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Der Kurs der Ukraine

von virOblationis

Gleicht es nicht fast der Szenerie einer Heldensage: Ein finsteres Drachenungeheuer hat eine schöne Prinzessin geraubt und hält sie in seinem Schloß gefangen. Die tapferen Ritter der Brüsseler Tafelrunde fordern vom Drachen, die Prinzessin freizulassen; eigentlich müßten sie zu ihrer Befreiung ausziehen und den Drachen erschlagen, doch sie beschränken sich darauf, dem zu Kiew hausenden Ungeheuer zu drohen; man fragt sich allerdings, womit sie ihren Worten Nachdruck verleihen wollen.

Nach dem Szenario der Heldensage wären die Rollen ganz eindeutig verteilt: Dort der finstere Janukowitsch, hier der West-Held als Lichtgestalt, wahlweise dargstellt durch Manuel Barroso oder einen seiner Mitstreiter. Doch die Wirklichkeit scheint wieder einmal differenzierter zu sein, als es die westliche Berichterstattung erwarten läßt.

Augenscheinlich unbezweifelbar, weil von keiner Seite bestritten, ist die Tatsache, daß eine gewaltige Menschenmenge gegen Janukowitsch, den Präsidenten der Ukraine, trotz winterlich-kalten Wetters auf die Straße geht, um für eine Öffnung des Landes gegenüber der EU, eine Anbindung an das westlich orientierte Europa zu demonstrieren. Deren Motiv scheint unschwer erklärlich: Die Wirtschaft der Ukraine ist international kaum wettbewerbsfähig; die Ursache dafür sei dahingestellt. Das Assoziierungsabkommen mit der EU, das noch nicht unterzeichnet wurde, dürfte der bisher exportorientierten ukrainischen Wirtschaft schwere Einbußen zufügen. Schon dies wird Janukowitsch mit seiner Unterschrift zögern lassen. Viele der Bürger hingegen scheinen auf finanzielle Hilfen aus der EU zu hoffen, was ihnen persönlich auch keineswegs zu verdenken ist. Im Rahmen der ökonomischen Situation der Ukraine, wie sie sich derzeit darstellt, wird eine Angleichung des Lebensstandards an den der EU-Länder kaum zu erwarten sein. Andererseits sollten die Erwartungen angesichts des furchtbaren Ausmaßes der Jugendarbeitslosigkeit in verschiedenen EU-Staaten nicht zu hoch gesteckt werden; Träume können sich auch als Schäume erweisen.

Was bei den Demonstranten auffällt: Ein dpa-Photo zeigt einige von ihnen, die gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei provoziert haben. Auffällig ist deren Bewaffnung, denn sie alle tragen Knüppel derselben Art. Spontane Bewaffnung dürfte anders aussehen. Also Provokateure; man fragt sich nur, welche Seite sie ausgesandt hat. Beide Seiten kommen in Frage: Janukowitsch mag einen Vorwand dafür suchen, den Ausnahmezustand zu verhängen, und der Westen mag bestrebt sein, seinen Worten indirekt doch noch den nötigen Nachdruck vor Ort zu verleihen.

Etwas mehr Licht ins Dunkel der politischen Vorgänge innerhalb der Ukraine vermag der Blick auf einen kürzlich geschlossenen Vertrag zu bringen: Nach einem entsprechenden Übereinkommen mit Shell hat Kiew Anfang November ein weiteres mit Chevron unterzeichnet; die beiden Erdölkonzerne des Westens sollen die Schiefergasvorkommen im Westen der Ukraine erschließen, da dem Land selbst dafür technische und finanzielle Mittel anscheinend fehlen. – Dies wird im Westen folgende Gedanken-Kaskade ausgelöst haben: Die Ukraine strebt bei der Energieversorgung als Rückgrat der Wirtschaft nach Unabhängigkeit von Rußland. – Zwei Erdölkonzerne als Vertreter des westlichen Großkapitals bilden die Vorhut zur ökonomischen Angliederung der Ukraine an den Westen bzw. die USA. – Die EU übernimmt die bei der ökonomischen und gesellschaftlichen Umstrukturierung der Ukraine anfallenden Kosten. – Zuletzt wird die Ukraine als Teil des Westens Mitglied der NATO.

Doch Präsident Janukowitsch scheint sich die Entwicklung anders vorzustellen: Mittels westlicher Erdölkonzerne will er die Abhängigkeit von Rußland bei der Energieversorgung überwinden. Mittels politischer Annäherung an Rußland will er die Vereinnahmung der Ukraine durch den Westen, sprich: die USA, verhindern.- Das Bedauern über das nicht zustande gekommene Assoziierungsabkommen mit der EU sollte sich demnach unter den EU-Bürgern, ins Besondere den deutschen, in Grenzen halten.

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