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Nach der Frankfurter Schule 1c: Habermas (3. Teil)

von virOblationis

Habermas‘ bedeutendste Veröffentlichung der sechziger Jahre bildet „Erkenntnis und Interesse (1968)“, an der er ab 1964 in Frankfurt lehrend arbeitete. Es geht darin um die philosophische Erfassung von Subjekt und Objekt und die davon abgeleiteten Konsequenzen für die Gesellschaft. – Im Hintergrund steht die Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie, der keine Erfassung sowohl des Subjekts als auch des Objekts gelingt, ohne daß eines von beiden dem anderen untergeordnet wird.

Das menschliche Subjekt erkennt Objekte, und es vermag auch andere Menschen, d.h. deren sinnenhafte Erscheinung zum Gegenstand von Erkenntnis zu machen. So wird der Mensch, der Subjekt ist, zugleich zum Objekt. Dabei ist sein direkter der Zugang zum erkennenden Subjekt auf sich selbst beschränkt; andere bleiben für ihn Objekte, und er vermag nur Rückschlüsse auf sie als Subjekte vorzunehmen. – Doch ist es verfehlt, um diesem Dilemma zu entkommen, alle Menschen ausschließlich als Objekte zu betrachten, nicht als eigenständige Subjekte, oder allein von sich selbst als Subjekt auszugehen; doch gerade beides geschieht in der modernen Philosophie.

Habermas erkennt nur die Seite des Subjekts als Philosophie an und bezeichnet die des Objekts als Wissenschaft. Letztere gründet sich auf das Erkennen aller Lebewesen, die außerhalb ihrer selbst etwas als Objekt wahrnehmen. Der vernunftbegabte Mensch aber erkennt auch sich selbst als erkennendes Subjekt. – In der neuzeitlichen Philosophie wird dies zum Problem, weil Objekte nur noch als materiell Seiende verstanden werden, die zu messen sind. Das erkennende Subjekt hingegen erkennt sich als nicht meßbares, also immaterielles Wesen. Dieser Zwiespalt ist seit Descartes deutlich geworden.

Wie sollte das Subjekt aber zu dem ihm ganz wesensfremden Objekt vordringen? Letzteres wird durch Kant zum unerfaßbaren Ding an sich erklärt. – So löst man entweder – gewöhnlich im Zeichen des Materialismus – alles zur Seite des Objekts hin auf, indem man die Eigenständigkeit des Subjekts aufhebt, so z.B., auch wenn Habermas dies bestreitet, bei Marx, der den Menschen also nur unter naturgesetzlichem Aspekt betrachtet, oder man verbleibt auf Seiten des Subjekts und gibt das Erkennen der von ihm unabhängigen Objekte als solche auf, z.B. in der Existenzphilosophie.

Habermas führt für die objektive Erkenntnisweise der Erfahrungswissenschaft den Begründer des Positivismus an, Auguste Comte*. Für ihn bilde das Subjekt nicht das „Bezugssystem“ ** wie für die Philosophie; das Subjekt verliert seine Bedeutung. „Philosophisch an ihm (sc. dem Positivismus) ist nur das eine Moment, das zur Immunisierung der Wissenschaften gegen Philosophie nötig ist.“*** – Später**** spricht Habermas von Nietzsche in gleicher Weise. Dieser verstehe unter Wissenschaft allein Naturwissenschaft.

* geb. 1798, gest. 1857

** Erkenntnis und Interesse II. Positivismus, Pragmatismus, Historismus

*** ebd.

**** s. Erkenntnis und Interesse III. Kritik als Einheit von Erkenntnis und Interesse 12. Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie. Nietzsches Reduktion der Erkenntnisinteressen

Nach Comte führt Habermas Ernst Mach* und Charles Sanders Peirce** an. Beide begnügen sich nicht mit dem Objektivismus der Naturwissenschaften, sondern suchen von dort aus, das Subjekt miteinzubeziehen.

* geb. 1838, gest. 1916

** geb. 1839, gest. 1914

Mach verknüpft grundsätzliche Gegebenheiten wie Räume, Zeiten, Farben, Töne etc., also alles was irgendwie sinnlich wahrnehmbar ist, mit denjenigen Empfindungen des Subjekts, die von den Umständen einer äußerlich-körperhaften Umgebung abhängig sind. [Doch damit erfaßt Mach das menschliche Subjekt ausschließlich in derselben Weise wie das Objekt. – Ebenso] ergeht es Peirce, der wissenschaftliche Erforschung der Natur und technischen Fortschritt als Wahrheit ansieht, und er hält diese für identisch mit den ihr entsprechenden sprachlichen Äußerungen des Menschen. „Peirce versteht Realität als das, was der Gesamtheit wahrer Aussagen korrespondiert. [Letztere sind]…Interpretationen, die beliebig wiederholten [experimentellen] Nachprüfungen standhalten…“* [Damit wird nicht nur das Problem der Erkenntnis durch Induktion aufgeworfen; nichts läßt sich experimentell unendlich oft wiederholen, und daher kann ein irgendwann abweichendes Ergebnis nicht vollkommen ausgeschlossen werden. Peirce begrenzt gleichzeitig die dem Menschen möglichen wahren Aussagen auf das naturwissenschaftlich Abgesicherte. Wie Mach erfaßt auch Peirce den Menschen lediglich als empirisches Objekt, nicht in seiner Eigenheit als Subjekt.]

* Erkenntnis und Interesse II. Positivismus, Pragmatismus, Historismus 5. Charles S. Peirce‘s Logik der Forschung: Die Aporie eines sprachlogisch erneuerten Universalienrealismus – Dadurch, daß Peirce die Realität mit sprachlichen Äußerungen über sie gleichsetzt, verlegt er die Realität gewissermaßen in die Sprache, so daß bei Habermas in der Überschrift des Kapitels von einem „sprachlogisch erneuerten Universalienrealismus“ die Rede ist.

Habermas geht [anknüpfend an Husserls* Spätwerk „Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1936)“, das von Habermas hier jedoch nicht erwähnt wird,**] davon aus, daß sich im 19. Jahrhundert die Wissenschaft von der Philosophie gelöst hat und darum nicht mehr philosophisch erfaßt wird. – Als Philosophen, der ohne Preisgabe des Subjekts das Objekt erfassen will, führt Habermas Dilthey*** an. Dilthey versteht die Geisteswissenschaften als Pendant zu den Erfahrungswissenschaften. Letztere nehmen das menschliche Subjekt aus. Sie bestätigen ihre Ergebnisse durch das Experiment. Sie erklären die Natur. Die Geisteswissenschaften hingegen suchen mit Hilfe eigener Erlebnisse [in analoger Weise] zu verstehen.

* Edmund Husserl; geb. 1859, gest. 1938

** Es ist lediglich einmal von den „Lebensweltanalysen des späten Husserl“ (Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntniskritik 2. Marxens Metakritik an Hegel: Synthesis durch gesellschaftliche Arbeit) die Rede, ohne daß weiter darauf eingegangen würde. – Anders in der Theorie des kommunikativen Handelns: In Teil VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie wird Husserl in Zusammenhang mit der Herkunft des Begriffes „Lebenswelt“ ausführlich behandelt.

*** Wilhelm Dilthey; geb. 1833, gest. 1911

Dilthey unterscheidet das einzelne menschliche Individuum als Besonderes von den übrigen als dem Allgemeinen. [Statt von Person und menschlicher Natur spricht er von Selbst und Gleichartigkeit mit anderen. Auf diese Weise sucht er die Geisteswissenschaften vor dem Abgleiten in subjektive Willkür zu bewahren, denn auf Grund seiner Gleichartigkeit mit anderen vermag ein Mensch nachzuvollziehen, was einen anderen bewegt hat, z.B. eine bestimmte geschichtliche Tat zu vollbringen.] Die „Gemeinsamkeit der Lebenseinheiten“* bildet den Rahmen der Geisteswissenschaften. [Wenn aber das menschliche Subjekt nicht in seiner Eigenheit mit der ihm gegebenen Freiheit erfaßt wird, sondern nur als eines von vielen Gleichartigen, dann wird es nicht eigentlich als Subjekt erfaßt: Da Dilthey jegliche Metaphysik ablehnt, fehlt Gott als gemeinsamer, qualitativ verschiedener Bezugspunkt der einzelnen Subjekte und Ermöglichung ihrer Freiheit. Nach Dilthey muß das Allgemeine an seine Stelle treten, damit nicht das einzelne Subjekt isoliert in der Welt dasteht, doch damit wird es zu einem Einzelaspekt des Allgemeinen; das Individuum geht bei Dilthey im Kollektiv der Subjekte auf.]

* Erkenntnis und Interesse II. Positivismus, Pragmatismus, Historismus 7. Diltheys Theorie des Ausdrucksverstehens: Ich-Identität und sprachliche Kommunikation

Habermas möchte nun zeigen, daß die Gewinnung von Erkenntnis – ob sie vom Subjekt auszugehen sucht wie bei Dilthey oder vom Objekt wie bei Comte, Mach und Peirce – mit einem gesellschaftlichen Interesse verbunden ist. Der Positivismus als Methodologie der Naturwissenschaften ist mit deren Fortschritt verknüpft ist und verfolgt daher die Verbesserung der Lebensbedingungen als sein Interesse. Dazu wird auch wieder Nietzsche angeführt: Was das Subjekt betreffe, sei nach Nietzsche unwissenschaftlich, denn das Subjekt stehe über den Wissenschaften und benutze sie zur Naturbeherrschung. Auch Peirce‘ Erkenntnistheorie zielt stets auf eine praktische Anwendung, auf das Verhalten bzw. den Willensentschluß als Resultat von Erkenntnis. „Es finden sich sogar einige Andeutungen, die darauf schließen lassen, daß Peirce den methodologischen Rahmen der Forschung zusammen mit dem Funktionskreis instrumentalen Handelns, dem er eingelegt ist, als entwicklungsgeschichtliches Substitut für verloren gegangene oder beeinrächtigte animalische Steuerungsmechanismen [bzw. als Ersatz für die zur Selbsterhaltung dienenden Instinkte] aufgefaßt hat.“* Nach Dilthey ist „das erkenntnisleitende Interesse der Geisteswissenschaften [innerhalb des Lebensstromes ebenfalls] ,praktisch‘.“** Diltheys Hermeneutik weise einen „praktischen Lebensbezug“*** auf, der in ihrer Intention bestehe, zu der für das Überleben der Gemeinschaft notwendigen intersubjektiven Verständigung beizutragen.

* Erkenntnis und Interesse II. Positivismus, Pragmatismus, Historismus 6. Selbstreflexion der Naturwissenschaften: Die pragmatistische Sinnkritik

** Erkenntnis und Interesse, II. Positivismus, Pragmatismus, Historismus 8. Selbstreflexion der Geisteswissenschaften: Die historistische Sinnkritik – kursiv im Original

*** ebd. – kursiv im Original

Wie die das materielle Überleben sichernde Technik die Naturwissenschaft brauche, so das gesellschaftliche Dasein die Geisteswissenschaften. Auf diese Weise wird die Erkenntnistheorie zur Gesellschaftstheorie, und der Titel des Buches, „Erkenntnis und Interesse“, erscheint endlich verständlich.

Darüber hinaus möchte Habermas – wohl auch der persönlichen Verbundenheit gegenüber Marcuse Rechnung tragend – zeigen, daß sowohl Marx als auch Freud Subjekt wie Objekt berücksichtigend sich gedanklich bereits in Richtung auf Habermas‘ Gesellschaftstheorie eines zweifachen interessegeleiteten Erkennens hin bewegten.

Habermas geht davon aus, daß nach Marx die Arbeit zwischen Mensch und Natur vermittelt. Danach bezeichnet Habermas Arbeit nach Marx als „Synthesis“ von Natur und Mensch, obwohl er einräumen muß: „Der Begriff der Synthesis selber wäre ihm suspekt gewesen…“* – Im Zuge seiner Arbeit gewinnt der Mensch [objektives] „Verfügungswissen(s)“** gegenüber der Natur. Doch die Arbeit verändere nicht nur die Natur, sondern auch den Menschen. – Habermas bestreitet, daß es ein gleichbleibendes Wesen des Menschen gibt.

* Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntiskritik 2. Marxens Metakritik an Hegel: Synthesis durch gesellschaftliche Arbeit

** Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntiskritik 3. Die Idee einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie

Neben der Verbindung des Menschen mit der Natur durch die Arbeit bzw. die Ökonomie tritt das Zusammenleben des Menschen mit seinesgleichen: „Die materialistische Untersuchung der Geschichte zielt auf Kategorien der Gesellschaft, die gleichermaßen den realen Lebensprozeß wie die transzendentalen Bedingungen der Konstitution von Lebenswelten bestimmen.“* Es geht also in der materialistischen Untersuchung der Geschichte um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Lebensprozesses von Menschen, die der derselben Gesellschaft angehören, und um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Voraussetzungen ihres Zusammenlebens. Habermas spricht nicht einfach von Lebensprozessen [der einzelnen] und der Konstitution von [gemeinsamen] Lebenswelten, sondern ordnet dies ins Gesamt gesellschaftlichen Kategorien unter und die Lebenswelten noch einmal gesondert den ihnen vorgegebenen und ihrem Zugriff entzogenen Bedingungen. – Inwiefern solch eine Formulierung zu Habermas‘ Schwäche, sich verständlich auszudrücken, gehört, wird noch zu betrachten sein.

* Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntiskritik 2. Marxens Metakritik an Hegel: Synthesis durch gesellschaftliche Arbeit

Die Arbeit fördert nicht nur Naturwissenschaft und Technik, sondern bestimmt durch den Stand der Produktivkräfte das Zusammenleben und das Selbstbewußsein der menschlichen Subjekte, die mit ihresgleichen kommunizieren: „… die Entfaltung der Produktivkräfte ist es, die jeweils den Anstoß zur Aufhebung einer…Lebensform gibt.“* – Stattdessen müßte m.E. von den (dem Stand der Produktivkräfte entsprechenden) Produktionsverhältnissen die Rede sein, weil ihnen die Teilung in verschiedene Klassen entspricht. Aber dem schenkt Habermas wenig Aufmerksamkeit, was daran deutlich wird, daß er nicht von den Arbeitsbedingungen dieser oder jener Klasse schreibt, sondern immer wieder verallgemeinernd von „gesellschaftlicher Arbeit“, die gewissermaßen alle zusammen leisten. So wird bereits an dieser Stelle deutlich, daß Habermas an der Ökonomie als dem innersten Bereich der marxistischen Lehre kaum interessiert ist.

* Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntiskritik 3. Die Idee einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie

Eine Einteilung in verschiedene Klassen wirkt sich jedoch auf das Zusammenleben der Menschen aus; dort(!) lokalisiert Habermas den Klassenkampf, aber diesen deutet er als einen Lernprozeß für die an ihm Beteiligten: Er verschafft ihnen „Bildung durch kritisch-revolutionäre Tätigkeit“*.

* Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntiskritik 3. Die Idee einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie – kursiv im Original

Der „Bildungsprozeß“* der gesellschaftlichen Subjekte und deren „kommunikative[s] Handeln“** ist durch den Gegensatz der Klassen beeinträchtigt. Zur Herstellung einer „herrschaftsfreie[n] Kommunikation“*** müssen die Klassen verschwinden. Dies geschehe dann, wenn die menschliche Arbeit wegen ihrer „vollständigen Substituierung…durch Maschinerie“(!)**** entfalle.

* Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntiskritik 3. Die Idee einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie

** ebd. – kursiv im Original

*** ebd.

**** ebd.

[In der klassenlosen Gesellschaft haben die Menschen dann – wie in einer Seifenoper* – den ganzen Tag lang Zeit, sich mit ihrem Zusammenleben beschäftigen.] Sie verwirklichen dabei „die Organisation der Gesellschaft auf der ausschließlichen Grundlage herrschaftlicher (sic!) Diskussion.“** Es herrscht dann „zwanglose Interaktion(,) auf der Grundlage herrschaftsfreier Kommunikation“***. [Man fragt sich vielleicht, an wem sich die gesellschaftlichen Subjekte für ihren Bildungsprozeß kritisch-revolutionär abarbeiten, wenn durch den technischen Fortschritt keine unterschiedlichen sozialen Klassen mehr bestehen. So wäre in Habermas‘ Sinn zu ergänzen: Je weiter der Klassenkampf abnimmt, desto mehr tritt der mittels argumentierender Vernunft geführte Diskurs an die Stelle des bisherigen heroischen Bildungsprozesses.]

* im Privatleben einer Gruppe von Personen spielende Fernsehserie mit endlos vielen Folgen

** Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntiskritik 3. Die Idee einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie – Der Fehler ist immerhin noch in der von mir benutzten sechsten Auflage von 1981] vorhanden.

*** ebd.

Nach Marx zu Freud! – Habermas versucht zu zeigen, daß in Freuds Psychoanalyse Naturwissenschaft und Hermeneutik vereint sind, was ihm jedoch kaum gelingt; das Anerkennen kausaler Zusammenhänge reicht zum Erweis eines naturwissenschaftlichen Verfahrens ebenso wenig aus wie der Hinweis auf Freuds Überzeugung, die Psychoanalyse könne zukünftig durch medikamentöse Therapie gleichwertig ersetzt werden.

Aufschlußreich in bezug auf Habermas‘ Verständnis gesellschaftlicher Institutionen ist sein Vergleich ihrer mit Neurosen: Wie der einzelne Neurosen angesichts unlösbarer Konflikte entwickelt, so die Gesellschaft Institutionen, und [wie die durch Psychoanalyse gereifte Persönlichkeit ihre Neurosen nicht mehr benötigt, so die Gesellschaft die Institutionen; zumindest] werden sie frei von „Repressivität“*. [Wie die Neurosen behindern die Institutionen den Bildungsprozeß im kommunikativen Handeln. – In der klassenlosen Gesellschaft entsteht ein herrschaftsfreier Diskurs. Dort] verhält man sich gemäß „einem in herrschaftsfreier Kommunikation erzeilten Konsensus“**.

* Erkenntnis und Interesse III. Kritik als Einheit von Erkenntnis und Interesse 12. Psychoanalyse und Gesellschaftstheorie. Nietzsches Reduktion der Erkenntnisinteressen

** ebd.

*

Im Verlaufe der siebziger Jahre verlegte Habermas die ideale Sprechsituation des Diskurses von der klassenlosen Gesellschaft der Zukunft in die Gegenwart. Danach ist die ideale Sprechsituation in der Vernunftgemäßheit begründet, in der Rationalität des Diskurses, der geführt wird: Sie ist vor allem dann gewährleistet, wenn alles Debattierte der Kritik ausgesetzt werden kann und eine Übereinstimmung der Gesprächsteilnehmer auf Grund von Argumenten erzielt wird: „Man darf sich die ideale Sprechsituation nicht als ein utopisches Muster für eine emanzipierte Gesellschaft vorstellen. Ich benutze sie nur zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffes, d.h. eines Begriffes kommunikativer Vernunft…“* – Ein wenig verwirrend erscheint hier die Rede von einer „Rekonstruktion“. Warum sagt Habermas „zur Rekonstruktion des“ statt „auf der Grundlage des“ oder „in Verbindung mit“? Der Vernunftbegriff wird durch die ideale Sprechsituation doch nicht wiederhergestellt; höchstens in dem Sinne, daß er wieder gewürdigt wird, wie es ihm zukommt o.ä. „Die drei [im Diskurs vorausgesetzten] Geltungsansprüche Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit ,konvergieren in einem einzigen: dem der Vernünftigkeit‘“.**

* Interview mit Amsterdamer Zeitschrift „Intermediair“ (vom 29. Juni 1979)

** Detlef Horster, „Habermas. Zur Einführung (1988, 2. Aufl. 1990)“ II. Habermas‘ Sprachphilosophie 3. Diskurstheorie; Zitat im Zitat aus: J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz. in: J. Habermas / N. Luhmann, „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (1971)“.

Für seine Diskurstheorie kritisiert Habermas [Horkheimers und] Marcuses Begriff der Vernunft. Horkheimer hatte die Vernunft in den Dienst der Triebbefriedigung gestellt, und Marcuse hatte danach das Freud‘sche Ich als „Auswuchs des Es“* bezeichnet. – Dazu sei angemerkt, daß Habermas auch die Postmoderne als eine Subjektphilosophie mit Mangel an Vernunft kritisiert, die „Descartes…[und] dessen Tugenden“ aufgebe, indem sie „von [wissenschaftlich-]methodischem Denken“ Abstand nehme.**

* Triebstruktur und Gesellschaft, II. Der Ursprung des unterdrückten Individuums (Ontogenese)

** Untiefen der Rationalitätskritik, „Die Zeit“ (vom 10. August 1984)

Nach Habermas weist „die Richtigkeit von moralischen Handlungsnormen… universale Geltungsansprüche [auf], die in [dem betreffenden] Diskurs(en) geprüft werden können.“* Habermas schließt universale Geltung von Handlungsnormen aus und erkennt nur deren universale Geltungs-ansprüche an. Wie aber soll im praktischen Diskurs eine Frage nach der Weise des Zusammenlebens entschieden werden, wenn objektive Normen fehen? – Um darauf zu antworten, greift Habermas auf Kant zurück, auf den formalen Aspekt der Verallgemeinerbarkeit. Kant hatte geschrieben: „… handle nach der Maxime, die sich selbst zugleich zum allgemeinen Gesetze machen kann. … Handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können. So ist also die Formel eines schlechterdings guten Willens beschaffen.“** Bei Habermas dient die Verallgemeinerbarkeit dazu, daß jeder so lebt, wie er es für richtig hält, wobei er dem andern dasselbe zubilligt. Eben darin besteht auch Habermas‘ liberaler Ersatz einer Utopie, nämlich daß dies immer vollkommener geschehe. Ganz allgemein geht Habermas davon aus, daß die Utopien nicht deshalb verschwunden sind, weil etwa die Moderne an ihr Ende gelangt wäre, sondern weil die „Arbeits[-“ bzw. „Industrie]gesellschaft“ der Vergangenheit angehört. An die Stelle der Utopien mit ihren eine Totalität umspannenden Entwürfen tritt in der „Kommunikationsgesellschaft“ „ein[e Hoffnung auf ein] Verfahren der diskursiven Willensbildung“***, wonach das Leben der Beteiligten nach deren jeweils eigenen Vorstellungen verbessert wird.

* Theorie des kommunikativen Handelns I. „Rationalität“ – eine vorläufige Begriffsbestimmung (3) Exkurs zur Argumentationstheorie

** Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785, 2. Aufl. 1786), BA 81f.

*** Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien, Merkur 431 (1985)

Habermas formuliert folgende Begingungen für die Durchführung des Diskurses in idealer Sprechsituation bzw. die Teilnahme daran: Alle müssen dieselben Möglichkeiten zu Rede und Gegenrede, Frage und Antwort haben. Alle müssen dieselben Möglichkeiten zur Kritik in Argumenten für und wider haben. Alle müssen sich wahrhaftig äußern. Alle müssen dieselben Vollmachten zur Bewertung haben. – Das erfordert eine – nie gänzlich verwirklichte – Gleichheit.

Was in diesem Zusammenhang nicht erwähnt wird, ist die Voraussetzung derselben Lebenswelt, d.h. eine grundsätzlich übereinstimmende geistige Ausrichtung. Die Bereitschaft zur „Transformation“* der bisherigen Lebensweise ist Voraussetzung für die Aufnahme in die Diskursgemeinschaft. So ging es im Historikerstreit 1986 bis 1987 ging es nicht um Durchführung eines Diskurses, sondern um – den erfolgreichen – Ausschluß von nationaler Gesinnung aus dem Diskurs.

* Dialektik der Rationalisierung IV. Krisentheorien und soziale Bewegungen, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

Für die große Mehrheit der Gesellschaft, die ihre Lebensweise bewahren will, ist keine Aufnahme in die Diskursgemeinschaft vorgesehen, sondern es geht um Randgruppen, denen der Diskurs – im Anschluß an Marcuse – übergeben werden soll: „…resistente Subkulturen, die zum Kern autonomer Gegenöffentlichkeit geworden sind – Alte und Junge, Feministinnen und Homosexuelle, Behinderte und aktive Arbeitslose, radical professionels, grüne Witwen usw.“*. Auf solche Exklusivität verweist auch Habermas‘ historisches Vorbild, die protestantische Sekte der Wiedertäufer z.Z. des „gerade entstehende[n] kapitalistische[n] Wirtschaftssystem[s]“**; in der 1636 gegründeten Siedlung Providence (Rhode Island) entstand zwei Jahre später die erste Gemeinde von Wiedertäufern in Neuengland. Nach Habermas‘ Auffassung bildete die „Brüderlichkeitsethik“*** [der Wiedertäufer] anscheinend die eigentliche protestantische Ethik, die von den Calvinisten nur in unzureichender Weise praktiziert wurde. – Eine progressive Gruppe entsprechend der Täufergemeinde strahlt in die gesamte Gesellschaft aus und bestimmt – zusammen mit anderen ihr entsprechenden weiteren Gemeinschaften – den öffentlichen Diskurs und damit den Kurs, den die große Mehrheit zu nehmen hat. Man vergleiche dazu die Studentenschaft der sechziger Jahre, ins Besondere den von Habermas u.a. finanziell unterstützten SDS.

* Interview mit der New Left Review 151 vom Mai 1985

** Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

*** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 1. Ein Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne

 

2 Kommentare zu „Nach der Frankfurter Schule 1c: Habermas (3. Teil)“

  • Theosebeios:

    Auch wenn der „herrschaftsfreie Diskurs“ in einer von Herrschaft gebeutelten Gesellschaftsform stets den Charakter einer Vision hatte, so war man doch gehalten, ihn im Als-ob anzustreben. Man trug ja gleichsam immer den kritisch-diskursiven Marschallstab im Tornister. Wenn etwas schiefging, wie etwa die höchst attraktive Vorstellung einer „ungekränkten Selbstdarstellung“, war dies dem Schlamassel der alten „spätkapitalistischen“ Gesellschaft geschuldet. Wie konnte es gelingen – spätestens seit dem Historikerstreit -, nahezu bruchlos das Konzept als eine Exklusion der und des Unliebsamen fortzuführen? Wie war es möglich, im Rücken der Diskurstheorie, die ja nur explizieren sollte, was der gute Mensch immer schon an Geltungsansprüchen erhob, ein Regime der Unterdrückung zu errichten, das „Brave New World“ alle Ehre macht? Oder war es etwa gar nicht im Rücken von Habermas und Co. geschehen, sondern als zwangsläufige und im Streit zutage tretende „Erkenntnisstufe“ neomarxistischen Denkens, das (gleichsam „mit Lust“) zersetzt, was ihm jeweils im Wege steht?

  • virOblationis:

    @ Theosebeios
    Die Antwort auf Ihre Frage liegt meiner Meinung nach in der nur selten deutlich gemachten, aber von Beginn an vorgesehenen Teilnehmerbeschränkung des Diskurses (auf „resisitente Subkulturen“, s.o.) einerseits und in seiner Zugehörigkeit zu dem gemäß einer inneren Gesetzmäßigkeit (seinem „Eigensinn“) verlaufenden Rationalisierungsprozeß andererseits, den die „Theorie des kommunikativen Handelns“ thematisiert; sie wird in den beiden noch folgenden Teilen dargestellt werden.

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