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Kranker Mann am Bosporus

von virOblationis

Gegenwärtig ist in unseren Medien immer wieder von einem Korruptionsskandal innerhalb der Türkei die Rede: Es wurden bereits mehrere Minister entlassen; ermittelt wird nämlich gegen deren Söhne. Erdogan, der sich ebenfalls wegen eines seiner Söhne sorgen muß, erklärt das ganze Geschehen zum internationalen Komplott und sucht die Ermittlungen nach Kräften zu behindern. – So stellen es jedenfalls unsere Medien dar. Doch vieles, was nebenher gemeldet wurde oder gemeldet wird, weist darauf hin, daß es sich bei den Vorgängen in der Türkei um Aspekte eines sehr viel komplexeren Problems handelt, von welchem Deutschland sogar unmittelbar betroffen bzw. heimgesucht werden könnte, wenn sich alles so weiter entwickelt wie bisher.

Zunächst einmal fällt auf, daß der gegenwärtig in der Türkei herrschende politische Streit bereits der zweite innerhalb eines einzigen Jahres ist. Im vergangenen Sommer erlebte Istanbul die Auseinandersetzungen um den Gezi-Park. Der Anlaß für die Auseinandersetzungen war also äußerlich betrachtet ein ganz anderer, doch schien es seiner Zeit bemerkenswert, daß ein einziges Bauprojekt eine Bewegung hervorrief, die sich grundsätzlich gegen den Kurs der Regierung stellte. Die Bebauung des Gezi-Parkes bildete nur den Anlaß für Gegner des Erdogan’schen Islamisierungskurses, sich zu sammeln und in die Öffentlichkeit zu treten; die Frage danach, welche politischen Kräfte diese Bewegung trugen, wäre erst nach einer tiefergehenden Analyse zu beantworten und soll hier ausgeklammmert werden.

Erdogans Partei, die AKP, wird im Wesentlichen von zwei islamischen Bewegungen getragen, von den Anhängern Fethullah Gülens und den Angehörigen des Milli-Görüs-Bundes. Langjähriger Repräsentant von Milli Görüs war Necmettin Erbakan (geb. 1926, gest. 2011), der 1996 bis 1997 als Ministerpräsident der Türkei amtierte. Er suchte die Türkei weg von der NATO und hin zu einer zu schaffenden Gemeinschaft islamischer Länder zu führen. Nach seinem Sturz verschwand Erbakan in der politischen Bedeutungslosigkeit. Die islamische nationalistisch-türkische Bewegung Milli Görus (vgl. ihre ideologische Nähe zu den nationalistischen türkisch-islamischen „Grauen Wölfen“ der MHP) war als politischer Faktor zwar nicht mehr zu ignorieren, doch den Interessen der USA im Nahen Osten nicht adäquat. So entstand 2001 die Partei der AKP, in der sich die Milli Görus mit der Gülen-Bewegung verband; Gründer der Partei war Erbakans politischer Ziehsohn Tayyip Erdogan (geb. 1954). Doch nicht Erdogan wurde 2002 erster AKP-Ministerpräsident, sondern Abdullah Gül (geb. 1950). Er vermochte den Erwartungen der USA aber nicht gerecht zu werden, wie sich vor dem Beginn des Iraq-Krieges 2003 zeigte. So wurde er durch Erdogan abgelöst, der den USA so weit wie damals möglich entgegen kam, indem er das türkische Parlament dazu brachte, den Luftraum des Landes für die US-Kampfflugzeuge zu öffnen. – Der zweite Träger der AKP ist die Gülen-Bewegung. Deren Oberhaupt, Fethullah Gülen (geb. 1941), der – als politischer Gegner Erbakans –  die grundsätzliche Vereinbarkeit des türkisch-islamischen Nationalismus mit dem westlichen Gesellschaftsmodell behauptet, residiert in dem US-Bundesstaat Pennsylvanien, und die CIA hält wohl ihre schützende Hand über ihn; jedenfalls erscheint es bezeichnend, daß Erdogan, der sich in der politischen Nachfolge Erbakans von den USA abzuwenden beginnt, zugleich (nämlich seit der Aussendung der Gaza-Hilfsflotte 2010 durch die der AKP nahe Organisation IHH) in einen Gegensatz zu Gülen geraten ist. Erdogans NeoOsmanismus führte zu einer Übereinkunft mit dem Iran zur Versorgung der Türkei mit Erdgas und zu einem Raketengeschäft mit China. So droht die Architektur der US-Herrschaft im Nahen Osten ein weiteres tragendes Element zu verlieren, nachdem es bereits nicht gelang, Ägyptens Präsidenten Mursi im Amt zu halten, und der Krieg gegen Syrien nicht stattfand, was die Position Saudi-Arabiens als Führungsmacht der sunnitischen Araber, Sachwalter der Interessen der US-Erdölindustrie und Garant der Existenz des Staates Israel, erheblich schwächte; Saudi-Arabien reagierte darauf mit einer Annäherung an Rußland. Die USA wiederum nähern sich dem Iran an, und der revanchierte sich offenbar mittels Verhaftung des persischen Partners der Türkei im Erdgas-Geschäft.

Es sind aber nicht die Machtinteressen islamischer Religion und internationaler Politik allein, in deren Fallstricken sich Erdogan verfangen hat. Hinzu kommt die zunehmend desolatere ökonomische Lage der Türkei. Was als Tigerstaat am Bosporus gefeiert wurde entpuppt sich als Wirtschaftswunder auf Pump. Bis zu Erdogans Regierungsantritt war die Verschuldung der Türkei gering; seither steigt sie rasch an. Auch die USA wirtschaften auf Pump, doch sie sind eine Weltmacht, deren frischgedrucktes Geld in aller Welt als Zahlungsmittel noch immer begehrt ist. Die türkische Lira hingegen verliert nun rasch an Wert. – In dieser Situation wird ein Abkommen mit der EU geschlossen, daß stufenweise die visa-freie Einreise von Türken gestattet. Wenn man diese Meldung nicht isoliert betrachtet, erschießt sich ein tieferer Sinn dieses Abkommens: Offenbar soll ein Ventil geschaffen werden, durch das ein Abfluß kritischen Potentials aus der Türkei ermöglicht werden soll; als Gegenleistung hält man den EU-Bürgern einen Wurstzipfel vor Augen. Auf diese Weise will man anscheinend verhindern, daß die Türkei irgendwann zusammenbricht, wenn ihre Grenzen undurchlässig blieben. Doch wenn der Überdruck zu rasch entweicht, wenn sich eine Explosion ereignet, dann wird vor allem dasjenige Land davon heimgesucht werden, in dem bereits eine große Anzahl von Auslandstürken lebt.

Ach, ginge es in der Türkei doch tatsächlich nur um einen Korruptionsskandal!

 

3 Kommentare zu „Kranker Mann am Bosporus“

  • Ganz ähnlich – wenn auch etwas offener „konspiratiologisch“ – schätzte ich vor ein paar Tagen die Lage in der Türkei ein. Zumal dahingehend, dass es eben nicht nur – eigentlich wohl gar nicht wirklich – um einen Korrutionsskandal gehe.

    http://unzensiert.zeitgeist-online.de/2013/12/26/erdogan-opfer-zionistischer-verschworung/

    Es fehlt nur noch, dass die Gegner Erdogans grüne Fahnen mit orangenen Punkten schwenken.

    So blöd wird man aber wohl nicht sein.

    Erdogan hat einfach einen zu großen Topf aufs türkische Feuer gestellt. Er hätte es sich mit Israel bzw. den Zionisten einfach nicht so grob verderben dürfen.

    Ob die USA sich im Sinne ihres EU-Türkeibeitrittsprojektes zur Schwächung Europas nun aber einen Gefallen tun, indem sie den „Sultan“ runterputzen, ist noch sehr unklar, eher gar unwahrscheinlich.

    Man kann eben nicht immer alles gleichzeitig haben. Nicht einmal, dass Moslems immer so und dabei noch brav so sind, wie sie das sein sollen.

  • Unke:

    In diesem geschichtlichen Abriss fehlt m.E. die Lage der Türkei Anfang der 90er. Die Hauptprotagonistiin hieß m. W. Tansu Ciller.
    Das war die Zeit in der ausgewiesene Mörder Provinzgouverneure wurden etc. Damals machten sich bekanntlich die Turkregionen der ehemaligen UdSSR selbständig; eine wilde Zeit.
    All das wäre m.E. noch zu berücksichtigen, wollte man die heutige Türkei verstehen.
    Schließlich noch das Verhältnis der Türkei zu Arabern: bekommen türkische Islamisten Geld von den Saudis? Wenn ja, mit welchem Kalkül?

  • @ Unke

    Sehr gute Frage, die nach dem Geld von den Saudis (Qatar, meine Hinzufügung) an türkische Islamisten. Früher waren die Türken Herrscher, heute haben ein paar Araber richtig viel Asche.
    Sie müssen nicht auf Pump leben, so wie doch wenigstens vergleichsweise die Türkei.

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