Die geistigen Wurzeln der Neuen Linken 1: Die Gleichheitsideologie
von virOblationis
Drei Artikel zur Entstehung der Neuen Linken sind von mir geplant. Zwei widmen sich den geistigen Wurzeln, der letzte der Bildung der Neuen Linken im Verlauf des 20. Jahrhunderts. – In dem nachfolgenden Artikel über die Gleichheitsideologie, der sich auf deren Entstehung im 18. Jahrhundert und die Folgen konzentriert, wird hin und wieder auf die Gegenwart vorausgeblickt, ohne dies weiter auszuführen; es geschieht nur, um anzudeuten, wie die weitere Entwicklung bis heute ausgesehen hat. Auch wird die Entstehung des Liberalismus berücksichtigt und dieser in seiner traditionellen Form dem Bürgertum zugewiesen, das die Gleichheitsideologie aufnahm, aber dann auf einen Aspekt beschränkte, während andere, in die Neue Linke mündende Strömungen die ausgegrenzten Aspekte der Gleichheitsideologie aufnahmen. Der letzte der drei Artikel soll die Enstehung der Neuen Linken als Pendant des Neoliberalismus zeigen.
Der Begriff „Liberalismus“ trat zuerst in Spanien auf. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatten napoleonische* Truppen weite Teile der Iberischen Halbinsel unter ihre Kontrolle gebracht. Im nicht besetzten Rest konstituierte sich eine – von England unterstützte – spanische Gegenregierung, die 1812 eine Verfassung proklamierte, die im Gegensatz zur früheren Herrschaft den Bürgern mehr Freiheit garantierte, denn man suchte natürlich deren Unterstützung im Kampf gegen die französischen Besatzer zu gewinnen. Nach der Rückkehr des spanischen Königs wurde die Verfassung von 1812 wieder außer Kraft gesetzt, doch damit begann ein mehr als zwei Jahrzehnte währender Kampf um ihre erneute Anerkennung (1814 – 1837), wobei sich die Anhänger der Verfassung von 1812 als „Los Liberales“, die Liberalen, bezeichneten.
* Napoleon (I.); 1799 – 1815; Kaiser seit 1804; gest. 1821
Lateinisch liber bedeutet frei, und in erster Linie meint der Liberalismus die Freiheit des Bürgers von absolutistischer Herrschaft. Aber daneben geht es um die Freiheit von all dem, was mit der Regierung gekrönter Häupter verbunden ist, also um Freiheit von den Traditionen, die bis dahin das gesellschaftliche Leben bestimmt haben. Statt dessen will man sich den Ideen der Aufklärung öffnen, die sich auf die Vernunft berufen; die christliche Offenbarung verstand sich traditionell im Sinne einer höheren Vernunft, die über die dem Menschen gegebene hinausgeht, aber nie im Widerspruch zu ihr stehen kann, da die Welt von ihrem Schöpfer, der göttlichen Vernunft, eine universelle rationale Ordnung empfangen hat. Diese Verbindung von Vernunft und Offenbarung war seit dem Spätmittelalter durch den Nominalismus erschüttert worden. Er suchte die Welt mit Hilfe der menschlichen Vernunft zu ergründen und wollte daneben die göttliche Offenbarung gelten lassen, die sich allein auf Autorität, nicht mehr auf das einsichtige Nachvollziehen berufen konnte. Wenn man die Fessel der so verstandenen Offenbarung sprengte, dann bildete doch die aufgeklärte Vernunft die einzige Institution, die berufen schien, das gesellschaftliche Leben zu ordnen; sollte ein höheres Wesen existieren, dann hatte es den Menschen gewiß dazu befähigt, sein Dasein vernunftgemäß und ohne göttliche Bevormundung zu gestalten.
Der Liberale sah sich demnach frei, die Ideen der Aufklärung zu übernehmen, das Leben im Staate danach zu bestimmen und alles Überlieferte abzuschaffen. So steht der Liberale der Tradition grundsätzlich feindlich gegenüber, zumindest aber gleichgültig; ist letzteres der Fall, mag der Liberale als Bundesgenosse des Konservativen erscheinen, wird es seiner Natur gemäß aber nie wirklich sein können. – Der Liberalismus läßt sich begreifen, wenn man ihn als Ideologie des Dritten Standes versteht, genauer des Bürgertums, das während der frühen Neuzeit nach der Vormacht strebt und sie während der Moderne innehat. Als dessen Vorläufer ist das Bauerntum anzusehen, das im Spätmittelalter und zu Beginn der Neuzeit – erfolglos – versuchte, die Adelsherrschaft abzuschütteln.
Je weiter der Liberalismus voranschritt und die überlieferte Lebensweise destruierte,* desto sichtbarer wurde der gesellschaftliche „Fortschritt“. Von einem solchen ließ sich sprechen in Analogie zu dem Fortschritt in Naturwissenschaft und Technik, der wiederum die ökonomische Entwicklung beflügelte. So war das liberal gesinnte Bürgertum des 19. Jahrhunderts von einem Fortschrittsoptimismus beseelt, der erst angesichts des massenhaften Sterbens während des 1. Weltkriegs (1914 – 1918) nachhaltig erschüttert wurde. Damit zugleich verlor die – von der Offenbarung losgelöste – Vernunft, die sich schon zuvor auf die meßbare Außenwelt beschränkt hatte,** den noch verbliebenen Rest ihrer Selbstgewißheit. – Damit hätte eigentlich auch das Bestreben, die gesellschaftlichen Verhältnisse nach eigenem Gutdünken zu ordnen, aufgegeben werden müssen, da ihm doch nun das philosophische Fundament fehlte, während sich der Sozialismus immerhin auf den Marxismus als seiner Meinung nach wissenschaftliche Grundlage berufen konnte. Da dem Liberalismus etwas Vergleichbares im 20. Jahrhundert fehlte, geriet seine Begründung mittels irgendwelcher Menschenrechte ohne Aufrechterhaltung des Verweises auf ein höchstes, dem menschlichen überlegenes Sein, être suprême, auf das sie sich zurückführen ließen, zur rein ideologischen Behauptung.
* Ein Hauptanliegen bildete die Beseitigung der religiösen Bindung des Gemeinwesens: Nur noch der einzelne sollte irgendeine Religion als Privatsache ausüben dürfen; vgl. dagegen „Immortale Dei (1885)“ Papst Leos XIII.
** Gemeint ist der Positivismus.
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Der Begriff Liberalismus ist zwar von liber, frei, abgeleitet, doch so etwas wie Singularismus – im Unterschied zum Sozialismus – wäre eigentlich noch treffender, denn die Grundlage für das Streben nach Freiheit und Fortschritt bildet das vom Liberalismus absolut gesetzte (bürgerliche) Individuum; philosophisch bildet dafür der Nominalismus die früheste Voraussetzung, da er nur individuelle Einzeldinge erkennt, keine Arten innerhalb einer allumfassenden kosmischen Ordnung.* Das menschliche Individuum befreit sich aus der Abhängigkeit von jeglicher Tradition mit Hilfe der ihm eigenen Vernunft.
* Der Protestantismus ist die nominalistische und danach liberale Form des Christentums mit lauter einzelnen Gläubigen, die sich unmittelbar zu Gott wähnen.
Wenn nun vom Liberalismus als der Ideologie des Dritten Standes, genauer des Bürgertums, die Rede ist, dann nicht etwa in dem Sinne, als wären Liberalismus und Bürgertum deckungsgleiche Größen. Vielmehr bildet das gesellschaftliche und ökonomische Wirken des Bürgers, ins Besondere in England, wo er seit der Glorreichen Revolution (1688 – 1689) politisch tonangebend ist, den Hintergrund liberalen Gedankengutes, das deshalb gerade im Bürgertum verbreitet ist. Im Zentrum liberalen Denkens steht das einzelne Individuum, vergleichbar dem selbstbewußten Büger innerhalb der neuzeitlichen Gesellschaft; es erscheint bezeichnend, daß der sel. Duns Scotus*, der am Beginn des spätmittelalterlichen Nominalismus steht, wahrscheinlich aus Schottland, jedenfalls aber aus dem Bereich der Britischen Inseln (aus dem Norden Englands, Schottland oder Irland) stammte.
* geb. wohl 1265/1266, gest. 1308
Die beiden französischen Aufklärer, die den Gedanken der natürlichen Gleichheit der Menschen entwickelten, de Condillac* und Helvétius**, küpften an das Werk eines Engländers an, und zwar an das John Lockes*** und an seinen Sensualismus. – Das französische Denken des 18. Jahrhunderts ist weniger vom entstehenden Liberalismus geprägt gewesen als vom cartesianische Rationalismus****, der seinerseits freilich auch den Nominalismus voraussetzt, indem er das einzelne Subjekt aus der Ordnung der intelligiblen Welt herauslöst, wonach es Gewißheit auf intellektuelle Weise durch sich selbst erlangt: „cogito, ergo sum“, ich denke, also bin ich. Den Ausgangspunkt des cartesianischen Rationalismus bildet das höchst abstrakte Subjekt, während Engländer wie Locke, philosophisch von der konkreten Wirklichkeit ausgehen und das Erkennen des Menschen empiristisch, d.h. aus der Erfahrung, erklären. Diese führt Locke auf Sinneswahrnehmungen zurück, und er schlußfolgert, daß der Mensch vor dem Beginn seines Wahrnehmens einer leeren Tafel, lateinisch tabula rasa, gleiche; solches hatte bereits die alte Stoa gelehrt. De Condillac und Helvétius nahmen dies auf, indem sie an Lockes Sensualismus anknüpfen; dabei übertrugen sie jedoch den abstrakten Gedanken der Gleichheit menschlicher Subjekte auf den natürlichen, konkreten Menschen, Lockes tabula rasa: Danach bringt erst das Leben in menschlicher Gesellschaft die Unterschiede zwischen den Menschen hervor.
* Étienne Bonnot de Condillac; geb. 1714, gest. 1780; hier: „Traité des sensations (1754)“
** Claude Adrien Helvétius; geb. 1715, gest. 1771; hier: „De l‘homme, de ses facultés intellectuelles et de son éducation (1773)“
*** geb. 1632, gest. 1704
**** René Descartes, latein. Cartesius; geb. 1596, gest. 1650
Rousseaus* Denken flankierte den Weg zur Vorstellung einer natürlichen Gleichheit. Zwar bestritt er diese in seinem „Discours sur l‘origine et les fondements de l‘inégalité parmi les hommes (1755)“, der Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen: Danach sind die Menschen von Natur aus frei und nicht böse, weil ihnen die moralischen Maßstäbe zur Beurteilung ihres Handelns fehlten; außerdem hätten die Menschen voneinander unabhängig gelebt, [und so blieb die natürliche Ungleichheit ohne Bedeutung]. Erst mit der Entstehung des Privateigentums kam es dann zur politischen Ungleichheit [innerhalb der menschlichen Gesellschaft].
* Jean-Jacques Rousseau; geb. 1712, gest. 1778
In „Du Contrat Social ou principes du Droit Politique (1762)“, Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechts, erklärt Rousseau im Anschluß an Lockes Konzeption eines Gesellschaftsvertrages die Entstehung des Gemeinwesens damit, daß die im Urzustand lebenden Menschen ihre natürliche Unabhängigkeit aufgaben, indem sie als rechtlich Gleiche um des Wohles aller willen einen Gesellschaftsvertrag schlossen; die natürliche Ungleichheit rechtfertigt danach nicht die Herrschaft des Menschen über den Menschen. – Mit dem Gemeinwohl wird hier nicht mehr entsprechend der Tradition ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Ständen bezeichnet, sondern die Gesamtheit aller einzelnen Individuen. Dem entspricht der Gemeinwille, volonté générale, der jeden einzelnen [totalitär] erfaßt. Die Familie gilt nach dem 1. Buch des „Gesellschaftsvertrages“ als früheste Form von Gesellschaft, der Vater steht an der Stelle des Herrschers im Staat: Bei den voneinander unabhängigen Menschen im Urzustand wird Rousseau demnach am ehesten an die Familienväter gedacht haben.
So fügte sich im Rahmen der französischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts zur These von der natürlichen Gleichheit diejenige vom natürlichen nicht bösen Wesen, also dem Gutsein des Menschen. Mußte danach der Naturzustand nicht als geradezu paradiesisch erscheinen, und mußte sich nicht die Frage aufdrängen, ob dies auf ewig verloren ist? Darüber hinaus ließ sich auch fragen, ob sich nicht das Gutsein des Menschen von selbst einstellen müßte, wenn man die Gleichheit wiederherstellt. Da die Ungleichheit auf den gesellschaftlichen Verhältnissen beruht, müßte man die Gesellschaft zerstören, um den Urzustand wiederherzustellen: Hier hat der Liberalismus der Moderne, also des 19. und 20. Jahrhunderts, seine Wurzeln. – Sogar in die Ausläufer der christlichen Religion fand der Gleichheitsgedanke Eingang. So wird in einer bestimmten deutschen Ausgabe des Neuen Testaments Röm. 2, 11, „Es ist nämlich bei (dem) Gott nicht Parteilichkeit“, d.h. es gibt bei Gott kein Ansehen der Person, wiedergegeben mit „Denn vor Gott sind alle Menschen gleich“. Dies geschieht in „Das lebendige Buch. Hoffnung für alle“, der – auf Grund kostenloser Verteilung – am weitesten verbreitete deutschspachigen Ausgabe des Neuen Testaments, herausgegeben von der International Bible Society*. Tatsächlich geht es in der betreffenden Perikope jedoch darum, daß alle Menschen vor Gott schuldig sind und daß der dem Alten Bund Angehörende in dieser Hinsicht dem als Heiden Geborenen nichts voraus hat. Die alle voneinander verschiedenen Menschen sind gleich nur in bezug auf ihre Teilhabe an der menschlichen Natur sowie in bezug auf die Erbsünde; letzteres wird in Röm. 5 ausgeführt. Man hätte also, wenn man den Text schon so frei wiedergibt, schreiben müssen: „Denn vor Gott sind alle Menschen gleich schuldig.“
* Die „International Bible Society“ wurde 1809 von vermögenden Wiedertäufern als „New York Bible Society“ gegründet.
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Nach den Neuwahlen im Sommer 1792, erzwungen durch den Sansculotten-Aufruhr, der im Sturm auf die Tuilerien gipfelte, schloß sich der Marquis de Condorcet* den gemäßigten Girondisten an; zuvor hatte der bekannte Philosoph und Mathematiker de Condorcet in der Nationalversammlung sogar eine Zeit lang als Parlamentspräsident amtiert (Februar 1792). Nachdem die bedeutendsten Girondisten von den Jakobinern – mit Hilfe eines erneuten Sansculotten-Aufruhrs – entmachtet und unter Hausarrest gestellt worden waren (Juni 1793), tauchte de Condorcet in Paris unter, da man ihn festnehmen wollte (Oktober 1793). Als ihm im März des folgenden Jahres die Verhaftung drohte, floh er aus der Stadt, wurde aber bald festgenommen. De Condorcet verstarb unter ungeklärten Umständen noch vor seinem Prozeß und der gewiß danach erfolgten Hinrichtung im März 1794.
* Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet; geb. 1743, gest. 1794
Wie de Condillac und Helvétius zählte auch de Condorcet zu den Anhängern des Sensualismus. Auch er sah den Menschen vor Beginn der Sinneswahrnehmungen als tabula rasa an. Mit den Erfahrungen zugleich setze ein Lernprozeß ein. Da aber die Lernfähigkeit des Menschen unbegrenzt sei, vermöge er dadurch in einem gesellschaftlichen Prozeß unendlichen Fortschritts die Ungleichheit schließlich zu überwinden. – Das von de Condorcet formulierte (1785) und nach ihm benannte Paradoxon zeigt, daß er die Menschen als gewissermaßen mathematische Größen begreift: Wenn Person A [in einer Abstimmung] über Person B siegt, Person B aber über Person C, dann schlußfolgert die Mathematik, A müsse die Oberhand auch über C erlangen; doch im konkreten Leben kann es eben anders sein.
De Condorcet versteht die Gleichheit als eine rechtliche; anders als der ganz überwiegende Teil seiner Zeitgenossen schließt de Condorcet die Frauen davon nicht aus, sondern plädiert dafür, auch ihnen dieselben Bürgerrechte wie den Männern zuzuerkennen, da sie dieselben geistigen Fähigkeiten besäßen. – Da de Condorcet von der natürlichen Beschaffenheit des Menschen abstrahiert, gelingt es ihm, die biologische Ungleichheit zwischen den Geschlechtern in Gleichheit umzudeuten, die sich zuerst in der rechtlichen Gleichstellung niederschlagen soll, aber damit keineswegs enden dürfte. Daß man am Ende des 20. Jahrhunderts das biologische Geschlecht zum sozialen Konstrukt erklären würde, konnte er gewiß nicht voraussehen; dennoch hat dies seine Grundlage schon in de Condorcets Auffassung von der Gleichheit.
Aber auch den Unterschied des Lebensalters vermag man inzwischen nicht mehr zu begreifen, so daß das deutsche Bundesarbeitsgericht 2012 urteilte, die tarifliche Vereinbarung eines längeren Urlaubs für ältere Werktätige verstoße gegen das Diskriminierungsverbot. – Ebenfalls zur Gleichheit vor dem Gesetz gehört es, daß man die Kinder nicht nach Erwachsenenrecht aburteilen will. So muß umgekehrt jeder Erwachsene nachsichtig wie ein Kind von seinen Richtern beurteilt werden; danach reicht keine menschliche Verkommenheit mehr hin, um eine Todesstrafe zu verhängen. Ungleich werden nur die Gegner der Gleichheits-Ideologie behandelt: Die Untaten solcher Haßverbrecher werden nicht nur unnachsichtig bestraft, sondern auch jenseits des justitiablen Bereiches durch soziale Ausgegrenzung diskriminiert, und davor schützt auch geringes oder höchstes Alter kaum.
Das Lebensalter macht Junge und Alte ungleich und verschieden in ihrer natürlichen Verfassung. Auch Männer und Frauen sind in biologischer Hinsicht nicht gleich, aber deshalb nicht etwa von höherer und niedrigerer Natur. Dies läßt sich mit Hilfe der menschlichen Vernunft zwar anerkennen, aber nicht beweisen. Es gehört zur biblischen Offenbarung, wonach beide, Mann und Frau, an der Gottebenbildlichkeit teilhaben;* dies schließt Über- und Unterordnung im familiären Zusammenleben freilich nicht aus.**
* Gen. 1, 26f.
** Gen. 3, 16
Vergleichbar mit der Frage nach dem Geschlecht ist die nach der Race des Menschen. Es lassen sich nach der Herkunft verschiedene Grundtypen unterscheiden. Diese Racen sind verschieden, aber nicht von höherer und niedrigerer Natur. Auch dies läßt sich mit Hilfe der menschlichen Vernunft nur anerkennen, nicht beweisen. Es gehört ebenfalls zur biblischen Offenbarung, nach der alle Menschen ihren gemeinsamen Urprung in einem ersten Menschenpaar haben.* Eine Gleichheit der Racen, die statt der natürlichen Gleichwertigkeit eine nicht vorhandene Verschiedenheit behauptet, widerspricht – wie die entsprechende Ideologie in bezug auf Mann und Frau – der Erfahrung; sie tut der Vernunft Gewalt an.
* Gen. 4
Die von der französischen Revolution im Anschluß an die vorangegangene Aufklärung postulierte Gleichheit ließ sich schwerlich auf den rechtlichen Aspekt begrenzen: Schon die Forderung derselben Bürgerrechte für Frauen verwies auf die biologische Dimension und warf die Frage nach der Gleichheit aller Menschen auf. – Wenn man bei der natürlichen Gleichheit der Menschen ausschließlich an Männer französischer Herkunft dachte, war diese Behauptung schon schwierig genug nachzuvollziehen angesichts der konkreten Realität. Aber Frankreich war eine Kolonialmacht: Die Gleichheit der Menschen von Natur mußte nicht nur beide Geschlechter umfassen, sondern letztlich universal verstanden werden, doch die gesamte Verschiedenartigkeit der Völkerschaften ausschließlich auf gesellschaftliche Verhältnisse zurückzuführen, widersprach der Erfahrung.
Daher ist es gar nicht erstaunlich, daß eine Art Gegenentwurf zur Ideologie der Gleichheit entstand, der Racismus. Er ging über die traditionelle Auffassung von der Verschiedenheit der Menschen hinaus und behauptete einen unterschiedlichen Wert der einzelnen menschlichen Racen. – Der bedeutendste Vertreter eines solchen frühen Racismus war Joseph Arthur de Gobineau*. Er formulierte in seinem „Essai sur l‘inégalité des races humaines (1853 – 1855; dtsch. Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen, 1898 – 1901)“ sozusagen die Antithese zur biologischen Gleichheit. Darin unterschied de Gobineau eine weiße, eine gelbe und eine schwarze Race entsprechend den drei Söhnen Noes (bzw. Noahs) samt Gattinnen, deren Kinder nach der Sintflut die Erde bevölkerten.** Die weiße Race setzte Gobineau mit der [Sprachen-]Gemeinschaft der [Indoeuropäer bzw.] Arier gleich und schrieb ihnen alle zivilisatorischen Leistungen zu; demnach mußte die Vermischung mit den Angehörigen der anderen beiden Racen zum kulturellen Niedergang führen: Mit Hilfe dieser Konzeption suchte de Gobineau den von Revolutionen erschütterten Verlauf der Geschichte seit 1789 zu erklären.
* geb. 1816, gest. 1882
** Gen. 9, 18 – 10, 32
Seine vermeintlich wissenschaftliche Grundlage empfing der Racismus durch Darwins* Evolutionstheorie. Dessen „On the Origin of Species“, Über den Ursprung [der] Arten, erschien 1859. Danach bilden die Arten der Lebewesen keine voneinander unabhängigen Größen, sondern werden als jüngere und ältere Stationen einer biologischen Gesamtentwicklung betrachtet, in die auch der Mensch gehöre. Wenn der Mensch sich aber aus niederen Formen entwickelt haben sollte, konnte seine jetzige Form keinen Endzustand darstellen, sondern strebte nach Höherem, zum Übermenschen hin. Den durfte man in der Zukunft erwarten, oder man suchte ihn schon in der Gegenwart, indem man eine existierende Gruppe von Menschen als bereits vorhandene höherwertige master race, Herrenrace, ausgab; andere konnten dem gegenüber als Untermenschen abqualifiziert werden.
* Charles Darwin; geb. 1809, gest. 1882
Parallel zum Racismus entwickelte sich der des Antisemitismus. Bemühungen der englischen Calvinisten, der Puritaner, hatten im 17. Jahrhundert zu einer Annäherung von Juden und Protestanten geführt und zur Erlaubnis für Juden, sich in England wieder niederzulassen, von wo sie im 13. Jahrhundert vertrieben worden waren. Im Laufe des 18. Jahrhunderts erließ auch Preußens calvinistisches Herrscherhaus ein Reglement, das die Generalprivilegierung vermögender Juden vorsah (1750). Die eigentliche Judenemanzipation, nämlich die Gleichstellung der Juden als Staatsbürger, setzte im Gefolge der Französischen Revolution ein, die zugleich das Recht autonomer Verwaltung ihrer Synagogengemeinden verloren (1791). Andere Staaten ahmten dies nach, auch die deutschen; im Zarenreich erhielten die Juden allerdings erst 1906 ein eingeschränktes Wahlrecht. – Die jüdischen Gemeinden begrüßten die rechtliche Gleichstellung keineswegs einhellig, da sie befürchten mußten, durch Assimilation zu verschwinden. Bis dahin hatten sie sich gerade auch durch ihre Abgrenzung von der Umwelt erhalten. Auf der anderen Seite beschwor die Judenemazipation eine Feindschaft ganz neuen Typs herauf: Während die Synagogengemeinden in der christlichen Gesellschaft einen geduldeten Fremdkörper gebildet hatten, sollte nun Gleichheit herrschen. Da der Liberalismus zugleich die Religion zur Privatangelegenheit erklärte, fiel jegliche Unterscheidung weg, wenn ein Jude den Glauben verlor wie ein Christ; beide waren nur noch atheistisch gesonnene Staatsbürger. Die kulturelle Prägung durch die religiöse Überlieferung wurde ignoriert, obwohl sie fortwirkte. In dieser Situation bot der neu aufgekommene Racismus* eine Lösung an: Man konnte sich die Unterschiede zwischen den Juden und den übrigen Staatsbürgern mit Hilfe der Annahme einer Zugehörigkeit zu zwei verschiedenen Racen erklären; dies entsprach in gewisser Weise auch der im Judentum seit dem Spätmittelalter vorherrschenden Auffassung, nach der man sich als einzigartiges Volk unter den übrigen verstand.** Der alte Gegensatz zum Judentum, ja traditonell in manchen Kreisen verwurzelte Judenfeindschaft, vermochte nun einen wissenschaftlichen Ausdruck anzunehmen, indem man die Juden einer minderwertigen Race zuordnete. So entwickelte sich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Antisemitismus.
* De Gobineau hatte die Juden noch zur weißen Race und damit zu den Ariern gerechnet.
** Diese frühe Form eines Nationalismus knüpfte an den Auserwählungsgedanken an, der schon im antiken Judentum dazu geführt hatte, die Heiden als Gojim abzuwerten.
Der bedeutendste Theoretiker des Racismus um 1900 war der aus England stammende Schriftsteller Houston Stuart Chamberlain*, der sich seit 1870 immer wieder in Deutschland aufhielt, wo er unter den Einfluß Richard Wagners geriet. 1889 ließ sich Chamberlain in Wien nieder, und zehn Jahre später veröffentlichte er „Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (1899)“, worin er die Germanen als kulturschöpferische Race dem Judentum als einer zweiten reinen Race gegenüberstellte; außer ihnen herrsche Menschenchaos. Chamberlain greift auf Gobineaus [Indo-]Arier zurück, die er mit den Germanen identifiziert, welche er allerdings nicht ausschließlich in den Deutschen wiederfindet, sondern auch in Engländern und Franzosen sowie in jedem, der sich in seinem Verhalten als Germane bewährt; das Keltentum und das Slawentum gliedert Chamberlain – von einigen Ausnahmen abgesehen – als verwandt dem Germanischen an. Dem Heiland spricht Chamberlain die judaeische Herkunft ab, und der katholischen Kirche unterstellt er, nicht-arische Interessen zu verfolgen. – Wilhelm II.** schätzte das Urarisch-Germanische in Chamberlains Werk und der us-amerikanische Präsident Theodor Roosevelt*** die Deutung des Christentums durch den in Deutschland lebenden Schriftsteller.
* geb. 1855; gest. 1927
** 1888 – 1918
*** 1901 – 1909
Ins Besondere im angelsächsichen Sprachraum verbreitete sich das Gedankengut des auf Darwin gegründeten Racismus und führte zu Vorstellungen von Racenhygiene und Menschenzüchtung sowie ab etwa 1900 zu staatlich betriebener Eugenik, die der natürlichen Selektion nach Darwin entsprechen sollte; dies führte u.a. zu Zwangssterilisationen. – Das protestantische Skandinavien folgte solchem Vorbild erst ab 1929, Deutschland unter nationalsozialistischer Herrschaft ab 1933: Doch beschränkte sich die NS-Regierung nicht auf die Eugenik im bis dahin praktizierten Rahmen, sondern ging mit Euthanasie und Maßnahmen zur Züchtung einer reinen Arierrace sowie der Vernichtung anderer weit darüber hinaus.
Um zu zeigen, wie verbreitet die Vorstellung von Menschenzüchtung und Übermenschen zwischen den Weltkriegen im angelsächsischen Sprachraum war, sei als Beispiel auf zwei Autoren von Zukunftsromanen verwiesen. H. G. Wells* beschreibt in „Men like Gods (1923; dtsch. Menschen Göttern gleich, 1927)“ die Zukunft, in die Menschen aus der Gegenwart versetzt werden. Die – nach Wells‘ Auffassung – bessere Zukunft, die von den schlechten Menschen der Gegenwart bedroht wird, ist durch Erbgutmanipulation [innerhalb der weißen Race] erreicht worden; auch die natürliche Umwelt ist dabei verändert worden, indem man schädliche Arten ausgerottet und fleischfressende Tiere zu Vegetariern umgezüchtet hat. Neben Wells sei Huxley** genannt. Seine „Brave New World (1932; dtsch. Welt – wohin, 1932 bzw. Wackere neue Welt, 1950, unter dem Titel Schöne Neue Welt ab 1953)“ beschreibt eine Gesellschaft, in der Menschen für verschiedene Zwecke als höherbefähigte und niedere Arten gezüchtet werden. – Von der Biologie wurden solche Vorstellungen auch auf die Soziologie übertragen. In diesem Zusammenhang ist auf Trotzki*** zu verweisen. Er erwartete, daß die klassenlose Gesellschaft so etwas wie die master race hervorbringen würde. Trotzki kündigte in „Literatur und Revolution (1923)“ den „Übermenschen“ an, the „superman“, wie es in der englischen Übersetzung von 1925 heißt, „einen höherstehenden gesellschaftlich-biologischen Typus“, so die deutsche Übersetzung von 1924. In der englischen Ausgabe lauten die Schlußsätze: „Man will become immeasurably stronger, wiser and subtler; his body will become more harmonized, his movements more rhythmic, his voice more musical. The forms of life will become dynamically dramatic. The average human type will rise to the heights of an Aristotle, a Goethe, or a Marx. And above this ridge new peaks will rise.“ [Der] Mensch wird unermeßlich stärker, weiser und scharfsinniger werden; sein Körper wird harmonischer, seine Bewegungen rhythmischer und seine Stimme musikalischer werden. [Seine] Lebensäußerungen werden lebhaft-pathetisch sein. Der durschnittliche Menschentypus wird sich zu der Höhe eines Aristoteles, eines Goethe oder eines Marx erheben, und über diesem Höhenrücken werden sich neue Gipfel erheben.
* Herbert George Wells; geb. 1866, gest. 1946
** Aldous Huxley; geb. 1894, gest. 1963
*** Leo Trotzi, eigentl. Lew Dawidowitsch Bronstein; geb. 1879, gest. 1940
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De Condorcet sprach sich nur für die Bürgerrechte der Frauen aus. Darüber hinaus ging die Schriftstellerin Olympe de Gouges,* wahrscheinlich die uneheliche Tochter eines gebildeten Adligen. Auch sie forderte die Bürgerrechte für Frauen und kritisierte zugleich Ehemoral und Scheidungsrecht; vor allem aber trat sie zugleich für die Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien ein wie außer ihr nur wenige, unter ihnen der Marquis de La Fayette**. Dieser floh als Anhänger einer konstitutionellen Monarchie 1792 aus Frankreich. Olympe de Gouges, die den Girondisten nahestand, wurde bald nach deren Entmachtung verhaftet, da sie anonym ein Flugblatt veröffentlicht hatte, in welchem sie eine Volksabstimmung über die Staatsform forderte, einen republikanischen Zentralstaat, Bundesstaat oder eine konstitutionelle Monarchie. Nach mehrmonatiger Haft wurde sie im November 1793 als angebliche Royalistin hingerichtet.
* eigentl. Marie Gouze; geb. 1748, gest. 1793
** Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette; geb. 1757, gest. 1834
Olympe de Gouges steht am Beginn der Frauenemanzipationsbewegung, doch zugleich verweist ihr literarisch-politisches Engagement mit der Sklaverei auf die soziale Lage des Vierten Standes außerhalb Frankreichs; innerhalb des Landes herrschte zwar keine Sklaverei, doch die Armut ins Besondere der ungelernten Manufacturarbeiter warf die Frage nach dem ökonomischen Aspekt der Gleichheit neben dem rechtlichen und dem biologischen auf. – Unter den ungefähr 24 Millionen Franzosen am Ende des 18. Jahrhunderts zählte man etwa 600.000 Arbeiter; hinzu kamen Knechte, Mägde und Handwerksgesellen, lauter Beschäftigte an Produktionsmitteln, die nicht ihnen selbst gehörten. Etwa 90% der Bevölkerung lebte auf dem Lande, und ein beträchtlicher Teil davon wird aus dauerhaft oder zeitweise in Dienst genommenen Hilfskräften der Bauernfamilien bestanden haben; hinzu kamen die Handwerksgesellen, die für ihren Beruf ausgebildet waren, aber keinen eigenen Familienbetrieb leiteten. Wenn man den Vierten Stand ins Gesamt betrachtet, dann wird ihm mindestens die Hälfte der Bevölkerung Frankreichs angehört haben, auch wenn die Zahl der Manufacturarbeiter noch verschwindend gering war.
Das englische Bürgertum mochte im 18. Jahrhundert ein Vorbild für das französische darstellen, das ebenfalls nach der Vorherrschaft in der Gesellschaft strebte. Der Vierte Stand Frankreichs vermochte dies kaum nachzuvollziehen; wenn er nach einer Verbesserung der Lage strebte, dann war es kaum realistisch, darauf zu hoffen, daß einmal alle ihm Angehörenden ebenso wie die des Dritten Standes würden leben können, zumindest nicht so lange dieser existierte. Also mußte das Ziel darin bestehen, dem Dritten Stand seinen Besitz zu nehmen. Als Vorbild für solche Forderungen konnten die Bauern des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit dienen: Deren Aufstände suchten, den Ersten und den Zweiten Stand abzuschaffen: Wenn schon nicht alle ein priviligiertes Leben führen konnten, dann sollte es keiner. Den Anspruch der Bauern auf gesellschaftliche Vormacht sowie die Legitimität ausschließlich des Dritten Standes brachte John Ball* auf die Formel: „When Adam dalf und Eve span, / Who was then the gentleman?“*, Als Adam grub und Eva spann, / Wer war da der Edelmann? – John Ball war ein Anhänger John Wyclifs,** der zu den Vorreformatoren gezählt wird. Ebenso beriefen sich die aufständischen deutschen Bauern im frühen 16. Jahrhundert auf die Reformatoren: Auch wenn Luther*** sich in schärfster Form von ihnen distanzierte, läßt sich die Verbindung zwischen aufbegehrendem Dritten Stand und Protestantismus kaum übersehen.
* Formulierung John Balls; gest. 1381
** geb. 1324, gest. 1384
*** Martin Luther; geb. 1483, gest. 1546
Die Interessen des Vierten Standes wurden während der Französischen Revolution von der Bergpartei vertreten. Ihren Kern bildeten die Jakobiner, radikale Vertreter des Bürgertums im Unterschied zu den gemäßigten Girondisten. Im Unterschied zu diesen berücksichtigte die Bergpartei ebenso die Interessen des Vierten Standes, und die bewaffneten Sansculotten bildeten ihre Bürgerkriegsarmee, mit deren Hilfe sie 1792 Neuwahlen erzwingen und 1793 die Girondisten entmachten konnten. Zugleich bemühten sich die Jakobiner, die politische Macht nicht an die Sansculotten zu verlieren; so wurde deren Anführer, der abgefallene Priester Jacques Roux*, nach der Entmachtung der Girondisten verhaftet. Man versuchte, den Forderungen der Sansculotten nachzukommen und beschloß im Februar 1794 die Festsetzung von Mindestlöhnen, nachdem im Jahr zuvor bereits die Maximum-Gesetze erlassen worden waren; sie diktierten Höchstpreise für die Güter des täglichen Bedarfs. Als aber durch die Ventôse-Dekrete vom Februar / März 1794 das Besitztum von emigrierten oder verhafteten Revolutionsgegnern bedürftigen „Patrioten“ übereignet werden sollte, wuchs der Widerstand im Nationalkonvent so stark an, daß die Ventôse-Dekrete nicht in Kraft gesetzt wurden und die Herrschaft der Jakobiner um Robespierre** und Saint-Just*** im Sommer 1794 ihr gewaltsames Ende fand.
* geb. 1752, gest. 1794; noch vor seiner Hinrichtung brachte er sich im Gefängnis selbst um.
** Maximilien de Robespierre; geb. 1758, gest. 1794
*** Loius de Saint-Just; geb. 1767, gest. 1794
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Im Bürgertum vermochte sich das Ideal der Gleichheit nur in beschränktem Maße durchzusetzen. Den ökonomischen Aspekt nahmen die Sozialisten als Ideologen des Vierten Standes auf, den biologisch-rechtlichen die Frauenemanzipationsbewegung. Das liberale Bürgertum beschränkte die Gleichheit auf diejenige vor dem Gesetz. Dem entsprechend definierte die sog. Direktoriumsverfassung von 1795 den ersten Artikel der Erklärung der Bürger- und Menschenrechte vom 26. August 1789, wonach „les hommes“, [alle] Menschen bzw. Männer, frei und gleich an Rechten geboren und dies auch bleiben würden. – Gegenwärtig wird selbst die rechtliche Gleichheit preisgegeben, wenn das Grundgesetz als antifaschistische Verfassung interpretiert wird, wonach auch „Ausnahme[n] vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze“ zulässig sind, so das Bundesverfassungsgericht 2010, wofern sie Ansichten betreffen, die man dem Nationalsozialismus zuordnet. Darum wurde die Weltanschauung im Bereich des Zivilrechtsverkehrs (§19 – 21) aus dem Entwurf des „Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (2006)“ auch gestrichen, damit sich nicht Rechtsradikale im Falle ihrer Benachteiligung darauf berufen können. Demnach gilt das Grundrecht der Meinungsfreiheit nicht mehr für jeden Bürger in gleicher Weise, sondern abhängig von seiner Weltanschauung, denn wer eine von der Justiz als rechtsradikal eingestufte Meinung vertritt, hat indirekte Sanktionen in Form von Benachteiligung hinzunehmen.
Der Liberalismus hat sich in den Neoliberalismus verwandelt. Während er zu Beginn Freiheit für die Bürger forderte, dient er jetzt als Ideologie der Angehörigen des Dritten Standes, die als Leiter von Großkonzernen und -banken das Bürgertum so weit degradiert haben, daß seine Lage kaum besser ist als die der Werktätigen. An die Stelle des freien Unternehmers ist der hochbezahlte Funktionär einer Aktiengesellschaft als einer Profitmehrungsmaschine getreten. Ein neuerrechter Liberalismus propagiert den Markt, der jedoch nicht mehr vom Wettbewerb, sondern von Monopolen beherrscht wird, und ein linker Nachfolger des Liberalismus setzt sich für das Wohlergehen eines Ochlos aus sozial Deklassierten und nicht assimilierbaren Fremdstämmigen ein. So ergänzen sich Neokonservative bzw. Neoliberale und Neue Linke. Die Reste liberal gesinnten Bürgertums sammeln sich abseits davon im Lager der Libertären.
Es ist vielleicht nicht ganz ohne Interesse, daß das lateinische „liberalis“ so viel wie „angeheitert“, „betrunken“ bedeutet.
„In dem nachfolgenden Artikel über die Gleichheitsideologie … wird hin und wieder auf die Gegenwart vorausgeblickt …“
Hierzu vielleicht ein paar behutsame Einwände:
(1) „Ebenfalls zur Gleichheit vor dem Gesetz gehört es, daß man die Kinder nicht nach Erwachsenenrecht aburteilen will.“
Heute müsste man mehr noch formulieren, dass man Jugendliche und Heranwachsende nicht nach Erwachsenenrecht aburteilen will. Besonders grotesk ist die Entwicklung des Regelfalls, den „Heranwachsenden“ (also juristisch eigentlich „Erwachsenen“) nach Jugendstrafrecht zu behandeln, eine Praxis, die von kaum einem Experten problematisiert wird. Entsprechend muss man (echte) Jugendliche im deutschen Jugendstrafvollzug mit der Lupe suchen.
(2) Auch die Bemerkung zur „menschlichen Verkommenheit“ rekurriert offenbar auf einen älteren Rechtszustand. Heute wird man formulieren müssen, dass keine menschliche Verkommenheit das Urteil einer (tatsächlich)lebenslangen Freiheitsstrafe rechtfertige. Kaum ein Politiker wird von unseren humanitaristischen Intellektuellen so häufig und so abfällig zitiert wie der SPD-Kanzler G. Schröder, der gewisse Täter noch „für immer“ weggeschlossen haben wollte. Bei Rudolf Hess scheint das keinen erkennbar gestört zu haben. Aber für den war die deutsche Justiz ja nicht zuständig.
Man wird hier (immer noch, wenngleich tendenziell nachlassend) freilich einen deutlichen Unterschied zwischen europäischer und US-amerikanischer Sanktionspraxis konstatieren müssen. Und dies führt dann zu der Frage, ob sich unsere europäischen pönalen Eigenarten tatsächlich mit der Entfaltung der Gleichheitsideologie erklären lassen.
(3) Als Konservativer „mit liberalen Eselsohren“ fragt man sich natürlich hin und wieder, ob man sich nicht wider Willen auch im trügerischen Gespinst der Gleichheitsideologie verfangen muss, wenn man „konsequent“ bleibt. Ein Kollege, dem ich meine Verwunderung darüber äußerte, dass ein uns bekannter prominenter „Altliberaler“ sich nun für Homoehe plus Adoptionsrecht in die Schanze werfe, kommentierte in bedächtigem Tonfall, dies sei nun eben ein „konsequent zu Ende gedachter Gedanke“. Er musste selber grinsen, denn der Gedanke, wenn er denn konsequent genannt werden darf, ist noch lange nicht „zu Ende“. Martin Lichtmesz meint ja in seinem gerade veröffentlichten Artikel „Ruhepuls am Abgrund“, man habe es mit einem „hegelianischen Vervollkommnungsprinzip“ zu tun, sodass etwa auch die Gleichheitsideologie „aus sich selbst einen moralischen und hypermoralischen Vollzugszwang“ schaffe. Nichts gegen Hegel oder Lichtmesz, aber solche deterministischen Hypothesen sind leicht behauptet. Es ist doch so: Während beispielsweise GLBT-Lobbyisten, denen Sigmund Freud noch einen Platz auf seiner Couch empfohlen hätte, auf Rechtsgleichheit pochen, wird sie an anderer Stelle — Sie haben Beispiele erwähnt — eifrig unterminiert (durch rechtsphilosophisch kontigente Gesichtspunkte!) oder deutlicher: zerstört. Mit einem Vervollkommnungsprinzip oder einem konsequent zu Ende gedachten (Gleichheits-)Gedanken kann ich das nicht in Einklang bringen.
… soll heißen: … kontingente Gesichtspunkte … 🙂
@ Theosebeios
zu 3) Sie haben völlig recht: In unserer Zeit schließlich verlassen diejenigen, die die Gleichheit noch im Munde führen, ihre Grundsätze. Das Bürgertum hat seine führende Stellung in der Gesellschaft verloren, und der Liberalismus zerfällt. – Wo die Gleichheit propagiert wird, läßt sich dahinter oft ein anderes Prinzip ausmachen: Wenn eine Wissenschaftssenatorin meint, Männer fördern zu müssen, wenn sie unterrepräsentiert sind, und dafür angegriffen wird (und einknickt), dann spricht man zwar von Gleichstellung, meint aber, daß die Verhältnisse tatsächlich auf den Kopf gestellt werden sollen. Mit dem dahinter stehenden Prinzip befaßt sich der zweite Teil der geistigen Wurzeln der Neuen Linken: Das manichäische Denken.
Auf Umwegen bin ich auf Ihren Artikel „Aufruhr in deutschen Städten?“ (2011) gestoßen. Da die Kommentarfunktion dort ausgeschaltet ist, erlaube ich mir an dieser Stelle wenige Sätze, die überdies zum Kontext Neue/Nächste Linke passen. Ihren Thesen stimme ich voll und ganz zu. In der Kubitschek-Zeitschrift wird man vermutlich im neuen Jahr ein paar ergänzende Beiträge dazu lesen können.
Warum es in N.Y. Anfang der 1990er keine Unruhen gab, wohl aber in L.A, hat neben der Black-Panther-Tradition (mithin also einem verfestigten linksradikalen Untergrund) noch eine wichtige weitere Ursache. Einmal fehlte der(notwendige) zündende Funke, das erwähnten Sie.
Und schließlich kam Bratton.
Mit 66 ist er jetzt erneut NY-Polizeichef geworden. L.A. hatte ihn (lange nach den Unruhen) auch eine Weile. In London hatte es mit seinem Engagement nicht geklappt. (Die Herrschaften ahnten sehr wohl, was ihnen blühen könnte!)
Man darf gespannt sein, was Bratton tun wird, zumal er auf das höchst erfolgreiche „stop and frisk“ verzichten muss. Nachdem der Tag nicht mehr (wie ehedem) mit einer Schusswunde begann, befanden die „Bürgerrechtler“, stop and frisk gehe zu weit. B. (und das von ihm favorisierte Konzept) ist nicht nur fast allen Linksintellektuellen, sondern auch manchen Rechten ein Dorn im Auge. Es zeigt nämlich, wie man unter den gegebenen Verhältnissen erfolgreich Kriminalität bekämpfen kann und eben nicht in ihr untergehen muss.
Ob es in deutschen Städten Aufruhr geben kann? Gewiss, aber eher“Micky-Maus-Rabatz“ à la Rote Flora, wo sich kriminelle und politische Motive eng verbinden. Oder wie beim Kurdenfest in Mannheim (2012), über das jetzt ein ‚erschütterter‘ Polizeiführer seine Erfahrungen veröffentlichen durfte. Eine plausible Erklärung findet sich übrigens im Buch von SPD-Bezirksbürgermeister Buschkowski. Aber das führte nun wirklich zu weit!
Ein gutes neues Jahr, virOblationis, und weitere erhellende Analysen!
Th.
@ Theosebeios
Ihnen und allen übrigen Lesern auch von mir: Ein gutes Jahr 2014!
Ein kleiner Kommentar zu Ihrem Kommentar:
„Diese frühe Form eines Nationalismus knüpfte an den Auserwählungsgedanken an, der schon im antiken Judentum dazu geführt hatte, die Heiden als Gojim abzuwerten.“
Die Bezeichnung „Goj“, bzw. „Gojim“ ist keineswegs abwertend gemeint. – Er bedeutet einfach nur „Angehöriger der Völker“, bzw. „Volk“, „Völker“. – Er wird in der jüdischen Bibel jedoch oft als zur Unterscheidung des Volkes Israel von den anderen Nationen verwendet. – An einer Stelle wird er aber auch für das Volk Israel selbst angewandt.
@ Jude
Die Bedeutung des Begriffs „Goj“ hat sich im Laufe der Jahrhunderte gewandelt. Anfangs bezeichnete er schlicht das „Volk“, später aber das „Heidenvolk“.
Im Talmud gibt es zwar vereinzelt freundliche Aussagen über Nicht-Juden, vor allem von Tannaiten des 1. Jahrhunderts (R. Johanan, R. Jehoschua‘). Mit Blick auf das Gesamtbild fällt dies jedoch kaum ins Gewicht; danach ist der Sinn der Gojim auf Unzucht, Blutvergießen und Götzendienst ausgerichtet, s. Strack-Billerbeck, Kommentar zum NT aus Talmud und Midrasch IV,1 15. Exkurs.
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