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Die Entstehung der Neuen Linken 5a: Das Erscheinen der Neuen Linken (erster Teil)

von virOblationis

Nachdem sich Roosevelts* Neue Weltordnung international durchgesetzt hatte, entstanden zwei Machtbereiche, der sog. Westen und der Ostblock; 1949 wurde die NATO** gegründet, 1955 die Warschauer Vertrags-Organisation, der Warschauer Pakt; den Anlaß dafür bildete die Einbeziehung der BRD in die NATO (1955). Als West und Ost während des Kalten Krieges in einen immer schärferen Gegensatz zueinander gerieten, fand sich die Sozialdemokratie mit ihrem Versuch, parlamentarische Demokratie und Sozialismus zu verbinden, zwischen die Fronten wieder, denn die parlamentarische Demokratie gehörte zum Westen, den real existierenden Sozialismus repräsentierte der Osten. Dort beseitigte man die Sozialdemokratie kurzer Hand; so wurden 1946 in der Ostzone die bereitwilligen Genossen der SPD*** in die bolschewistisch dominierte SED**** integriert und die Widerstrebenden aus dem politischen Leben entfernt.

* Franklin D.[elano] Roosevelt; geb. 1882, gest. 1945

** North Atlantlic Treaty Organization, Nordantlantik-Pakt-Organisation

*** Sozialdemokratische Partei Deutschlands

**** Sozialistische Einheitspartei Deutschlands

Im Westen beriefen sich nur noch die kommunistischen Parteien auf den Marxismus, während die Sozialdemokratie auf die Aufhebung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln grundsätzlich verzichtete und sich auf die Bekämpfung der Beherrschung des Marktes durch Monopole sowie die Vergrößerung des Wohlstands der Werktätigen beschränkte; m.a.W. sie ersetzte die auf parlamentarisch-demokratische Weise zu verwirklichende Vergesellschaftung der Produktionsmittel und damit den Marxismus durch die Ideologie des New Deal, ins Besondere den der zweiten und dritten Phase (1935 – 1939). Dieser Prozeß vollzog sich in der BRD während der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Zuvor hatte die SPD unter Kurt Schumacher* noch an der Forderung nach Aufhebung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln festgehalten, zumindest mit Blick auf Großbetriebe; damit sollte sichergestellt werden, daß die Wirtschaft dem Gemeinwesen dient, nicht das Gegenteil. Neben der Industriearbeiterschaft suchte Schumacher auch das übrige schaffende Volk für die SPD zu gewinnen, um so eine breite Front gegen das Großkapital herzustellen.

* Kurt Schumacher; geb. 1895, gest. 1952; Partei- und Fraktionsvorsitzender 1949 – 1952

Nach Schumachers Tod übernahm der mit ihm persönlich vertraute Ollenhauer den Vorsitz in Partei- und Bundestagsfraktion.* Auch unter Ollenhauer trat die SPD weiter für Wiedervereinigung mit der DDR ein und für Neutralität, d.h. die Preisgabe der exklusiven Westbindung der BRD. Doch als die CDU/CSU** in den Bundestagswahlen von 1957 die absolute Mehrheit errang, mußte Ollenhauer es hinnehmen, daß ihm drei Modernisierer als stellvertretende Fraktionsvorsitzende an die Seite gestellt wurden; dabei hatte auch die SPD 1957 Stimmengewinne verzeichnet. Bei diesen dreien, die ihr Vorgehen während gemeinsamer Morgenmahlzeiten abstimmten und deren Verbund deshalb „Frühstückskartell der SPD“ genannt wurde, handelte es sich um Carlo Schmid und Fritz Erler sowie das ehemalige KPD-Mitglied Herbert Wehner;*** mit ihnen in bestem Einvernehmen stand Willy Brandt, seit 1957 Regierender Bürgermeister von [West-]Berlin.**** Von den Modernisierern wurde ein neues Programm konzipiert, das auf einem Parteitag zu Bad Godesberg im November 1959 beschlossen wurde und das die Abkehr vom Marxismus vollendete.

* Erich Ollenhauer; geb. 1901, gest. 1963; Partei- und Fraktionsvorsitzender 1952 – 1963

** Christlich Demokratische Union / Christlich Soziale Union

*** geb. 1896, gest. 1979 / geb. 1913, gest. 1967 / geb. 1906, gest. 1990; KPD: Kommunistische Partei Deutschlands

**** eigentl. Herbert Frahm; geb. 1913, gest. 1992; Bürgermeister [West-]Berlins 1957 – 1966; Parteivorsitzender 1964 – 1987; Bundeskanzler 1969 – 1974

Das Godesberger Programm der SPD nennt keine grundsätzliche Infragestellung des privaten Eigentums an Produktionsmitteln, sondern will stattdessen eintreten für den „freien Markt, wo immer wirklich Wettbewerb herrscht“ („Stetiger Wirtschaftsaufschwung“) und gegen dessen Ausschaltung durch die „Großwirtschaft“; nur gegen diese gerichtet wird „Gemeineigentum“ noch als Möglichkeit erwogen („Eigentum und Macht“). Ganz im Sinne des New Deal wird „stetig wachsender Wohlstand“ [für alle] gefordert („Wirtschafts- und Sozialordnung“); so soll jeder in die Lage versetzt werden, ein „eigenes Vermögen bilden [zu] können“ („Einkommens- und Vermögensverteilung“). Zusammenfassend spricht der abschließende Abschnitt „Unser Weg“ von „einer neuen Ordnung politischer und persönlicher Freiheit und wirtschaftlicher Sicherheit und sozialer Gerechtigkeit“. Ein liberales Ideal der Verwirklichung jedes einzelnen zeichnet der Abschnitt „Grundwerte des Sozialismus“, wobei die Frauen den Männern gleichberechtigt sein sollen („Frau – Familie – Jugend“). Auf „letzte(n) Wahrheiten“ wird verzichtet („Grundwerte des Sozialismus“) und den Kommunisten vorgeworfen, den Sozialismus „verfälscht“ zu haben („Grundforderungen für eine menschenwürdige Gesellschaft“). Bereits in der „Einleitung“ wird die Neue bzw. us-amerikanische Weltordnung beschrieben: Frieden und Demokratie für alle Welt; „jenseits von Not und Furcht“ heißt es – unter Anspielung auf Roosevelts zwei utopische Freiheiten vom 6. Januar 1941* – ausdrücklich, und der Schlußabschnitt „Unser Weg“ bekräftigt dies mit den Worten: „frei von Not und Furcht, frei von Krieg und Unterdrückung“. Der Abschnitt „Internationale Gemeinschaft“ umschreibt dasselbe durch „Frieden…und…Freiheit“. Dabei hat Deutschland auf „atomare und andere Massenvernichtungsmittel“ zu verzichten („Landesverteidigung“); hinzuzufügen wäre, daß allein die USA legitimen Anspruch auf solche haben. – Einige Abschwächungen ließen das Programm wohl vielen traditionsverbundener erscheinen als es gemeint war: Die Verschiedenheit der Geschlechter wird ausdrücklich anerkannt („Frau – Familie – Jugend“), und von der Familie heißt es, daß eine menschenwürdige Wohnung ihre „Heimstätte“ sei („Soziale Verantwortung“); die „Erziehungskraft der Familie“ wird anerkannt, die der Staat zu fördern und nur „notfalls zu ersetzen“ habe („Frau – Familie – Jugend“ ). Sogar dem Volk werden Ansprüche auf Bewahrung der Eigentümlichkeit zugestanden durch „das Recht aller Menschen auf ihre Heimat, ihr Volkstum, ihre Sprache und Kultur.“ („Internationale Gemeinschaft“)

* s. Die Entstehung der neuen Linken 1: Roosevelts New Deal

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Durch die Interkontinentalraketen, d.h. die direkte gegenseitige Bedrohung von USA und UdSSR, trat ein militärischer Bedeutungsverlust für die beiden deutschen Staaten ein, und für die DDR kam ein massiver ökonomischer Bedeutungsverlust durch Abwanderung qualifizierter Arbeitskräfte hinzu; mittelfristig gefährdete dies die Existenz der DDR. Beide Defizite suchte man im Osten zu kompensieren, einerseits ideologisch, indem man mit Hilfe der in Ost-Berlin lagernden Akten, die man in die gewünschte Form brachte, um sie für Schmutzkampagnen zu gebrauchen, durch die die Kontinuität der BRD, d.h. die der eigenen Landsleute jenseits der Demarkationslinie, mit dem Dritten Reich bewiesen werden sollte,* so daß die DDR als das der Anti-Hitler-Koalition der Siegermächte eigentlich entsprechende, bessere Deutschland dastünde. Als Maßnahme andererseits zur ökonomischen Stabilisierung erbat man in Moskau die Erlaubnis zum Bau der Berliner Mauer. – Übrigens versteht sich auch die wiedervereinte restdeutsche Republik nach laut höchstrichterlichem Urteil von 2009 als Staat, der gegründet ist auf eine Antifa-Verfassung, auf einen „Gegenentwurf“ zu dem „sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrecht(s) und (des) Schrecken(s)“ der „nationalsozialistische[n] Herrschaft“. Deshalb brauchen Gesetze nicht mehr unbedingt allgemein zu sein; es sind nämlich solche ausgenommen, die als „Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze“ der „propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft Grenzen setzen…“ – Das angeführte Zitat weist darauf hin, daß sich das höchste bundesdeutsche Gericht Adornos** im US-Exil entwickeltes Verständnis von „Auschwitz“ als einzigartigem Geschehen*** zu eigen gemacht hat.

* Inzwischen wird solches in der BRD selbst betrieben: Außenminister Joseph „Joschka“ Fischer (1998 – 2005) von der Partei der Grünen ließ ab 2005 durch eine Historikerkommission eine Studie erstellen, die 2010 unter dem Titel „Das Amt und die Vergangenheit“ erschien und nachzuweisen suchte, daß das Auswärtige Amt an der systematischen Judenvernichtung beteiligt war und danach in personeller Kontinuität in der BRD weiterwirkte.

** eigentl. Theodor Wiesengrund; geb. 1903, gest. 1969

*** s. Die Frankfurter Schule 4: Adorno

Der Reiseverkehr zwischen den Westzonen war ab 1946 von Beschränkungen befreit worden, nicht aber derjenige zwischen ihnen und der Ostzone, so daß nach der Gründung von BRD und DDR die innerdeutsche Grenze auf der Demarkationslinie zwischen Westzonen und Ostzone verlief. Innerhalb Berlins jedoch war der Wechsel von einem Sektor in den anderen recht einfach. Dies änderte sich schlagartig durch die Errichtung einer Mauer samt Grenzanlagen zwischen Westsektoren und Ostsektor in den frühen Stunden des 13. August 1961.

Die Westmächte unternahmen nichts gegen die Abriegelung der DDR, da sie die Rechte über das von ihnen besetzte deutsche Terrain nicht verletzte. Erst zwei Jahre später reiste Präsident Kennedy nach West-Berlin und hielt dort seine berühmte Rede, in welcher er ausrief: „Ich bin ein Berliner.“ Damit sollte den geographisch isolierten West-Berlinern nachträglich versichert werden, daß sie auf die Hilfe der USA vertrauen dürften wie zu Zeiten der Blockade West-Berlins (1948 – 1949). Freilich schloß dies die Ost-Berliner aus, so daß die Spaltung der Deutschen diesseits und jenseits der Grenze auch damit noch vertieft wurde.

Zugleich zeigte die ausbleibende Reaktion des Westens auf den Mauerbau in Berlin, daß sich dort zwar eine Nahtstelle zwischen Ost und West befand, der aber keine entscheidende Bedeutung mehr zukam: Die Kubakrise war weit gefährlicher als der Mauerbau und zeigte, daß (das geteilte) Deutschland nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens stand. – Nach dem Umsturz auf Kuba hatte sich dort ein Regime etabliert, das die Nähe Moskaus suchte. Da die USA damit begannen, Atomraketen in der Nähe der sowjetischen Grenze auf dem Boden der Türkei aufzustellen, ließen die Sowjets im Gegenzug Raketenbasen auf Kuba errichten. Präsident Kennedy* fordete ultimativ, dies einzustellen, doch Parteichef Chrustschow** gab erst nach, als die USA sich bereit erklärten, Kuba nicht noch einmal (wie 1961 mittels der Invasion von Exil-Kubanern in der Schweinebucht) anzugreifen und in einer geheimen Absprache darüber hinaus zusicherten, die Raketen aus der Türkei abzuziehen; so brachte die „Kuba-Krise“ (1962) die Welt an den Rand eines Atomkrieges.

* John F.[itzgerald] Kennedy; 1961 – 1963; geb. 1917, gest. 1963

** Nikita Chrustschow; Generalsekretär der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 1953 – 1964

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1959 hatte sich in der BRD eine neue Aera angekündigt: Am Heiligen Abend jenes Jahres war die Kölner Synagoge mit antisemitischen Parolen verunstaltet worden. Die Polizei ermittelte die – wohl von Ost-Berlin angestifteten – Täter, zwei Angehörige der DRP*; sie wurden abgestraft. – Aber damit war die Geschichte keineswegs vorüber. Ganz im Gegenteil: In den Massenmedien brach ein Sturm der Entrüstung los, und allerorts wurde sozusagen eine Wiederaufnahme der 1951 abgeschlossenen Entnazifizierung (unter eigener Regie) gefordert. Dies zeigt einerseits, wie stark inzwischen die von den US-Amerikanern nach Kriegsende installierte Medienelite war, denn sie vermochte die von der CDU/CSU getragene Regierung vor sich herzutreiben, obwohl CDU und CSU in den Bundestagswahlen 1957 eine absolute Mehrheit erreicht hatten; an die Stelle des Antitotalitarismus war der Antifaschismus in Roosevelt‘scher Tradition getreten. 1963 mußte der durch die von Ost-Berlin betriebene Denunziation belastet erscheinende Staatssekretär Globke** zurücktreten wie vor ihm Vertriebenenminister Theodor Oberländer***, nachdem er in einem DDR-Schauprozeß in Abwesenheit zu lebenslangem Zuchthaus wegen angeblicher Kriegsverbrechen verurteilt worden war (1960).

* Deutsche Reichs Partei

** Hans Globke; Staatssekretär 1953 – 1963; geb. 1898, gest. 1973

*** Vertriebenenminister 1953 – 1963; geb. 1905, gest. 1998

In der BRD wußten konservative Kreise nicht anders zu reagieren, als indem sie selbst eine Fortführung der Entnazifizierung forderten, was ihnen aber nicht half, da sie von Anfang an in einem schlechten Licht standen. Selbst Bundespräsident Lübcke* bekannte sich 1965 zu einer „Bereitschaft zur Selbstreinigung“, doch nützte es ihm nichts: Mittels in Ost-Berlin gefälschter Akten wurde Lübcke einerseits als Architekt von KZ-Gebäuden mit Anwürfen überhäuft, andererseits mit – wie sich Jahrzehnte später herausstellte – erfundenen Zitaten als demente Witzfigur verhöhnt.

* Heinrich Lübcke; Bundespräsident 1959 – 1969; geb. 1894, gest. 1972

Ab Ende der fünfiger Jahre waren die Abkömmlinge Roosevelts in Politik und Medien der BRD stark genug, in Zusammenarbeit mit den Kommunisten Ost-Berlins den Konservatismus in die Zange zu nehmen: Es hatte sich eine Koalition gleich der der Alliierten im Kriege gebildet, nur daß sie nicht mit Schußwaffen und Bomben, sondern mittels Rufmord Existenzen vernichtete. Auch eine anti-katholische Dimension nahm dies an, da man nach dem Tode Pius XII.*, der hunderttausenden von Juden das Leben gerettet hatte, gerade diesem Papst Passivität und damit indirekte Unterstützung des NS-Regimes bei dessen Judenverfolgung vorwarf.

* 1939 – 1958

1952 hatte Bundeskanzler Adenauer* im Bundestag gesagt, man solle nun Schluß machen mit der „Naziriecherei“: Er hätte sich wohl kaum vorstellen können, daß sechzig Jahre später noch immer nach ihnen geschnüffelt wird. – 1963 bis 1965 fand als früher Höhepunkt der erneut begonnenen Entnazifizierung der erste Auschwitzprozeß statt, und der darin agierende hessische Generalstaatsanwalt, der jüdisch-deutsche Jurist Fritz Bauer**, bemühte sich erfolgreich darum, dies zu einer volkspädagogischen Unterrichtseinheit aufzubereiten; 1952 war Bauer noch damit gescheitert, aus dem Prozeß gegen Otto Ernst Remer*** eine „Lehrstunde für das Volk“ zu machen. Doch inzwischen hatte der Eichmann-Prozeß in Jerusalem stattgefunden (1961 – 1962), der der Entnazifizierung eine internationale Dimension sowie größten Aufschwung verlieh.

* Konrad Adenauer; Bundeskanzler 1949 – 1963; geb. 1876, gest. 1967

** geb. 1903, gest. 1968; im schwedischen Exil gab er zusammen mit Willy Brandt die „Sozialistische Tribüne“ heraus.

*** geb. 1912, gest. 1997; Remer hatte die Attentäter des 20. Juli 1944 als Hoch- und Landesverräter bezeichnet.

Nach der Entführung Eichmanns* aus Argentinien hatte Horkheimer** 1960 geschrieben: „Was immer Eichmann in Israel geschehen wird, beweist die Ohnmacht, nicht die Macht der ihres Rechtes bewußten Juden, die Anmaßung, nicht die Bekundung staatlicher Autorität.“ – In der BRD begannen die jungen Leute, sich von den Eltern als kollektiv schuldiger Tätergeneration abzuwenden, um selbst als gerecht erfunden zu werden; die extremste Form gewann diese Haltung in der RAF* und ihrem Kampf gegen die gesamte Gesellschaft ab 1970.

* Adolf Eichmann; geb. 1906, gest. 1962; Eichmann hatte die Deportationen in die Konzentrationslager organisiert.

** Max Horkheimer; geb. 1895, gest. 1973

*** Rote Armee Fraktion

Angesichts der machtpolitischen Konstellation in der BRD der frühen sechziger Jahre erscheint es konsequent, daß sich die CDU/CSU nach dem Rücktritt Adenauers verstärkt dem Liberalismus zuwandte und den den USA ganz ergebenen Protestanten Ludwig Ehrhard* zum Nachfolger Adenauers bestimmte; drei Jahre später ging man mit der SPD die Große Koalition von 1966 ein. Die konservativen Überreste innerhalb der CDU/CSU sind inzwischen dekorative Elemente, die man vor Wahlen öffentlich ausstellt, um dadurch mehr Stimmen einzusammeln. – Hinzu kam während der ersten Hälfte der sechziger Jahre die Verdunklung der Wahrheit durch das II. Vaticanum (1962 – 1965) und am Ende der sechziger Jahre die Ersetzung des überlieferten Ritus der hl. Messe durch ein dem Protestantismus weitgehend kompatibles Kunstprodukt (1969). Damit brach eine Phase größter Verwirrung in Kirche und Gesellschaft an, die anti-traditionellen Bewegungen den Erfolg leicht machte.

* Bundeskanzler 1963 – 1966; geb. 1897, gest. 1977

Der Konservatismus im westlichen Teil Europas, allen voran der deutsche, brach während der sechziger Jahre weitgehend zusammen, und von jenseits des Atlantik war weder Verständnis noch Hilfe zu erwarten, da die USA kaum eine vor die Aufklärung geschweige denn vor die Reformation zurückreichende Geschichte hatten; dem Konservatismus fehlte dort die Basis. Bei dem sog. us-amerikanischen Konservatismus, das erkannten schon die „Studies in Prejudice I“ der Berkeley-Gruppe, handelte es sich um ein die demokratischen Traditionen der Vereinigten Staaten bejahendes Phänomen, grundsätzlich verschieden von dem europäischen Konservatismus mit seiner Nähe zum autoritär-faschistoiden Charakter.*

* s. Die Frankfurter Schule 1d: Geschichtlicher Überblick (vierter Teil)

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Ab 1962 herrschte also ein von beiden Weltmächten stillschweigend anerkanntes Patt. Um eine direkte Konfrontation zu vermeiden, begnügte man sich mit dem Ausfechten eines Stellvertreterkrieges. Nachdem die Vietnamesen die französischen Kolonialherren im Nordteil des Landes besiegt hatten (1954), wurde das Land entlang der Linie des 17. Breitengrades geteilt. Wie im Falle Koreas schloß sich der Nordteil dem Ostblock an, der Südteil dem us-amerikanisch geführten Westen. Da Süd-Vietnams Regierung unter wachsenden Druck der eigenen Bevölkerung geriet, sahen sich die USA dazu veranlaßt, das Regime zu stützen, um eine Beteiligung der Kommunisten an der Regierung und damit eine Vereinigung beider Landesteile innerhalb des Ostblocks zu verhindern. 1964 hatte sich die Lage so zugespitzt, daß die USA unter dem Vorwand, eines ihrer Schiffe sei von Nord-Vietnamesen angegriffen worden*, direkt in den Krieg eingriffen wie zuvor in Korea (1950 – 1953). Doch im Falle Vietnams verfehlten sie ihr Ziel der Erhaltung eines westlich orientierten Teilstaates. Die USA und Nord-Vietnam schlossen 1973 das Pariser Vietnam-Abkommen, und danach beschränkten sich die USA wie vor 1964 auf die Unterstützung Süd-Vietnams durch Geld und Waffenlieferungen; doch 1975 unterlag Süd-Vietnam endgültig dem Norden.

* sog. Zwischenfall im Golf von Tonkin

Der Vietnam-Krieg ist von konstitutiver Bedeutung gewesen für das geschichtliche Hervortreten der Neuen Linken. – In den USA versammelten sich als Gegner des Vietnam-Krieges die mit dem Ostblock sympathisierende Linken sowie „progressive“ US-Demokraten, auch Amtsträger. Neben heimgekehrten Soldaten gehörten vor allem viele Studenten dazu und einige ihrer Professoren, so Herbert Marcuse*, der dem Geschehen eine tiefere Bedeutung gab: Hier wurde nicht bloß ein Stellvertreterkrieg ausgetragen, sondern es kämpfte ein Kolonialvolk um seine Freiheit; ohne die Kolonialvölker könne es nirgend eine Revolution geben, denn sie und nicht das Proletariat bildeten in Marcuses Augen das revolutionäre Subjekt. Indem man die Vietnamesen durch Ablehnung der us-amerikanischen Intervention indirekt unterstützte, beförderte man letztlich die Weltrevolution. Die alte koloniale Weltordnung und damit die Vorherrschaft des Europäers wie die des WASP**, also die des weißen Mannes, sollte auf den Kopf gestellt werden.

* geb. 1898, gest. 1979; er lehrte von 1965 bis 1969 an der Kalifornischen Universität San Diego (University of California, San Diego).

** White Anglo-Saxon Protestant

In dem zum Westen gehörenden Teil des kontinentalen Europa stellten den Kern der Gegner des Vietnam-Krieges die ganz allgemein zum Aufruhr geneigten Studenten und jungen Intellektuellen, die durch den Schwenk der sozialistischen Parteien zum New Deal ideologisch heimatlos gewordenen waren, während sich die Werktätigen mit der Vergrößerung des Wohlstendes als politischem Programm zumeist recht zufrieden zeigten. In der BRD war der SDS* von der SPD 1961 ausgeschlossen worden, und man hatte eine neue sozialdemokratische Studentenorganisation gegründet; Marcuse aber lehrte seit 1965 auch in West-Berlin. – Der Springer-Verlag übernahm eine Zeit lang die Rolle eines bundesdeutschen Konservativen, weshalb die Studentenrevolte Ende der sechziger Jahre forderte: „Enteignet Springer!“

* Sozialistischer deutscher Studentenbund

Es ließ sich im Westen Europas sogar eine Kulturrevolution ähnlich der maoistischen (1966 – 1976) beginnen, da der Konservatismus zusammengebrochen war und den jungen Revolutionären, die den Roten Garden gleich Reaktionäre – zumindest an den Hochschulen – ausfindig machten und sie öffentlich terrorisierten, kaum jemand ernsthaft Widerstand entgegensetzte. In den USA gab es während der sechziger Jahre in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens ein Aufbegehren gegen die soziale Ordnung und insofern etwas den west-europäischen Studentenunruhen Vergleichbares, doch sah man sich dort weit weniger veranlaßt, auf ein chinesisches Vorbild zu verweisen, war man doch vertraut mit der Tradition manichäischer Umkehrung von Verhältnissen. – So erscheint schemenhaft durch die fernöstliche Maskierung west-europäischer Linker hindurch das us-amerikanische Vorbild, anfangs nur dort, später auch in Europa unterstützt von Seiten der Obrigkeit durch affirmative action, d.h. die Privilegierung von „Minderheiten“, so bald die politische Kraft der Linken solches durchzusetzen vermochte. Damit bemühte sie sich, ihre Umkehrungen als neue, endgültige und damit einzig legitime Definition des politisch und moralisch Akzeptablen innerhalb des Feldes der Beliebigkeit zu zementieren; und aus den Maßnahmen von unten sowie von oben, flankiert durch die Propaganda der Massenmedien, enstand die jegliche geistige Freiheit negierende, allgegenwärtige political correctness, die die Menschen dazu bringt, sich stets erst danach umzusehen, wer mithört, bevor sie einen konservativen Gedanken äußern.

Den Höhepunkt des kontinentaleuropäischen Studentenaufruhrs* bildeten die Pariser Mai-Unruhen im Mai 1968, nachdem die polizeiliche Räumung der Universität den Anlaß für massenhafte Streiks von Werktätigen bildete. So mochten sich einige Studenten rückblickend der Illusion hingeben, das Proletariat doch einmal erfolgreich agitiert zu haben, doch die Streiks fanden ihr Ende, nachdem vor allem die Mindestlöhne erhöht worden waren. Der Pariser Mai ging vorüber und hinterließ kaum konkret faßbare Ergebnisse. – „Was tun?“**

* In der BRD wurde er angeheizt durch den Tod eines Studenten (1967), der von einem West-Berliner Polizisten – möglicherweise im Auftrag der Ost-Berliner Staatssicherheit – erschossen worden war, s. Nach der Frankfurter Schule 1b: Habermas (zweiter Teil).

** Anspielung auf den gleichnamigen Titel einer Schrift Lenins von 1902.

In der BRD bildeten sich ab Ende 1968 mehrere sog. K-Gruppen, u.a. KPD/ML (1968), KPD/AO (1970), KBW (1973), ferner auch der den Ostblock weniger stark kritisierende und spezifisch gegen die deutsche Nation gerichtete KB (1971).* Die K-Gruppen gaben vor, die Alte Linke zu repräsentieren, doch warum schlossen sie sich dann nicht der DKP** an? Dem real existierenden Sozialismus zog man den „Maoismus“ vor; dahinter steckte bei den K-Gruppen die nicht offen eingeräumte, aber doch faktisch vollzogene Anerkenntnis, daß das Proletariat politisch nicht (mehr) für den Marxismus zu gewinnen war. Zwar sprach man in den K-Gruppen weiterhin vom Proletariat als dem revolutionären Subjekt, doch einerseits hatte Mao*** das fehlende chinesische Proletariat erfolgreich durch die Bauernschaft ersetzt, und andererseits hatte Marcuse ebenfalls eine konkrete Alternative aufgezeigt. Außerdem hatte China mit dem russisch dominierten Ostblock gebrochen (1959 – 1966), wodurch sich ein (maoistischer) Sozialismus ohne Anbindung an den real existierenden propagieren ließ. – Auf ganz andere Art reagierte Habermas‘ Philosophie auf dieselbe Situation eines Marxismus ohne Proletariat: Sie wollte den Marxismus unter „kritische[r] Fortbildung marxistischer Grundannahmen“ bewahren, was auf den Verzicht auf eine grundlegende Umgestaltung der Produktionsverhältnisse und damit auf einen ent-ökonomisierten Marxismus hinauslief.****

* Kommunistische Partei Deutschlands / Marxisten-Leninisten, Kommunistische Partei Deutschlands / Aufbau-Organisation, Kommunistischer Bund Westdeutschland, Kommunistischer Bund; gänzlich jenseits des Maoismus wie des real existierenden Sozialismus lehnte die Marxistische Gruppe (MG), gegründet ebenfalls 1971, auch alle systemimmanenten Verbesserungen im Westen ab, d.h. sie verkörperte am vollkommensten die Ablehnung alles Bestehenden in der Tradition der Frankfurter Schule, s. Die Frankfurter Schule 1d: Geschichtlicher Überblick (vierter Teil).

** Deutsche Kommunistische Partei; sie wurde 1968 an Stelle der 1956 in der BRD verbotenen KPD gegründet.

*** Mao Tse-tung bzw. Mao Zedong; geb. 1893, gest. 1976

**** Theorie des kommunikativen Handelns VIII. Schlußbetrachtung: Von Parsons über Weber zu Marx Vorbemerkung, s. Nach der Frankfurter Schule 1e: Habermas (letzter Teil)

 

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