereits in einem Vortrag sechs Jahre zuvor geäußert und in der FAZ zu jener Zeit einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt hatte;** der „Spiegel“ bezog sich damals darauf, ohne irgendwie Anstoß zu nehmen.*** Es ging darin um den bolschewistischen Terror, der auf die Vernichtung der Opposition zielte, und dem nationalsozialistischen zeitlich vorausging. Nolte fragte daraufhin: „War nicht der ,Klassenmord‘ der Bolschewiki das logische und faktische Prius des ,Rassenmords‘ der Nationalsozialisten?“ Zwar beteuerte er gleichzeitig die Einzigartigkeit des braunen Terrors, der „nach Motivation und Ausführung ohne Beispiel“ gewesen sei, doch suchte er ihn eben gleichzeitig in das Kontinuum der Geschichte einzuordnen, den Nationalsozialismus also zu historisieren. Dies hätte die heftigste Reaktion des inzwischen verstorbenen Adorno herausgefordert. An seine Stelle trat 1986 Jürgen Habermas, der sich 1980 noch nicht zu Wort gemeldet hatte. Doch mittlerweile war die geistesgeschichtliche Situation tiefgreifend verändert worden: Am 8. Mai 1985 hatte Bundespräsident Richard von Weizsäcker**** zum vierzigsten Jahrestag des Kriegsendes eine Rede gehalten, die die Singularität der nationalsozialistischen Judenverfolgung im Sinne Adornos, also deren Unvereinbarkeit mit aller übrigen Geschichte, zur allgemein anzuerkennenden Wahrheit erhob: „Gewiß, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der [gesamten] Geschichte.“ Demnach gleicht er einem vom Himmel in das irdische Geschehen gestürzten Meteoriten. – So konnte Noltes im Jahr darauf erschienener FAZ-Artikel als ein Versuch erscheinen, wider den Stachel zu löcken.

* geb. 1923

** „Die negative Lebendigkeit des Dritten Reiches“, FAZ vom 24. Juli 1980

*** Rolf Becker, „Ewig währt das Dritte Reich“, Der Spiegel vom 22. September 1980

**** 1984 – 1994; geb. 1920

Schon die unter Beteiligung Richard von Weizsäckers entstandene „Ostdenkschrift (1965)“ der EKD* hatte denselben Geist wie seine Rede von 1985 geatmet. In der Denkschrift hieß es: „Wir müssen aber daran festhalten, daß alle Schuld der anderen die deutsche Schuld nicht erklären oder auslöschen kann.“** Sie ist rational und mit geschichtlichen Maßstäben nicht zu erfassen. – 1985 aber war solches nicht mehr durch die EKD, sondern durch den höchsten Repräsentanten des Staates verkündet worden. Von dieser Autorität über die Maßen gestärkt vermochte Habermas nicht nur Nolte anzugreifen, sondern eine grundsätzliche Klärung dessen, was in den deutschen Universitäten von Historikern noch gelehrt werden darf, anzustreben.

* Evangelische Kirche in Deuschland

** Teil V Theologische und ethische Erwägungen

In der „Zeit“ erschien Habermas‘ Artikel „Eine Art Schadensabwicklung“*. Nicht Nolte allein, sondern gleich vier Historikern warf Habermas „apologetische Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“ vor. Vergleichsweise harmlos und kaum zur Causa gehörig erscheint zuerst der Fall Michael Stürmers**, der es es als ein Dilemma empfinde, „Bedürfnisse nach innerweltlicher Sinnstiftung…in wissenschaftlicher Methodik abarbeiten“ zu müssen. Weit schwerer wiegt schon, was Andreas Hillgruber*** angelastet wird. Habermas sieht sich durch Hillgruber „einer revisionistischen Operation seines Geschichtsbewußtseins“ ausgesetzt. Außerdem komme bei ihm „eine Identifikation mit den Siegern…nicht in Betracht.“ Die aber hätten sehr wohl gewußt, warum es geboten war, den deutschen Osten abzutrennen und damit den Staat Preußen endgültig aus der Geschichte zu entfernen. Wenn es aber um die Auslöschung des „europäischen Judentums“ gehe, handle Hillgruber dies in einer „bürokratisch gefrorene[n] Sprache“ ab. Viel schlimmer steht es jedoch um Klaus Hildebrand****, denn der empfahl einen Aufsatz Noltes als „,wegweisend‘“, gerade weil es darin darum geht, „der Geschichte des ,Dritten Reiches‘ das ,scheinbar Einzigartige‘ zu nehmen“.

* Die Zeit vom 11. Juli 1986

** geb. 1938

*** geb. 1925, gest. 1989

**** geb. 1941

Endlich kommt Habermas auf Ernst Nolte zu sprechen, der es wagt, „die Geschichte des Dritten Reiches“ als einen „,negativen Mythos‘“ zu bezeichnen, da sie „weitgehend von den Siegern geschrieben“ worden sei. Mit seiner Sicht der Dinge begebe sich Nolte in einen „Gegensatz zum demokratischen Verfassungstaat“. Noltes Verleumdung des Bolschwewismus verdichte sich zu einer „Linie des Aufstandes gegen die kulturelle und gesellschaftliche Modernisierung“. „In diesem Kontext des Schreckens [durch den bolschewistischen Terror] erscheint dann die Judenvernichtung nur als bedauerliches Ergebnis einer immerhin verständlichen Reaktion auf das, was Hitler als Vernichtungsdrohung empfinden mußte…“ „Die Nazi-Verbrechen verlieren ihre Singularität dadurch, daß sie als Antwort auf ([bis bzw. noch] heute fortdauernde) Vernichtungsdrohungen mindestens verständlich gemacht werden. Auschwitz schrumpft auf das Format einer technischen Innovation…“

Endlich wird auch die Einbeziehung Stürmers in die Abrechnung mit dem Revisionismus in der Geschichtsschreibung klar: „…Stürmer solidarisierte sich…mit dem Zeitungsaufsatz [Noltes vom 6. Juni 1986].“ Im übrigen würde Stürmers auf Nolte sich stützende Sinnstiftung „über eine Wiederbelebung des Nationalbewußtseins“ die BRD auf Grund ihrer „nationalstaatlichen Feindbilder aus dem Bereich der NATO verbannen.“ „Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus.“

Es geht Habermas in seinem Artikel um den Unterschied zwischen dem einzig legitimen Geschichtsverständnis und jenem Revisionismus, der durch die Ausgliederung von Auschwitz aus der Geschichte verhindert wird: „Die einen gehen davon aus, daß die Arbeit des distanzierenden Verstehens die Kraft einer reflexiven Erinnerung freisetzt und damit den Spielraum für einen autonomen Umgang mit ambivalenten Überlieferungen erweitert; die anderen möchten eine revisionistische Historie in Dienst nehmen für die nationalgeschichtliche Aufmöbelung einer konventionellen Identität.“ Es werden im Habermas‘schen Denken zwei Lager erkennbar, die einander unversöhnlich gegenüberstehen. Dabei hat Habermas zu demjenigen, dem er sich zurechnet, hier nur Wolkiges zu sagen; doch einige Schlüsselworte tauchen auf, die auf die Moderne hinweisen: distanzierend, reflexiv, freisetzen, Spielraum, autonom. Der Gegner ist klarer markiert: revisionistisch, national, konventionell; es handelt sich um einen Reaktionär, der nur wieder aufmöbeln will, was längst auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist. – Zu Habermas‘ Artikel sei abschließend noch angemerkt, daß man daran erkennt, wie Habermas an Adorno (samt von Weizsäcker) anknüpft, aber nicht, um dessen Position als seine eigene zu verteidigen, sondern um dessen Position – gegen Nolte – anzuführen, um damit sein eigenes – gegen verschiedene Historiker und deren traditionelles Weltbild gerichtetes – Anliegen zu befördern.

Nolte stand zwar im Mittelpunkt der Auseinandersetzung, diente Habermas aber nur als ein Sack, der geschlagen wird, während der ihn tragende Esel gemeint ist. – Stürmer, ein Berater des Bundeskanzlers Helmut Kohl*, begab sich als erster aus der Schußlinie, indem er sich bereits im August 1986 zu „atlantisch-europäischen Bindungen“ bekannte. Andreas Hillgruber hob im Oktober 1986 die „ganz anderen wissenschaftlichen Ansätzen“ nicht nur Noltes, sondern auch Stürmers hervor; Hillgruber verteidigte sich gleichzeitig gegen Habermas mit dem Hinweis auf dessen unredliches Zitieren im Zeit-Artikel aus dem Juli. Klaus Hildebrand scheint sich in dem Streit weniger engagiert zu haben.

* 1982 – 1998; geb. 1930

Verschiedene Historiker nahmen für die eine oder die andere Seite Stellung; besondere Erwähnung verdient dabei Imanuel Geiss*, der von seiner Vita her auf die Seite von Habermas gehört hätte, ihn nun aber kritisierte und dessen Inszenierung, die ihn „fassungslos“ machte, als „Hysterikerstreit“ bezeichnete. Anders als 1980 wurde nun auch der Spiegel aktiv; sein Gründer selbst ergriff das Wort, Rudolf Augstein**, der es noch „vor fünf Jahren“ – warum fünf und nicht sechs? – „kaum für möglich gehalten“ hätte, „was sich derzeit unter Historikern, Philosophen, und Soziologen abspielt[e]“ und sein von ihm Essay genanntes, indiskutables Pamphlet „Die neue Auschwitz-Lüge überschrieb“.***

* geb. 1931, gest. 2012

** geb. 1923, gest. 2002

*** Der Spiegel vom 6. Oktober 1986

Die von Habermas konstruierte Viererbande* bestand aus recht verschiedenen Historikern, die fachlich und persönlich wenig miteinander verband; allein Hildebrand und Hillgruber standen einander nahe. Es bestand kein Zusammenschluß der Vier, und daher waren sie keine starken Gegner für Habermas und dessen Unterstützer. Sie verteidigten Nolte zwar als Kollegen, aber der die Arbeit als Historiker zu Grunde liegenden Philosophie des einstigen Heidegger-Hörers Nolte hingen sie nicht an. So stand dieser schließlich allein da, und Habermas triumphierte, denn obwohl er nur Nolte isoliert hatte, nicht die anderen drei Historiker, wagte es fortan kein an einer deutschen Universität lehrender Historiker mehr, ein Geschichtsbild zu verteten, in dessen Zentrum das deutsche Volk samt seinem Nationalstaat stand, da eine solche Position nunmehr mit Nolte und daher auch mit der Infragestellung der Singularität von Auschwitz verbunden erschien.

* Bezeichnung des von vier höchsten Funktionären geführten und durch seine parteiinternen Gegner kriminalisierten linken Flügels der Anhänger Mao Tse-tungs bzw. Mao Zedongs (geb. 1893, gest. 1976) nach dessen Tod.

Michael Stürmer blieb ordentlicher Professor für Mittlere und Neuere Geschichte in Erlangen, Klaus Hildebrand dasselbe in Bonn; überdies wurde er 1987 mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Andreas Hillgruber lehrte weiterhin an der Universität Köln, starb aber 1989 nicht lange nach Ende des Historikerstreites. Ernst Nolte unterrichtete zwar noch bis zu seiner Emeritierung 1991 an der Freien Universität Berlin, doch geriet er als Wissenschaftler zunehmend ins Abseits; er wurde geradezu isoliert und schließlich zur Unperson, da er dem nach dem Historikerstreit erreichten Konsens unter den Historikern nicht zustimmte und der Verschärfung des Volksverhetzungsparagraphen von 1994, nach der die „Holocaustleugnung“ nicht mehr nur als Beleidigung juristisch verfolgt wird, die Forderung nach geistiger Freiheit entgegensetzte. Endlich scheute er nicht einmal mehr die persönliche Begegnung mit als extrem rechts verfemten Personen. – Dazu sei angemerkt, daß es gewissermaßen einen Auftakt des Historikerstreites in den USA gegeben hatte. Der in Berlin aufgewachsene und später als Halbjude emigrierte Historiker Felix Gilbert* hatte 1976 Noltes Buch „Deutschland und der Kalte Krieg (1974)“ rezensiert. Die Intention des Autors bestand zwar darin zu zeigen, wie Deutschland sich geschichtlich seit 1945 aus dem Zentrum in die Peripherie bewegte, doch der Rezensent warf ihm das Gegenteil vor, nämlich Deutschland wieder in den Mittelpunkt zu stellen. Seitdem verschwand Nolte aus dem Diskurs der us-amerikanischen Historikerzunft sowie der weiteren Öffentlichkeit.

* geb. 1905, gest. 1991

Habermas hatte auf ganzer Linie gesiegt. Seine Herstellung einer Verbindung zwischen Nolte und Stürmer, Hillgruber sowie Hildebrand hatte dazu gedient, Auschwitz mit dem ethnisch bestimmten Nationalstaatsgedanken zu verknüpfen, den Nationalsozialismus mit dem Konservatismus. – Der Althistoriker Egon Flaig* faßte das Ergebnis zwanzig Jahre später in dem Satz zusammen: „In der Tat, wer den Kopf aus dieser Grube selbstverschuldeter Unvernunft heraushebt, riskiert einen moralischen Kopfschuß.“

* geb. 1949

Habermas hatte sein Ziel erreicht: Der Konservatismus innerhalb der deutschen Hochschullehrerschaft war disqualifiziert worden. Habermas stieg mit seinem Sieg zum Philosophen der alten Bundesrepublik auf, was natürlich umgekehrt auch einiges über die alte Bundesrepublik aussagt. Zwar war ihm dies nicht allein mittels intellektueller Redlichkeit gelungen, aber waren die Alliierten vor Verbrechen zurückgeschreckt, als es galt, das Licht zum Sieg über die Finsternis zu führen?

6 Kommentare zu „Nach der Frankfurter Schule 1a: Habermas (1. Teil)“

  • Wieder ein ausgezeichneter Artikel. Danke!

    Der erwähnte Egon Flaig nimmt sich auch jetzt noch kein Blatt vor den Mund:
    http://kreidfeuer.wordpress.com/2011/12/07/die-habermas-methode-abschied-von-logik-und-rechenschaftslegung/

  • virOblationis:

    @ Carolus

    Egon Flaig drückt sich tatsächlich recht drastisch aus, und wenn er damit auf mangelnde intellektuelle Redlichkeit reagiert, geschieht dies ja auch nicht zu unrecht.

    Allerdings scheint mir, daß er Habermas unterschätzt. In dem von Ihnen angeführten Artikel schreibt Flaig: „Bildung hat Habermas stets anderen überlassen; dementsprechend sehen seine Werke aus.“

    Flaig meint auch, daß der Historikerstreit den herrschaftsfreien Diskurs nach Habermas ad absurdum geführt hat: „Wie ernst darf man das Gerede von Diskursethik noch nehmen, wenn der Großprediger dieser Ethik auf die ethische Regel pfeift, die seit der griechischen Klassik in jeder Debatte zu gelten hat: die Rechenschaftslegung (logon didonai) – unter dem strengen Auge der Schiedsrichter im intellektuellen Agon [(Wettstreit)]?“ M.E. ging es im Historikerstreit nicht um Diskurs, sondern um Ausschluß aus dem Diskurs; und der ist gelungen. – Ich werde im nächsten oder übernächsten Teil den Habermas’schen Diskurs beleuchten.

  • yvonne:

    Vielen Dank nochmals auch von mir für die vielen informativen Artikel zum Thema. Hoffentlich finden sie reichlich Verbreitung! Das Wissen um Hintergründe und Absichten unserer bundesrepublikanischen „Geistesikonen“ ist leider allgemein ja sehr gering, selbst vielleicht auf rechter Seite, dabei bildet deren einflussreiches Wirken mittlerweile doch in vieler Hinsicht und traurigerweise ein unhinterfragtes Fundament unserer heutigen (links)liberal-westlichen Weltsicht.

  • Theosebeios:

    Applaus für diese gelungene Darstellung, und man darf auf die Fortsetzung zur Diskursethik gespannt sein!
    Nach meinem Eindruck konnte H. den Streit nur „gewinnen“, weil der Boden in den 70ern bereitet worden war. In jeder historischen Epoche wird es wohl stets darum gehen, welche Argumente gehört und welche überhört werden. Habermas‘ Kommunikationstheorie suggeriert zeitweise, diese Gesetzmäßigkeit aufzuheben. Als junger Student brauchte man leider viel zu lange, um zu begreifen, dass das so nicht gemeint war.

  • Calin:

    Kompliment zu diesem gelungenen Artikel; ich freue mich auf die – hoffentlich baldigst erscheindende – Fortsetung. 🙂
    Dankeschön!

  • virOblationis:

    Herzlichen Dank an Sie alle für Ihre anerkennenden Worte!

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