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Nach der Frankfurter Schule 1d: Habermas (4. Teil)

von virOblationis

In „Erkenntnis und Interesse (1968)“ hat Habermas seine Gedanken noch vergleichsweise verständlich ausgedrückt. Dennoch findet sich auch dort bereits die Tendenz, Sachverhalte mittels Näherbestimmungen mehrfach einzuhüllen wie in einer russischen Schachtelpuppe. So weist Habermas z.B. auf Marx‘ Satz von der Bildung der fünf Sinne als Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte [im dritten der „Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (1843/1844)“] hin, wobei es ihm (wie Marx) nicht um biologische Aspekte geht. Statt mit Bezug darauf ganz schlicht von Lebensprozessen und der Konstitution von Lebenswelten zu sprechen, sagt Habermas: „Die materialistische Untersuchung der Geschichte zielt auf Kategorien der Gesellschaft, die gleichermaßen den realen Lebensprozeß wie die transzendentalen Bedingungen der Konstitution von Lebenswelten bestimmen.“* Dieser Satz wurde oben bereits zitiert.**

* Erkenntnis und Interesse I. Die Krise der Erkenntiskritik 2. Marxens Metakritik an Hegel: Synthesis durch gesellschaftliche Arbeit

** Im 3. Teil [Dort hieß es dazu: Es geht also in der materialistischen Untersuchung der Geschichte um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen des Lebensprozesses von Menschen, die der derselben Gesellschaft angehören, und um die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Voraussetzungen ihres Zusammenlebens. Habermas spricht nicht einfach von Lebensprozessen [der einzelnen] und der Konstitution von [gemeinsamen] Lebenswelten, sondern ordnet dies ins Gesamt gesellschaftlichen Kategorien unter und die Lebenswelten noch einmal gesondert den ihnen vorgegebenen und ihrem Zugriff entzogenen Bedingungen. – Inwiefern solch eine Formulierung zu Habermas‘ Schwäche, sich verständlich auszudrücken, gehört, wird noch zu betrachten sein.]

Ein Beispiel aus der „Theorie des kommunikativen Handelns (1981)“ zeigt, wie diese Vorliebe für Verklausulierungen bei Habermas sogar noch über das Ziel hinausschießen kann. Es heißt dort: „Das Subjekt-Objekt-Modell…wird…an zwei Fronten angegriffen: von der analytischen Sprachphilosophie und der psychologischen Verhaltenstheorie. Beide verzichten auf den direkten Zugang zu Bewußtseinsphänomenen…“* Beide geben den Anspruch auf, das Bewußtsein, die Seele, das Subjekt in der Manier philosophischer Tradition direkt zu bezeichnen und beschränken sich auf dessen Äußerungen in Wort und Tat. Diese sind empirisch zu erfassen, doch bezeugen sie das Bewußtsein nur indirekt. So wäre es möglich, sie Bewußtseinsphänomene zu nennen im Sinne von auf das Bewußtsein zurückzuführenden, sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen. Habermas jedoch setzt die „Bewußtseinsphänomene“ an die Stelle des „Bewußtseins“ selbst, um nicht von ihm zu sprechen, sondern stattdessen von den das Bewußtsein repräsentierenden Phänomenen, unter denen aber in diesem Zusammenhang nur so etwas wie Teilstücke des Bewußtseins verstanden werden könnten, was wiederum kaum gemeint sein dürfte. So führt das Verstecken unter Näherbestimmungen hier zur Mißverständlichkeit.

* Theorie des kommunikativen Handelns V. Der Paradigmenwechsel bei Mead und Durkheim: Von der Zwecktätigkeit zum kommunikativen Handeln 1. Zur kommunikationstheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaften

Ferner hemmt das Umschreiben eines bestimmten Sachverhaltes mit immer neuen Bezeichnungen, die allesamt unanschaulich bleiben und daher wenig erhellend wirken, das Verstehen; ein extremes Beispiel aus der „Theorie des kommunikativen Handelns“ wird im Folgenden vorgestellt werden. – Neben solches Umkreisen eines Sachverhaltes tritt gelegentlich eine unzureichende Kennzeichnung von Referiertem und Kommentierung durch Habermas.

Es kann auch geschehen, daß eine grammatikalisch nicht ganz korrekte Redeweise das Verstehen erschwert: „Ich möchte deshalb vorschlagen, Gesellschaften gleichzeitig als System und Lebenswelt zu konzipieren (1). Dieser Begriff bewährt sich in einer Theorie der sozialen Evolution, die zwischen der Rationalisierung der Lebenswelt und der Komplexitätssteigerung gesellschaftlicher Systeme trennt, um den…Zusammenhang zwischen Formen der sozialen Integration und Stufen der Systemdifferenzierung…einer empirischen Analyse zugänglich zu machen (2).* „Dieser Begriff“ wäre von der Grammatik her ausschließlich auf die „Lebenswelt“ zu beziehen, was aber keinen Sinn ergibt. Daher ist etwa ein „beides umfassende“ zu ergänzen: „Dieser [beides umfassende] Begriff bewährt sich…“

* Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt – kursiv im Original

Ein weiteres Habermas‘sches Charakteristikum, das die Verständlichkeit eines gesamten Textes belasten kann, ist die bisweilen auftretende Unvollständigkeit. Habermas beschränkt sich z.B. auf einen Satz und läßt dessen Ausführung weg. Ein Beispiel: Habermas feiert die Westzonen-BRD in einem Interview mit einer Londoner Zeitschrift 1985 als den zweiundfünfzigsten US-Bundesstaat, dessen Einwohnern lediglich das Wahlrecht fehle. „Diese Orientierung an…den USA ist ja typisch für die Nachkriegsgeneration deutscher Soziologen und Philosophen überhaupt.“ Habermas fährt fort: „Das hat natürlich auch einen machtpolitischen Hintergrund.“ Nun wird‘s interessant, denkt der Leser, doch er wird enttäuscht, denn im Folgenden wird dieser Gedanke überhaupt nicht weiter verfolgt. – Auf ein äußerst bedenkliches Beispiel solcher Unabgeschlossenheit wird im Zuge der Darstellung der „Theorie des kommunikativen Handelns“, und zwar im Zusammenhang mit der These einer Rationalisierung, hingewiesen werden.

Verwandt mit der Unabgeschlossenheit ist die Unvollständigkeit der Darstellung, die darauf beruhen dürfte, daß Habermas sich nicht in den Leser hineinversetzt bzw. davon ausgeht, daß dieser exakt dieselbe Fachliteratur studiert hat wie er selbst: So beginnt Habermas beispielsweise einen neuen Hauptteil der „Theorie des kommunikativen Handelns“ mit dem Hinweis auf drei Rationalitätskomplexe nach Max Weber*, die an dieser Stelle aber nicht aufgezählt und auch auf den letzten Seiten des vorangegangenen Abschnittes nicht erwähnt werden.**

* geb. 1864, gest. 1920

** Theorie des kommunikativen Handelns III. Erste Zwischenbetrachtung: Soziales Handeln, Zwecktätigkeit und Kommunikation

Mangelndes Vermögen, sich in weniger Wissende hineinzuversetzen, wird auch aus Habermas‘schen Proseminaren berichtet, wo statt grundlegender Texte Theorien vorgestellt wurden, die nicht unbeträchtliches und dabei recht spezielles Vorwissen erfordern. So thematisierte er während der neunziger Jahre für ein Proseminar einmal die Gerechtigkeitstheorie nach John Rawls*, deren Autor in der gesamten „Theorie des kommmunikativen Handelns“ lediglich an vier Stellen Erwähnung findet, sein Hauptwerk an einer einzigen davon. Immerhin hat sich Habermas in anderen Publikationen ausführlicher mit Rawls auseinandergesetzt.**

* geb. 1921, gest. 2002; „A Theory of Justice (1971, dtsch. Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975)“

** s. vor allem den (nach Habermas‘ Emeritierung) erschienenen Sammelband „Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie (1996)“

Am gravierendsten erschwert die mangelnde Gewichtung einzelner Phänomene das Textverständnis. Wenig geordnete Gedankengänge werden immer wieder neu zueinander in Beziehung gesetzt. Es fehlt geistige Klarheit, weil Unwesentliches nicht vom Wesentlichen unterschieden wird; in diesen Zusammenhang gehört auch die Weitschweifigkeit*, die zu einer einhundertneunzig Seiten umfassenden Einleitung der „Theorie des kommmunikativen Handelns“ geführt hat. Die mangelnde Klarheit und Gewichtung wird auch an der Unzahl kursiv gedruckter Worte und Wendungen deutlich: O wenn doch stattdessen hier und da nur einmal ein einziger Satz von wirklich höchster Bedeutung im Druck hervorgehoben würde! – Angesichts all dessen wirkt es durchaus erheiternd, daß ausgerechnet Habermas 1976 der „Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Akademie für Sprache und Dichtung“ verliehen wurde.

* Jürgen Habermas kam mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, vulgo Hasenscharte, zur Welt. Das Gesprochene ist schwerer verständlich bei solcher Behinderung. Dieser Umstand scheint bemerkenswert, wenn man man bedenkt, welche Bedeutung der Sprache – quantitativ, nicht qualitativ – in Habermas‘ Philosophie zukommt, wie viele Worte er gewöhnlich braucht, um etwas darzulegen. Man vergleiche dazu Alfred Adlers (geb. 1870, gest. 1937) auf die „Studie über Minderwertigkeit von Organen (1907)“ zurückgehende und später im Rahmen der Individualpsychologie modifizierte Hypothese einer Überkompensation.

*

Habermas hielt den 1964 errungenen Lehrstuhl nicht etwa lebenslang fest. Vielmehr begab er sich nach einigen Jahren des Lehrens von Frankfurt fort (1971) und wurde zweiter Direktor des Max-Planck-Institutes zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. In ähnlicher Weise hatte er bereits nach der Promotion 1954 ebenfalls eine Zeit lang Abschied vom universitären Betrieb genommen, um als Journalist zu arbeiten. Wie er sich damals der Soziologie zugewandt hatte, so erarbeitete sich Habermas nun einen Zugang zur Linguistik. Die Philosophie trat noch weiter in den Hintergrund bzw. wurde von Habermas den anderen Wissenschaften angeglichen: „Die Philosophie ist heute nicht mehr im Besitze metaphysischer Wahrheiten. Sie ist beinahe ebenso wie die Wissenschaften in den Fallibilismus eines Forschungsptrozesses hereingezogen, der sich auf dem Boden einer niemals revisionsfreien Argumentation abspielt.“* Was dann aber das Arbeitsgebiet der Philosophie sein soll, darüber gibt die „Theorie des kommunikativen Handelns“ Auskunft.

* „Konservative Politik, Arbeit, Sozialismus und Utopie heute“, Basler Zeitung (7. Januar 1984)

Der erste Satz der Einleitung lautet: „Die Rationalität von Meinungen und Handlungen ist ein Thema, das herkömmlicherweise in der Philosophie bearbeitet wird.“* Die Philosophie der Moderne versucht [wegen des Verlustes der Metaphysik] nämlich nicht mehr, die Welt mit Hilfe der Vernunft zu erklären, [dies überläßt sie den Naturwissenschaften]. Moderne Philosophie verzichtet auf einen „Totalitätsbezug“** und erhebt keine „Letztbegründungsansprüche“*** mehr; sie beschränkt sich auf eine „Theorie der Rationalität“.**** Diese wiederum – und damit seinen Begriff von Philosophie – verpflanzt Habermas in einen soziologischen Rahmen, was möglich sei, weil das Thema Rationalität auch in die Soziologie gehöre, ja sie zähle zu den „handlungstheoretischen Grundlagen der Soziologie“*****. – Dieses Verfahren zielt darauf ab, einen nach Habermas in der sozialen Lebenswelt des Menschen vorhandenen Rationalisierungsprozeß zu thematisieren. Es gibt gleichzeitig den traditionellen Begriff von Philosophie preis. Indem Habermas diese Wendung vollzieht, löst er sich von seiner eigenen – subjektphilosophischen – Bildung aus der Studienzeit; die ab 1945 angenommene, neue Identität vollendet sich.

* Theorie des kommunikativen Handelns I. Einleitung: Zugänge zur Rationalitätsproblematik Vorüberlegung: Der Rationalitätsbegriff in der Soziologie

** ebd.

*** Theorie des kommunikativen Handelns I. Einleitung: Zugänge zur Rationalitätsproblematik Übersicht über den Aufbau des Buches

**** Theorie des kommunikativen Handelns I. Einleitung: Zugänge zur Rationalitätsproblematik Vorüberlegung: Der Rationalitätsbegriff in der Soziologie – kursiv im Original

***** Theorie des kommunikativen Handelns I. Einleitung: Zugänge zur Rationalitätsproblematik Übersicht über den Aufbau des Buches

Habermas‘ Hauptwerk, die „Theorie des kommunikativen Handelns“, erschien, als seine Tätigkeit für das Münchner Max-Planck-Institut für Sozialwissenschaften 1981 endete. Sie bildet also gewissermaßen den Auftakt zur zweiten Phase der Tätigkeit als Frankfurter Professor von 1983 bis zur Emeritierung 1994. Allerdings kehrte Habermas nicht etwa auf den früheren Lehrstuhl zurück, denn den hatte inzwischen Alfred Schmidt* inne, ein Schüler Horkheimers und Adornos, und im Gegensatz zu Habermas verließ Schmidt ihn nicht bis zu seiner Emeritierung (1999). – Während dieser zweiten Phase der Lehrtätigkeit erreichte Habermas den Höhepunkt seiner Laufbahn. Seine Berufungspolitik bestimmte die Besetzung von Lehrstühlen, der Suhrkamp-Verlag publizierte seine Werke, und „Die Zeit“ verbreitete seine Gedanken fortwährend in der Öffentlichkeit. Habermas stieg als Sieger des „Historikerstreites“ zum Philosophen der alten Bundesrepublik auf, dessen Weisung bestimmte, welche Position in Blick auf die Neuere Geschichte allein vertretbar ist, nämlich die von allen nationalen Aspekten befreite. Dies wurde – freilich nicht etwa allein auf Grund der geistigen Ausstrahlung Habermasens – zur Leitlinie allen legitimen Denkens der aus BRD und DDR wiedervereinten Republik: Außerhalb dessen existiert nur das Lager, dem man nicht angehören darf; wer aber dazu zählt, mag sich von bestimmten Auffassungen und einigen oder sogar allen übrigen Mitgliedern distanzieren, doch zu seiner Akzeptanz kann das nicht führen.

* geb. 1931, gest. 2012; während des Studiums in Frankfurt (1952 – 1956) gehörte er zu Horkheimers Hörern, und danach war er als Lehrbeauftragter des Philosophischen Seminars unter Adorno tätig bis zur Promotion (1960).

Die „Theorie des kommunikativen Handelns“ entwickelt das aus „Erkenntnis und Interesse“ bekannte Doppelmodell der Gesellschaft weiter. Habermas arbeitete während der gesamten siebziger Jahre daran, sehr intensiv ab 1977, nach dem Verwerfen älterer Fassungen. Er selbst nannte das vollendete Werk ein „Monstrum“*. Schon zuvor, während der sechziger Jahre, hatte er über die Möglichkeit nachgedacht, wie man Naturwissenschaft, Technik und Wirtschaft mit der sozialen Welt und den in ihr stattfindenden rationalen Auseinandersetzungen zusammendenken könne; verschiedene Titel veröffentlichte Habermas dazu: „Theorie und Praxis. Sozialphilosophische Studien (1963)“, „Zur Logik der Sozialwissenschaften. Philosophische Rundschau Beiheft 5 (1967)“ sowie den Sammelband „Technik und Wissenschaft als ,Ideologie‘ (1968)“, in welchem der Aufsatz mit demselben Titel Herbert Marcuse anläßlich von dessen siebzigstem Geburtstag gewidmet ist.

* Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

*

Immer wieder ist in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ von einem gewissen System die Rede, auch von Systemtheorie. Selbst wenn man dazu erfährt, daß Habermas „Gesellschaften als systemisch stabilisierte Handlungszusammenhänge sozial integrierter Gruppen“* versteht, bleibt die Vorstellung vom System wenig konkret. Man fragt sich, was damit gemeint ist, hat vielleicht an anderer Stelle schon von „mediengesteuerten und formal-rechtlich organisierten** Problembereiche[n]“*** sowie formal organisierte[n] Handlungssysteme[n] gelesen, ohne zu wissen, daß beide nicht allein miteinander, sondern auch mit dem System identisch sind; aber selbst wenn dies klar ist, wird noch nicht deutlich, was genau unter dem System zu verstehen ist, und nur der aufmerksamste Leser hat dem Text zugleich entnommen, daß „mediengesteuert(en)“ nicht etwa mit Presse und Rundfunk zu tun hat, sondern mit „Steuerungsmedien“ und daß es sich bei diesen um „Geld und Macht“**** handelt.

* Theorie des kommunikativen Handelns VII. Talcott Parsons: Konstruktionsprobleme der Gesellschaftstheorie

** „Formal organisiert nenne ich alle in mediengesteuerten Subsystemen auftretenden Sozialbeziehungen, soweit diese durch positives Recht erst erzeugt werden.“ Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 1. Ein Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne – kursiv im Original – Zum Ausdruck „mediengesteuert“ s.u.

*** Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

**** ebd.

Dem System auf der Spur gelangt man an das Stichwort erfolgsorientiertes Handeln: Aber von welchem Handeln gälte dies nicht? Weiter: Es ist zugleich strategisches bzw. instrumentelles Handeln; es benutzt also Dinge als Mittel zum Zweck, verfolgt damit eine Strategie. Gibt es denn zweckfreies Tun? Dann endlich eine vorläufige Einsicht: Es ist ein gegenstandsbezogenes Handeln, richtet sich also nicht auf Personen. – Eine sehr theoretische Unterscheidung allerdings, angesichts der Wirklichkeit. Wo gäbe es ein Handeln, daß Dinge als Mittel zum Zweck gebraucht, ohne letztlich Personen – sei es die eigene, seien es andere* – dabei im Sinn zu haben?

* Für den Christen bildet Gott den Endzweck aller Gedanken, Worte und Werke: „Wir sind auf Erden, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und einst ewig bei ihm zu leben.“ [Grüner bzw.] Katholischer Katechismus der Bistümer Deutschlands (1955)

Das System hat zu tun mit der objektiven Welt real exisitierender Sachverhalte bzw. der objektiven Welt als Gesamtheit der Sachverhalte, kurz mit der objektiven Welt.* – Hier dringt offensichtlich die philosophische Problematik von Subjekt und Objekt ein, und es wird klar, daß das System auf die Seite des Objekts gehört, m.a.W. es handelt sich um den Bereich der Wirklichkeit, den Habermas dem Erkennen von Objekten, dem [naturwissenschaftlichen] „Objektivismus“**, innerhalb der Gesellschaft zugesteht, nämlich den der materiellen Reproduktion der Gesellschaft, in welchem eine kognitiv-instrumentelle bzw. -instrumentale Rationalität vorherrscht, zweckrationales Wirtschafts- und Verwaltungshandeln. Demnach handelt es sich bei dem mysteriösen System schlicht um Wirtschaft und Staatsapparat, genauer um die systemtheoretische Deutung des ökonomisch-politischen Bereiches der Gesellschaft.

* Schon in „Erkenntnis und Interesse“ heißt es: „An sich existiert die Wirklichkeit [in der Sicht der Naturwissenschaften] als Gesamtheit der Elemente und aller Verbindungen dieser Elemente.“ II. Positivismus, Pragmatismus, Historismus, 4. Comte und Mach: Die Intention des älteren Positivismus – kursiv im Original

** Erkenntnis und Interesse, II. Positivismus, Pragmatismus, Historismus

Nebenbei erfährt der Leser, daß das Subsystem Wirtschaft vom Markt gesteuert wird und daß das Subsystem Staatsapparat in komplementärer Beziehung zu dem vorigen stehe.* Habermas spricht auch von Marktwirtschaft und Staatsbürokratie. – Warum aber werden die zwei „Subsysteme zweckrationalen Wirtschafts- und Verwaltungshandelns“** und nicht die Gesellschaft ins Gesamt von Habermas als System bezeichnet? Er räumt ein, daß von ihnen aus betrachtet das soziale Leben der Gesellschaft als ein weiteres Subsystem erscheint. Doch dieses selbst verstehe sich nicht so, sondern als Komplex aus den „Umwelten“ von „Kultur und Persönlichkeit“ gegenüber dem „Institutionensystem“.*** Dieser Komplex besteht aus Lebensformen bzw. einer Lebenswelt, die vom System aus Wirtschaft und Politik zu unterscheiden ist.

* s. Theorie des kommunikativen Handelns II. Max Webers Theorie der Rationalisierung 3. Modernisierung als gesellschaftliche Rationalisierung: Die Rolle der protestantischen Ethik

** Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 2. Entkoppelung von System und Lebenswelt

*** ebd.

Die Lebenswelt enthält kommunikativ strukturierte Lebensbereiche. Sie ist im Gegensatz zum System gekennzeichnet durch kommunikatives Alltagshandeln, durch eine kommunikative Rationalität. „…kommunikatives Handeln [ist] nicht nur ein Verständigungsprozeß…[bei dem] die Aktoren…sich…verständigen, [weil sie] zugleich an Interaktionen teilnehmen, wodurch sie ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen sowie ihre eigene Identität ausbilden, bestätigen und erneuern.“*

* Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie (3) Vom formalpragmatischen über den narrativen zum soziologischen Begriff der Lebenswelt

In der Lebenswelt geht es um soziales, verständigungsorientiertes, kommunikatives Handeln, kurz um den Diskurs sowie eine symbolische Reproduktion der Gesellschaft, genauer der Lebenswelt. Die „Reproduktion der Lebenswelt“* umfaßt dreierlei: „Die kulturelle Reproduktion der Lebenswelt… sichert die Kontinuität der Überlieferung…“** „Die soziale Integration der Lebenswelt… sorgt für die Koordinierung von Handlungen und die Stabilisierung von Gruppenidentitäten…“*** „Die Sozialisation der Angehörigen einer Lebenswelt… sorgt für Abstimmung von individuellen Lebensgeschichten und kollektiven Lebensformen.“****

* Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie (4) Funktionen des verständigungsorientierten Handelns für die Reproduktion der Lebenswelt. Dimensionen der Lebensweltrationalisierung

** ebd. – kursiv im Original

*** ebd. – kursiv im Original

**** ebd. – kursiv im Original

Husserls Begriff der Lebenswelt wird von Habermas übernommen, aber inhaltlich neu bestimmt.* Nach Habermas stellt jede Lebenswelt ein Zeugnis der „Selbstauslegung der jeweils untersuchten Kultur“** dar. – Die Lebenswelt besteht aus „den entinstitutionalisierten Verkehrsformen der familialen Privatsphäre [so]wie…der durch Massenmedien geprägten Öffentlichkeit“. Beides sind Stätten „des kommunikativen Handelns“.*** So „verlaufen die Grenzen zwischen System und Lebenswelt, grob gesagt, zwischen den Subsystemen der Wirtschaft und der bürokratisierten Staatsverwaltung einerseits, der (von Familie, Nachbarschaft, freien Assoziationen getragenen) privaten Lebenssphären sowie der Öffentlichkeit (der Privatleute und der Staatsbürger) andererseits.“****

* s. Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie (1) Die Lebenswelt als Horizont und Hintergrund des kommunikativen Handelns

** Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie (5) Grenzen der verstehenden Soziologie, die Lebenswelt mit Gesellschaft identifiziert

*** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 3. Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie

**** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 1. Ein Rückblick auf Max Webers Theorie der Moderne – „der…privaten Lebenssphären“ statt „den…privaten Lebenssphären“ oder „der…privaten Lebenssphäre“ im Original

Habermas zitiert Alfred Schütz / Thomas Luckmann, „Strukturen der Lebenswelt (Frankfurt 1979)“: „Der Wissensvorrat des lebensweltlichen Denkens ist…zu verstehen als…eine Totalität der von Situation zu Situation wechselnden Selbstverständlichkeiten… Diese Totalität ist nicht als solche erfaßbar, ist aber…im Erfahrungsablauf mitgegeben.“ Habermas kommentiert dies folgendermaßen: „Sie (sc. die Lebenswelt) bildet einen Kontext, der, selber unbegrenzt, Grenzen zieht…“* An anderer Stelle merkt Habermas dazu an, die gemeinsame Lebenswelt dürfe nicht thematisiert werden, weil sie ihre Wirksamkeit sonst verliere: „Die Lebenswelt ist das merkwürdige Ding, das vor unseren Augen zerfällt und verschwindet, sobald wir sie [als Gegenstand der Betrachtung] stückweise vor uns bringen wollen.“ .**

* Theorie des kommunikativen Handelns VI. Zweite Zwischenbetrachtung: System und Lebenswelt 1. Das Konzept der Lebenswelt und der hermeneutische Idealismus der verstehenden Soziologie (2) Der sozialphänomenologische Begriff der Lebenswelt im Lichte der Kommunikationstheorie

** Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981) – kursiv im Original

Diese Auffassung von Lebenswelt verweist zurück auf das Verständnis des Seins nach Heidegger, in welchem das Dasein des Subjekts sich stets schon vorfindet: „Das ,Sein‘ wird zwar in aller bisherigen Ontologie [bzw. Seinslehre] ,vorausgesetzt‘, aber nicht als verfügbarer [bzw. einer durch Betrachtung von außen entstandener] Begriff… das Sein…, in dem wir uns immer schon bewegen… [gehört nämlich] zur Wesensverfassung des Daseins selbst…“* [Daher verstehen wir von unserem Dasein aus das Sein nur sozusagen von innen her.] – Heideggers Argumentation – wie überzeugend auch immer sie sein mag – greift nicht mehr, wenn zwar sein Verständnis des Seins formal übernommen, doch als Lebenswelt mit anderen Inhalten gefüllt wird. So bleibt die von Habermas behauptete Unmöglichkeit einer Thematisierung der Lebenswelt, ihr „Nichthintergehbarkeitscharakter“**, ohne Begründung und läuft hinaus auf das Verbot einer Thematisierung der Lebenswelt durch diejenigen, die ihr angehören, mit dem Verweis darauf, daß sie ihre Wirksamkeit verlieren würde: Aber warum sollten sich die Angehörigen einer Lebenswelt der sie verbindenden „Totalität der…Selbstverständlichkeiten“ nicht gemeinsam bewußt werden, um ihre Lebenswelt als eine von vielen besser zu verstehen?

* M. Heidegger, „Sein und Zeit (1927)“, 1. Kapitel § 2 – kursiv im Original

** Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981)

In der sozialen Welt, die Habermas nicht mittels Systemtheorie, sondern mit Hilfe der linguistischen Sprechakttheorie* zu erschließen sucht, ist der Mensch zugleich Schöpfer und Produkt seiner sozialen Umwelt. So versucht Habermas die „Systemtheorie der Gesellschaft“, die ihre Analyse „einzig unter den funktionalistischen Gesichtspunkt wachsender Systemkomplexität“ stellt, mit den „verschiedene(n) Richtungen einer verstehenden Soziologie“, die „Strukturen von Weltbildern und Lebensformen“ untersucht, zu kombinieren.**

* s. bes. John Rogers Searle; geb. 1932; hier: „Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language (1969)“; anschließend an John Langshaw Austin; geb. 1911, gest. 1960; vor allem: „How to Do Things with Words. The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955 (1962)“

** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx 3. Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie

Durch die soziologische Doppelkonstruktion von Lebenswelt und System, die an die Unterscheidung von Geistes- und Naturwissenschaften samt deren jeweiligem Nutzen für die soziale Welt und die Ökonomie in „Erkenntnis und Interesse“ anschließt, sucht Habermas das philosophische Subjekt-Objekt-Problem zu ersetzen. Er erweckt mit Begriffen wie „gegenstandsbezogenes Handeln“ einerseits und „Intersubjektivität“ andererseits den Eindruck, es ginge beim System immer noch um das philosophische Objekt und in der Lebenswelt um das (Kollektiv der) Subjekt(e); doch hat man in der Arbeitswelt auch stets mit anderen Menschen zu tun, und aus dem Privatleben, wo die Sprache nach Habermas ihren eigentlichen Ort hat, ist die Welt der Dinge nicht ausgeschlossen; er selbst sagt: „In die Pragmatik jeden Sprachgebrauchs ist die Unterstellung einer gemeinsamen objektiven Welt eingebaut.“* So geht es bei System und Lebenswelt letztlich nur um Handeln mit unterschiedlicher Intention im Bereich der Produktion materieller Güter einerseits und in der sozialen Welt andererseits; Habermas spricht von „erfolgs- oder…verständigungsorientierte[r] Einstellung“.**

* Die Einheit der Vernunft und die Vielheit ihrer Stimmen, Merkur 1 (1988)

** Theorie des kommunikativen Handelns III. Erste Zwischenbetrachtung: Soziales Handeln, Zwecktätigkeit und Kommunikation (2) Erfolgs- und verständigungsorientierter Sprachgebrauch. Der Stellenwert perlokutionärer Effekte

8 Kommentare zu „Nach der Frankfurter Schule 1d: Habermas (4. Teil)“

  • Theosebeios:

    (a) „An anderer Stelle merkt Habermas dazu an, die gemeinsame Lebenswelt dürfe nicht thematisiert werden, weil sie ihre Wirksamkeit sonst verliere.“
    Sie stellen das ja auch in Frage („willkürlich“). Mich hat die Bemerkung irritiert. Sie entspricht nicht der ewigen Hinterfragerei der „Kritischen Theorie“. Wir glauben zu wissen, dass das „Hinterfragen“ durch die eigenen fixen Ideen vom Guten und Richtigen zuverlässig eingehegt wird. Dass man aber die Lebenswelt, die „Totalität der…Selbstverständlichkeiten“, nicht dem argumentativen Zweifel unterziehen dürfe, müsste m.E. als Forderung der Kritischen Theorie mit geeigneten Fundstellen, nicht indirekter Umschreibung, seiten- und satzgenau belegt werden.

    (b) Der Vorwurf der Unverständlichkeit ist berechtigt. Es gibt aber durchaus Texte von Habermas (aus den 70er-Jahren, vor Abfassung des „Monstrums“), die konzis sind und sich angenehm von der „schwebenden“ Dialektik Adornoscher Essays abheben. Er konnte, wenn er wollte bzw. (und wahrscheinlicher:) sollte. Unverständliches Wortgeklingel ist wohl eine Erblast der deutschen idealistischen Philosophie. Fichte rang in seinen Vorlesungen zur Wissenschaftslehre stets wie ein Ringkämpfer mit einem fintenreichen Gegner. Der Schweiß harter Geistesarbeit tropft aus jeder Zeile. Hegel hat eine unerhörte sprachliche Meisterschaft erreicht, und man liest (als Ungläubiger) seine schier endlos hohen Satzberge durchaus mit ästhetischem Gewinn. Mit dem Verstehen ist es aber schwierig, denn: „das Wahre ist das Ganze“. Das normale Verstehen will aber Einzelnes, den Satz, verstehen. Dass bei unseren großen Systemdenkern ein Satz für sich etwas sagen könnte, ist jedoch nicht vorgesehen, stets muss man lange und immer längere Satzketten ergreifen und wie einen Rosenkranz oft und immer öfter ertasten.

    (c) Die Meisterschaft im Komplizierten, um nicht zu sagen Unverständlichen, ist bis heute ein Signum kritischer Soziologen. Sagen Sie einem solchen einmal (ob jung oder alt), er möge doch bitte seinen Text gliedern (nicht mit 1,2,3 oder *) und am Ende oder am Anfang eine Zusammenfassung der wesentlichen Gedanken liefern, durch die man den Ertrag seiner kühnen Gedankenflüge geballt genießen könne. Auch wage man es nicht, gegen ihren Jargon der Uneigentlichkeit Einspruch zu erheben. Man wird angeschaut, als sei man nicht von dieser Welt. Abbruch der Kommunikation ist üblich.

  • virOblationis:

    @ Theosebeios

    ad (a) „Die Lebenswelt ist das merkwürdige Ding, das vor unseren Augen zerfällt und verschwindet, sobald wir sie stückweise vor uns bringen wollen. Die Lebenswelt funktioniert im Hinblick auf Kommunikationsprozesse als Resource für das, was in explizite Äußerungen eingeht; aber in dem Augenblick, wo dieses Hintergrundwissen in kommunikative Äußerungen eingeht, wo es zu explizitem Wissen und damit kritisierbar wird, verliert es gerade den Gewißheitscharakter, den Hintergrundcharakter und den Nichthintergehbarkeitscharakter, den die Lebensweltstrukturen für ihre Angehörigen jeweils haben.“
    Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981) = Die Neue Unübersichtlichkeit, Kleine Politische Schriften V (1985) [S. 186] – kursiv im Original
    ad (b) Eigenartig, daß Sie den Rosenkranz erwähnen. Ich bete ihn täglich; es ist meine Meditation, die mir – ohne daß dies beabsichtigt wäre – auch bei der Arbeit am Schreibtisch hilft.

  • Theosebeios:

    Ein interessantes Zitat. Aber ich interpretiere das nicht als eine Art Denkverbot. H. referiert einen ausgesprochen konservativen Gedanken, den der verstorbene Odo Marquard immer sehr pointiert vertreten hat: Um ein wenig Ungewissheit zu ertragen, benötigen wir sehr viel Gewissheit. Und diese ist mit und durch unsere Lebenswelt gesetzt. Damit sympathisiere ich auch.

    Rosenkranz mit Hegel: Ich glaube, die Analogie ist nicht von mir. Ich weiß es nicht mehr. Mein Gedächtnis schwindet. Könnte auch Schopenhauer gesagt haben. Aber so böse wie er meine ich’s nicht. Habe großen Respekt vor dem „Alten“!

  • virOblationis:

    „Die Lebenswelt ist das merkwürdige Ding, das vor unseren Augen zerfällt und verschwindet, sobald wir sie stückweise vor uns bringen wollen. Die Lebenswelt funktioniert im Hinblick auf Kommunikationsprozesse als Resource für das, was in explizite Äußerungen eingeht; aber in dem Augenblick, wo dieses Hintergrundwissen in kommunikative Äußerungen eingeht, wo es zu explizitem Wissen und damit kritisierbar wird, verliert es gerade den Gewißheitscharakter, den Hintergrundcharakter und den Nichthintergehbarkeitscharakter, den die Lebensweltstrukturen für ihre Angehörigen jeweils haben.“
    Dialektik der Rationalisierung III. Dialektik der Rationalisierung: Motive des neuen Buches, Ästhetik und Kommunikation 45/46 (1981) = Die Neue Unübersichtlichkeit, Kleine Politische Schriften V (1985) [S. 186] – kursiv im Original

    @ Theosebeios

    Ihrer Kritik vom 8. November entsprechend habe ich das von mir darauf angeführte Zitat in gekürzter – und erläuternd wiederum erweiterter – Form in den Text des 4. Teils an der betreffenden Stelle eingefügt und im folgenden Absatz den Satz zum „Verbot der Thematisierung“ präzisiert.

    Meine Deutung des Zitates stützt sich darauf, daß Habermas sagt: „Die Lebenswelt…zerfällt und verschwindet, sobald wir sie…vor uns bringen wollen.“ „…vor uns bringen“ verstehe ich im Sinne von ins Blickfeld rücken bzw. zum Gegenstand der Betrachtung machen. Dann „zerfällt und verschwindet“ die Lebenswelt. Dies setzt nicht erst dann ein, wenn der Prozeß der Reflexion erfolgreich abgeschlossen ist, sondern bereits, „sobald wir sie stückweise vor uns bringen wollen“, also sobald wir auch nur daran gingen, sie nach und nach zu reflektieren. – So sehe ich Habermas‘ Auffassung der Lebenswelt als von seiner früheren Auseinandersetzung mit der Heidegger’schen Philosophie geprägt an.

    In diesem Falle „verliert es (sc. das zu kritisierbarem, explizitem Wissen gewordene Hintergrundwissen) den…Hintergrundcharakter“. Hinzu kommt der Verlust des „Gewißheitscharakter[s]“, auf den Sie Ihre Interpretation des Textes stützen, wie ich denke. Meiner Meinung nach könnte es sich um einen Aspekt handeln, den Habermas in seine Darstellung einflicht. Dann würde der „Nichthintergehbarkeitscharakter“ der „Lebensweltstrukturen für ihre Angehörigen“ wieder auf das von Heideggers Philosophie geprägte Verständnis von Lebenswelt anknüpfen und damit an den voranstehenden Satz von der zerfallenden Lebenswelt anknüpfen.

    Es ist demnach zwar möglich, im Begriff des „Gewißheitscharakter[s]“ das Schlüsselwort zum Verständnis des Zitates zu erblicken, wonach Gewißheit nur um den Preis des Verzichts auf Reflexion zu erhalten wäre. Eine solch exklusive, d.h. Heideggers entscheidende Bedeutung auf Habermas‘ Lebenswelt-Konzept ausschließende Deutung, halte ich jedoch für schwierig, denn sie läßt sich m.E. nicht gut mit Habermas‘ Verständnis der Lebenswelt vereinbaren, die – ebenso wie seinerseits das „System“ gegenüber der Lebenswelt – ihre eigene Perspektive gegenüber dem „System“ einnimmt: Die doppelte Sichtweise verweist zurück auf die von Habermas bearbeitete philosophische Subjekt-Objekt-Problematik und seine der „Theorie des kommunikativen Handelns (1981)“ vorangegangenen Versuche, eine Lösung mittels zweier verschiedener Perspektiven zu finden, wie der 4. Teil im Anschluß an den 3. Teil zu zeigen sucht.

    In formaler Weise spricht auch die Möglichkeit, das Wort „Gewißheitscharakter“ im oben angeführten Zitat streichen zu können, ohne daß der Text dadurch seine Verständlichkeit verlöre, dafür, daß es sich dabei nicht um dessen zentrale Aussage, sondern einen zusätzlich eingeflochtenen Gedanken handelt. – Der Verlust des „Gewißheitscharakter[s]“ wäre um den Preis eine Verzichts auf Reflexion zu erreichen; der Begriff des „Nichthintergehbarkeitscharakter[s]“ weist m.E. darüber hinaus, da eine „Nichthintergehbarkeit“ nicht allein einen Verzicht bedeutet, sondern die Möglichkeit der Reflexion bestreitet: Es ist nicht möglich, einen Standpunkt hinter bzw. jenseits der Lebenswelt zu gewinnen, um sie zum Objekt der Betrachtung zu machen. Dies entspricht dem, was ich für die von Heidegger geprägte Auffassung der Habermas’schen Lebenswelt halte.

    Allerdings steht die „Nichthintergehbarkeit“ in einer gewissen Spannung zur Formulierung des gesamten Zitates, für das der Irrealis angezeigt gewesen wäre, um vollständige Kongruenz mit der „Nichthintergehbarkeit“ herzustellen: „Die Lebenswelt ist das merkwürdige Ding, das zerfallen und verschwinden würde, wenn wir es stückweise vor uns bringen wollen würden. Die Lebenswelt funktioniert im Hinblick auf Kommunikationsprozesse als Resource für das, was in explizite Äußerungen eingeht; aber in dem Augenblick, wo dieses Hintergrundwissen in kommunikative Äußerungen eingehen würde, wo es zu explizitem Wissen und damit kritisierbar würde, verlöre es gerade (den Gewißheitscharakter,) den Hintergrundcharakter und den Nichthintergehbarkeitscharakter, den die Lebensweltstrukturen für ihre Angehörigen jeweils haben.“ – So bleibt letztlich wieder nur, die Ungenauigkeit im Ausdruck Habermas’scher Texte zu beklagen, die im 4. Teil thematisiert wird.

  • Hildesvin:

    Wie bin ich froh, ein Beta zu sein. Alphas müssen so schrecklich viel lernen…Und noch etwas, das nicht auf meinem Mist gewachsen: Aber er hat ja gar nichts an! – Hört die Stimme der Unschuld! Ein Drittes: Wer ist der, der den Ratschluß verdunkelt mit Worten ohne Verstand?
    — Des Kaisers neue Kleider paßt hier allerdings am besten.

  • ingres:

    Also ich habe mich mit theoretischen Aussagen von Habermas nur insoweit beschäftigt,
    als sie der Stützung seiner Ideologie dienten, dass er Habermnas über die kritische Methode verfüge um die Gesellschaft so zu erkennen, dass man sie zum Glück führe. Diesen Anspruch hat Habermas vom Marxismus übernommen und versucht hn philosophisch so zu verpacken, dass man dessen Vulgarität nicht bemerkt. Dessen Gefährlichkeit war er sich offenbar nicht bewußt oder wie auch immer. Im herrschaftsfreien Diskurs hat er dann ja ein Vehikel gefunden dioe Methiode zu bestimmen ohne sie zu explizieren. Das Problem des herrschaftsfreien Diskurses bleibt ja aber, dass er in Unfreiheit stattfinden muß: denn erst wenn er führbar ist, können ja die beglückenden Erkenntnisse gewonnen werden. Das die dann gewonnen Ergebnisse des Diskurses die Vertreibung aus dem Paradies rückgängig machen können sollen ist natürlich eine durch nichts begründete steile These die Habermas Mystizismus (vgl. seine Antrittsvorlesung „Erkenntnis und Interesse“ geschuldet ist, dass wir irgendwie der Natur nicht mit verfremdender Naturwissenschaft entgegentreten dürfen. Anscheinend soll der herrschaftsfreie Diskurs eben den für die Erkennnis der Befreiung falschen Szientismus ersetzen. Natürlich ist klar, dass der Diskurs von den Habermasschen Wünschen beherrscht wird und in den Diskurs das hineingesteckt wird, was als Wunschergebnis herauskommen soll. Soweit war und ist Habermas für mich beherrschbar. Seine theoretischen Ausführungen war ich nicht in der Lage zu verstehen. Sofern sie seine Befreiungsideologie untermauern sollen sind sie ja witzlos, da seine Ideologie ja genau so primitiv ist wie alle Heilslehren. Deshalb alle Achtung und vor gewaltigen Leitung, sich durch das Habermassche Denken tiefer hindurch zu kämpfen. Das hätte ich nie geschafft. In der FAZ wurde (um 2000 rum) mal darüber berichtet, das er wegen einer Hasenscharte „gedemütigt“ worden sei. Ich schrieb damals dazu, dass es zwar nicht in Ordnung sei, dass man so etwas mache, aber seine Thesen durchaus so verquollen sein wie seine Aussprache (so ähnlich) und das Habermas eigentlich seinen Verehrern erst deutlich werden könne, sobald und sofern sich seine Äußerungen in die deutsche Sprache übersetzen ließen. Und dass ich es merkwürdig fände, dass man ihm Preise verleihe und dabei so tue, als habe man irgendwas von ihm vertsanden. Jedenfalls, was das bei der Verleihung anwesende Auditorium beträfe.

  • ingres:

    Ach so, was ich vergaß. Eine wunderbare Zerpflückung von Habermas‘ „Erkenntnis und Interesse“ hat Nikolaus Lobkowicz, damals Präsident der Uni München) um 1968 rum abgeliefert (in einer philosophischen Zeitschrift). Habermas hat ja wohl keine den Szientismus ersetzende „kritische Methode“ für die Geisteswissenschaften angeben können und das dann am Ende in seiner Diskurs“theorie“ aufzulösen versucht.

  • ingres:

    Es gibt noch eine gute Charakterisierung von Habermas. Auch schon aus den 70-ern. Jemand bezeichnete Habermas damals als neune Eklektiker. Das ist so weit ich weiß jemand, der sich bei allen möglichen Anderen bedient und das zu seinem eigenen Brei verrührt. Das kann man als eine sehr gute Charakterisierung von Habermas ansehen, Die originäre Denkarbeit haben für ihn andere gemacht (*). Er hat sich durch die Bedienung bei diesen Geistesgrößen für seine Ideologie Reputaion verschafft und die echten Erkentnisse schwülstig zusammengerührt. Da der Schwulst unverständlich war hat jeder geglaubt, da wäre was hinter.
    (*) Man vgl. auch: Helmut Schelsky „Die Arbeit tun die Anderen“

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